Schneeweiß und Blutrot...
Kapitel 1
„Es hat geschneit! Es hat geschneit!“
Voller Begeisterung rannte der kleine Junge ans Fenster und bestaunte die weiße
Landschaft, die sich vor seinem Auge ausbreitete. Wie herrlich das glitzerte! So
etwas sah man zuhause in der Stadt nicht. Wenn dort in der Nacht Schnee fiel,
war er am Morgen meist schon grau und zertreten und war nur ein Ärgernis für
die Leute, die versuchten trockenen Fußes zur Arbeit zu kommen. Aber hier…
Bis zum Horizont erstreckte sich eine makellos weiße Ebene, die noch von keinem
Fußabdruck zerstört worden war, voller Verheißungen auf einen fantastischen
Tag.
Der Junge sprang vom Fenster weg und schnappte sich sein Kopfkissen. So
bewaffnet schlich er zur anderen Seite des Zimmers, wo eine zweite Person noch
friedlich in ihrem Bett schlief. Für einen Moment verharrte der Junge und besah
sich die schlafende Gestalt seines Bruders. Doch dann…
„Wach auf Sergej! Das musst du dir ansehen!“
Mit diesem gellenden Schrei schlug er seinem Bruder das Kissen um die Ohren.
Erschrockenen schlug dieser die Augen auf und richtete sich auf, noch total
verpennt und mit einem Ausdruck höchster Verwirrung auf dem Gesicht.
Der kleine Junge brach bei diesem Anblick in schallendes Gelächter aus, musste
sich jedoch im nächsten Moment ducken, um dem Kissen auszuweichen, welches
Sergej nun wutschnaubend nach ihm warf.
„Mann, Kai, ging das nicht ein bisschen sanfter! Du hast mich ja zu Tode
erschreckt!“
Immer noch lachend richtete sich der Junge namens Kai auf und strahlte seinen
Bruder an.
„Sei doch nicht gleich sauer! Komm steh auf, draußen hat es geschneit! Wir
können Rodeln gehen oder Schlittschuhlaufen oder wir suchen im Wald nach
Tierspuren oder wir bauen einen Schneemann oder noch besser ein Iglu oder…“
Voller Begeisterung plapperte der Kleine drauflos, hielt aber inne, als sich
eine Gestalt ins Zimmer schob. Ein Mädchen mit kastanienbraunen Haaren,
smaragdgrünen Augen und einem langen hellblauen Nachthemd mit Teddybärmuster
schlüpfte durch die Tür und musterte die Szene.
„Was macht ihr denn schon so früh für einen Radau?“, fragte sie ihre
Brüder.
Kai war immer noch ganz aufgeregt.
„Hast du das gesehen, Nadia? Draußen liegt überall Schnee! Los, lasst uns
rausgehen, dann können wir…“
Und wieder verfiel er in seine Aufzählung all der Aktivitäten, die man an so
einem herrlichen Wintertag unternehmen konnte. Sergej seufzte schicksalsergeben
und schälte sich aus seiner Decke.
Im Nu hatten die drei Kinder ihre dicken Sachen angezogen und rannten die Treppe
runter.
„Seid leise, sonst weckt ihr noch Mama und Papa!“, versuchte Sergej seine
beiden jüngeren Geschwister zu ermahnen, doch die hörten ihm natürlich
überhaupt nicht zu. Nadia hatte bereits ihre Stiefel angezogen und wartete nun
ungeduldig an der Haustür, während Kai sich noch mit seinen Schnürsenkeln
abmühte. Das Hilfsangebot von Seiten Sergejs lehnte er entschieden ab.
Schließlich war er schon fünf Jahre alt und konnte schon ganz viele Sachen
alleine machen, sogar seine Jacke zuknöpfen! Obwohl er zugeben musste, dass er
mit dem Schleifebinden noch seine Schwierigkeiten hatte. Doch schließlich war
auch das geschafft und mit einem Freudenschrei liefen die drei Geschwister nach
draußen.
Das war ein Morgen! Sie hatten so viel Spaß, wie ihn Stadtkinder an einem
Wintertag auf dem Lande nur haben konnten. Sie tobten umher und bewarfen sich
mit Schneebällen und ihr fröhliches Lachen schallte über die einsame
Landschaft. Sie waren schon ganz verschwitzt, als eine Frau im Rahmen der
Haustür erschien. Sie war schlank, ihr hüftlanges Haar - vorne Silbergrau und
am Hinterkopf dunkelblau – schimmerte im Licht und ihre Augen besaßen ein
funkelndes Rubinrot. Mit eben diesen Augen verfolgte sie die tobenden Kinder und
ein Lächeln erschien auf ihrem schönen Gesicht. Der Name dieser Frau war Tanja
Hiwatari.
Die drei waren so vertieft in ihr Spiel, dass sie die Anwesenheit der Frau erst
bemerkten, als diese nach ihnen rief.
„Ihr seid ja schon früh auf den Beinen! Kommt jetzt rein, das Frühstück ist
fertig!“
Das ließ sich keiner zweimal sagen und begeistert stürmten die Geschwister
ihrer Mutter entgegen. Lachend schloss sie jedes ihrer Kinder in die Arme und
trieb sie dann in die Küche, wo ihr Vater bereits damit beschäftigt war, Brote
für alle zu schmieren.
