Hybride
Lost Angel
Kapitel 26 – Hybride
Jemil’s PoV
Ich spürte kaltes Metal an einem meiner Handgelenke, als ich langsam die Augen
öffnete. Nicht weit. Nur einen winzigen Spalt. Verschwommen konnte ich etwas
erkennen. Es wirkte für mich, wie ein kleiner Raum. Aber mir war ohnehin zu
schwindelig um überhaupt Entfernungen einschätzen zu können.
Mit meiner freien Hand – die andere ging mit diesem metallenen Ding am Gelenk
über meinem Kopf – fuhr ich mir über die Augen. Es half nichts. Ich keuchte
leicht. Fühlte fast im selben Moment, wie sich etwas in meinem Schoss bewegte.
Und das gehörte ganz bestimmt nicht zu mir.
Es sah für mich nur aus wie ein großes Fellknäuel. An irgendetwas erinnerte es
mich. Leicht wankte ich mit dem Kopf hin und her. Doch mein Blick wurde nicht
schärfer. Es war nur so, als ob der Druck in meinem Kopf größer werden würde. Es
begann zu schmerzen. Oder wohl eher zu stechen.
Ich streichelte über das Ding in meinem Schoss. Es war ganz weich. Fiepte leicht.
Begann sich zu bewegen.
Doch da spürte ich schon eine Pranke in meinem Gesicht. „Fass unsere Welpen nicht
an!“, brüllte mich jemand an und entriss mir das Fellknäuel.
Mein Kopf wurde durch den Druck herumgerissen. Noch nie hatte mich jemand – bis
auf Pio – ins Gesicht geschlagen. Und erst recht nicht so angebrüllt. Doch ich
gab keinen Laut von mir, der andeuten könnte, dass ich mich aufregte. Nein. Ganz
sicher nicht. Das würde ich in meiner Situation nicht tun.
Ich ließ den Blick nach oben wandern. Ein Junge blickte mich wütend an. Der war
doch kaum älter als 14. Wenn überhaupt.
„Schau mich nicht so an, Blutsauger!“, zischte er. Das, was er mir da abgenommen
hatte und jetzt auf seinem Arm hatte, war wohl ein Wolfswelpe. Er fiepte immer
wieder.
Ich legte den Kopf nur leicht schief. Sah den Jungen immer noch an. Er hatte tief
braune Augen und rabenschwarzes Haar. Etwas schmächtig war er wohl auch.
Vielleicht bekam er nicht genug zu Essen?
„Schau mich nicht so an!“, wiederholte er. Nur wütender. „Tut ... mir ... leid“,
brauchte ich langsam heraus. Ließ den Kopf sinken. Der war ohnehin so schwer.
„Koinu! Lass unseren Gast in Ruhe!“, wurde der Kleine da aber schon von einer
jungen Frau mit schulterlangem, braunen Haar angeschnauzt. Die war mir gar nicht
aufgefallen. „Der hat aber unseren Welpen angefasst!“, maulte der Jüngere da aber
schon. Doch die Frau hörte ihm gar nicht zu. War nur zu mir gekommen.
Sie strich mir über die Wange. „Wow, bei euch heilen Wunden wirklich noch
schneller, als bei uns“, meinte sie würdevoll. Was sie wohl damit meinte? Ich war
mir nicht im Ansatz klar, was sie waren. Zumindest keine Menschen! Werwölfe
vielleicht?
„Venanzia, du willst ihn doch jetzt nicht auch noch loben! Seine Art hat dich
damals verstoßen! Nur weil du ein Mischling bist ...“ „Sei still, Koino!“, fiel
sie ihm da aber schon ins Wort, „Sag noch einmal Mischling, dann werde ich dich
wirklich einmal eine Klippe runterwerfen!“ Der Junge senkte den Kopf. „Tut mir
leid, ich meine Hybride.“
Meine Augen weiteten sich. Ein Hybride? Dieses Mädchen war ein solcher. Das ging
doch gar nicht. Es gab keine. Es durfte keine von ihnen geben. Einfach ganz
unmöglich.
Venanzia wendete sich wieder zu mir. „Ich werde dich erst einmal losmachen, auch
wenn es wohl Sotsuganai nicht passen wird.“ Sie löste die Handschellen und half
mir hoch.
„Wo ist Jesko?“, fragte ich, als sie mir bis zum Tisch geholfen hatte, der in
einer Ecke stand. „Jesko? Du meinst den jungen Werwolf. Der wird bei Sotsuganai
sein“, erwiderte sie nur und gab mir ein Glas mit einer roten Flüssigkeit darin.
Meine Nase konnte mir gut genug sagen, was es war.
„Blut. Das wird dir gut tun.“ Ich hatte das eigentlich schon gewusst. Nickte
trotzdem lächelnd. Trank das ganze Glas mit einem Zug leer. Erst einen Moment
danach dachte ich daran, was wäre, wenn die Person, von der dieses Blut war,
nicht mehr lebte. Aber da ich mich so ziemlich gut fühlte, war wohl nichts.
Venanzia legte den Kopf auf die Tischplatte. „Ich kann mir gar nicht vorstellen,
dass du ein richtiger Vampir bist. ... Irgendwie bist du zu niedlich.“ Solche
Sprüche konnte ich nicht ausstehen. Vor allem nicht von Mädchen. Sie hatten dabei
so einen quietschenden Unterton. Und das schmerzte mir nur in den Ohren.
Ich spürte ein paar Finger auf meiner Wange. „Du bist immer noch etwas warm. Noch
ein bisschen Schlaf wäre besser für dich.“
Langsam sah ich auf. Nickte leicht. Doch erst als ich mich umsah, viel mir auf,
dass es hier eigentlich nur wieder den Boden geben würde. Ein Bett war hier
keines. Obwohl mir schon so etwas, wie eine Luftmatratze reichen würde. Nur um
halbwegs bequem liegen zu können.
Ein kalter Luftzug schlug gegen meinen Rücken, als die Tür aufgerissen wurde.
„Venazia, das Wölfchen will seine Fledermaus wieder. Ist der schon ...“ Der
Werwolf – so sicher war ich mir gar nicht – hatte wohl noch fragen wollen, ob ich
schon wach sein. Aber das sah er jetzt höchst wahrscheinlich selbst.
„Na dann kann ich ihn gleich mit zu unserem neuen Wolf nehmen?“ Irgendwie passte
mir der Kerl nicht. Er redete so herablassend. Das wirkte für mich wirklich
seltsam. Noch nicht oft hatte ich so jemanden über mich reden hören. Auch wenn
ich wusste, dass viele über mich hinter meinem Rücken über mich gelästert hatten.
Mühsam versuchte ich mich aufzuraffen. Aber ich kam gar nicht so weit. Meine Knie
zitterten. Fühlten sich an wie Wackelpudding.
„Bring ihn besser her.“ Ein Lächeln hatte sich auf Venanzias Gesicht gebildet.
Irgendwie war sie ein bisschen, wie mein Jesko. Sie könnten mit Leichtigkeit
Geschwister sein. Aber sie war ein Hybride. Ein Richtiger. Dass mein Werwolf das
nicht war, wusste ich wohl.
„Dann hol ich ihn. Der rastet ohnehin bald aus, wenn er ihn nicht wiederbekommt.
Du hättest ihn gerade erleben sollen, als Sotsuganai ihm gesagt hat, dass er
noch nicht zu ihm darf.“ Er lachte knapp auf. Doch verstummte auch gleich wieder.
„Ich hol ihn schon“, meinte der Werwolf schließlich nur und war gleich wieder
weg.
Ich ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. Seufzte einmal. Mir tat der Kopf
noch immer etwas weh.
„Jemil!“ Ich hatte die Tür nicht gehört. Spürte jetzt aber auch nur noch Jesko.
„Hey“, erwiderte ich nur knapp. „Ich werde dich gleich ins Bett bringen.“ So
schnelle konnte ich gar nicht schauen, hatte er mich schon wieder hochgehoben.
Drückte mich so sehr an sich, als ob er mich schon seit Tage nicht mehr anrühren
hätte dürfen.
„Dieses Arschloch hat dich wieder angerührt. Und wieder konnte ich dich nicht
beschützen.“ Ich schmiegte mich als Antwort nur an ihn. Hörte seinen sanften
Herzschlag. Kuschelte mich für einen Moment enger an Jesko. Er war so verdammt
warm.
„Kann ich ihn mitnehmen?“, hörte ich Jesko noch fragen. Dann war ich schon wieder
in einen eigentlich ruhigen Schlaf versunken.
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du was mit so einem hast. Jemil habe ich
immer nur als dieses kalte Etwas in Erinnerung. Genauso wie seinen verfluchten
Bruder, Pio.“
Bei diesen Worten wurde ich gerade wach. Die Stimme klang noch Venanzia. Doch
wirklich sicher war ich mir nicht. Und ich hätte mir auch gar nicht vorstellen
können, woher ich sie sonst kennen könnte.
„Na ja, der gute Pio hat ihn wohl auch ganz schön fertig gemacht. Kein Wunder,
dass er so kalt geworden ist. Aber das hab ich – wie es aussieht – auch schon
geändert.“
Jesko. Ich musste ihn nicht sehen um zu wissen, dass er strahlte. Wahrscheinlich
von einem Ohr bis zum anderen. Er hatte sicherlich dieses unbeschwerte Grinsen
wieder aufgelegt. Obwohl es manchmal wie aufgesetzt wirkte. So überhaupt nicht
echt. Wie, wenn er gleich in tiefste Depressionen versinken wollte.
Aber das wäre dann doch nicht Jesko? Der, der so lebensfroh war. Der es einfach
nur liebte, wenn man ihn nur ein wenig Beachtung schenkte. Nein. Was dachte ich
denn überhaupt? Ein elendiger Idiot müsste ich sein, wenn ich so etwas glauben
würde.
Mühsam raffte ich mich auf. Das war jetzt kein Zimmer mehr, bemerkte ich, als ich
mich umsah. Eher ein Zelt. Ein ziemlich großes. Doch egal, wie riesig es war, ich
sah weder Jesko noch Venanzia. Vielleicht hatte ich mir das aber auch nur
eingebildet. Mein Kopf schmerzte aber auch.
Langsam sank ich wieder zurück. Rollte mich auf der Seite zusammen. Binnen
Sekunden wurden mir die Lider wieder schwer. Und dennoch konnte ich nicht
schlafen. Hatte immer wieder das Gefühl, als ob ich angestarrt werden würde. Aber
es war doch gar niemand da. Wurde ich denn langsam paranoid?
Wahrscheinlich war ich leicht eingenickt. Denn ganz leicht – fast wie aus weiter
ferne – hörte ich jemanden meinen Namen sagen. Ganz sanft hallte es in meinen
Ohren wider.
„Jemil?“
Ganz leicht öffnete ich die Augen und hob den Kopf. Blickte den besorgt drein
schauenden Jesko an. „Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.“ Sein
Gesichtsausdruck jagte mir einen Schauer über den Rücken. Hatte er sich denn
solche Sorgen gemacht?
Ich wollte mich aufsetzen. Doch da drückte der Werwolf mich schon zurück. „Bleib
liegen“, hauchte er mir ins Ohr, das von seinem warmen Atem gestreift wurde.
Willig machte ich, was er sagte. Irgendwie hatten sich etwas unsere Rollen
geändert. Ich fühlte mich nicht mehr, wie sein Herr. Dafür ließ ich mir viel zu
viel von ihm gefallen. Machte zu viel, was er sagte.
„Wieso hast du mich geweckt?“, fragte ich schließlich. Ein sanftes Lächeln
bildete sich auf seinem Gesicht ab. „Ich wollte nur einmal wieder deine Stimme
hören. ... Na ja, und dich fragen, wie es dir geht.“ Leicht hob ich bei dieser
Antwort die Augenbraue. „Wie sollte es mir denn gehen?“ Sein Gesichtsausdruck
sagte mir nur, dass das nicht die richtige Erwiderung war.
„Pio“, konnte ich von seinen Lippen ablesen. Abrupt drehte ich den Kopf weg. Das
wollte ich gar nicht hören. Und wissen erst recht nicht. Nein. Das musste nicht
sein. Ich wollte gar nicht mehr daran denken, dass er mich wieder mit seinen
Fingern berührt hatte. Dieses grässliche Gefühl seiner Hände auf meiner Haut. Es
trieb mir nur den Würgreiz hoch, jetzt wieder daran erinnert zu werden.
Die Tränen, die sich in meinen Augen gesammelt hatten und schließlich über meine
Wangen liefen, hatte ich gar nicht bemerkt.
Erst als Jesko mir mit dem Daumen übers Gesicht wischte wurde es mir bewusst. Ich
heulte hier vor ihm herum. Ich, der doch ach so böse Vampir. Was wäre wohl, wenn
ich letztens Jesko nicht gehabt hätte? Hätte ich mir wieder eine Rasierklinge
genommen und es versucht. Wäre ich wieder nur bei dem bloßen Gedanken, an mein
Blut, zusammengesunken? Oder hätte ich es gewagt? Den letztens Rest Lebenssaft
aus meinem Körper verbannt? Ich hätte es doch ohnehin nicht gekonnt.
Jesko hatte mich in den Arm genommen. Einmal mehr. Leicht wiegte er mich hin und
her. „Wir dürfen eine Weile bei denen bleiben“, meinte er, „da traut er sich
sicher nicht mehr her. Er hat sogar – zumindest so wie es aussieht – vor
Sotsuganai Angst.“ „Wer ist Sotsuganai?“ fragte ich. Schmiegte mich enger an ihn.
Jedes Pochen seines Herzens, das ich verspürte, ließ mich ruhiger werden.
„Der Werwolf, dem du in diesem Dorf letztens begegnet bist.“ Leicht strich mir
Jesko übers Haar. „Letztens? Das war doch erst gestern oder vorgestern.“ Wieso
redete er denn so, als ob das so lange her wäre? „Du hast fast vier Tage
geschlafen. Dein Bruder hat dich so ziemlich fertig gemacht.“ Ich hörte wohl
nicht recht. Wie konnte ich den überhaupt so lange durchgehend schlafen. Das war
mir bis jetzt noch nie passiert.
„Und du warst immer bei mir?“ Ich wollte nur ein Ja hören. Nur ein kleines Ja.
„Bis dich Sotsuganai anketten ließ.“ Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Die
Handschellen. Für was waren die überhaupt gut?
„Wieso das überhaupt?“ Ich sprach meine Frage einfach aus. Fragen durfte man doch
noch. „Weil er Angst hatte, dass du über seine 'Kinder' herfällst, wenn du so
lange kein Blut mehr trinkst. ... Er hat es immerhin auch gesehen, wie du dieses
Dorf niedergemetzelt hast.“ Ich nickte nur knapp. Vergrub den Kopf in seiner
Halsbeuge. Das Einzige, was ich noch spürte, waren seine Streichelein. Ganz
vorsichtig glitt er nur mit den Fingern über meinen Körper.
Ich keuchte, als Jesko mein Ohrläppchen mit den Lippen berührte. Es schließlich
leicht mit der Zunge liebkoste. Das machte mich ungemein an.
„Bekomm mir jetzt bloß keinen Ständer“, raunte mir Jesko ins Ohr, „wir dürfen
hier nämlich nicht.“ Und trotzdem machte er mit seinen kleinen Spielereien
weiter. Küsste meinen Hals. Mein Schlüsselbein. Überall wo er eigentlich mit den
Lippen hinkam. Dabei hätte mir schon rein das Streicheln gereicht. Doch die
setzte er gerade auch nur noch mit fort.
Erst als mein Keuchen lauter wurde, ließ er wieder von mir ab.
Ich drückte die Beine krampfhaft zusammen. Verdammt. Es ging doch sonst nicht so
einfach.