Auch er wurde stürmisch begrüßt und dann ließ sich die gesamte Familie am
Tisch nieder um gemütlich zu frühstücken. Abwechselnd und sich immer wieder
gegenseitig unterbrechend erzählten die Kinder von ihren Spielen im Schnee.
„…unf fann hafen fir eifen Feeballfacht…“
„Sergej Hiwatari, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht mit vollem
Mund reden sollst? Du solltest Kai und Nadia ein Vorbild sein“
Mit strengem Blick taxierte der Vater seinen Ältesten und dieser schluckte
betreten seinen Bissen runter.
„Warum sollte er mir ein Vorbild sein? Er ist doch nur drei Jahre älter als
ich…“, murrte Kai, doch seine Schwester fiel ihm ins Wort.
„Bei dir macht der Altersunterschied ja noch was aus, aber ICH bin nur ein
Jahr jünger als Sergej!“
„Ob ein Jahr oder drei, ihr seid auf jeden Fall jünger als ich!“, feixte
Sergej nun wieder, erntete dafür jedoch böse Blicke von seinen Geschwistern.
Ihre Mutter lachte. Sie kannte diese gelegentliche Kabbelei ihrer Kinder und
amüsierte sich immer wieder aufs Neue darüber. Vom Charakter her waren sich
die Geschwister unglaublich ähnlich. Was das Aussehen allerdings betraf…
Verstohlen musterte sie die drei. Sergej sah mit seinen acht Jahren schon jetzt
aus wie sein Vater: kurzes kastanienbraunes Haar, eine kräftige Nase und
smaragdgrüne Augen. Auch Nadia sah ihm sehr ähnlich, obwohl ihre Gesichtszüge
etwas weicher waren.
Kai dagegen hatte ganz das Aussehen seiner Mutter geerbt: rubinrote Augen,
scharf geschnittene Züge und natürlich die zotteligen dunkelgrauen Haare, die
am Hinterkopf in ein dunkles Blau übergingen. Und das war nicht das Einzige,
worin er nach seiner Mutter schlug. Er konnte kaum stehen und gehen, als er
begonnen hatte, mit seinen Patschehändchen nach ihrem Beyblade zu greifen. Sie
bewahrte ihn in einem Schrank im Wohnzimmer auf, in Erinnerung an ihre Zeit als
erfolgreiche Bladerin. Natürlich wäre sie nach den heutigen Maßstäben kaum
mehr konkurrenzfähig, aber in ihrer Jugend hatten sie und ihr Bitbeast so
manchen Gegner aus der Arena befördert. Der Sport hatte sie fasziniert und
ihrem jüngsten Sohn ging es offenbar nicht anders. Immer wenn er glaubte, dass
sie es nicht merkte, schlich Kai zum Wohnzimmerschrank und holte den Blade
hervor, fuhr mit dem Finger über das blau schimmernde Metall und versank in der
Betrachtung des prächtigen Phönix, der in der Mitte prangte. Er war ganz
begeistert gewesen, als er zum fünften Geburtstag einen eigenen Blade geschenkt
bekommen hatte und seine Mutter anfing, mit ihm zu üben. Auch Sergej und Nadia
bladeten, aber sie waren bei weitem nicht mit soviel Begeisterung dabei wie er
und sie besaßen auch nicht sein Talent. So sehr es sie auch wurmte, aber gegen
ihren kleinen Bruder hatte keiner von ihnen eine Chance.
Aus diesem Grund stieß Kais Vorschlag, man könnte doch aus dem Schnee eine
Beybladearena formen, nun auch auf wenig Gegenliebe.
„Das ist doch öde und außerdem ist der Schnee dafür viel zu nass! Aber wie
wär’s, wenn wir Schlittschuhlaufen gehen?“
Und genau das taten sie auch. Nicht weit von ihrem Haus war ein See, der schon
fest zugefroren war, obwohl der Winter doch gerade erst hereingebrochen war. Auf
dem Land war der russische Winter wirklich vollkommen anders als in Moskau.
Ihr Vater hatte sich bereits für seine Idee beglückwünscht, dieses Ferienhaus
für ein paar Tage zu mieten. Er war schon immer der Meinung gewesen, dass
Kinder nicht ständig von Hochhäusern und überfüllten Straßen umgeben sein
sollten, und Kai, Sergej und Nadia hatten ja sichtlich ihren Spaß. Besonders
der Schneefall in der letzten Nacht war schön gewesen, denn so konnten die
Kinder noch einmal nach Herzenslust an der frischen Luft toben, bevor die
Familie am nächsten Tag wieder nach Hause fahren musste.
Daniel Hiwatari lächelte, als er die Hand seiner Frau ergriff und mit ihr
gemütlich zum See hinunterschlenderte, auf dem sich seine drei Kinder bereits
ein spannendes Wettrennen lieferten. Kai mit seinen kurzen Beinen hatte
natürlich überhaupt keine Chance und segelte ständig auf die Nase, was bei
Nadia lautes Gelächter hervorrief. Dabei vergaß sie jedoch zu bremsen und
stieß gegen Sergej, der ins Taumeln geriet und versuchte sein Gleichgewicht zu
halten, indem er sich an seine Schwester klammerte. Das Ergebnis war, dass die
beiden als ein buntes Knäuel aus Armen und Beinen auf dem Eis lagen, was
wiederum Kai zum Lachen brachte.
Sie hatten viel Spaß an diesem Tag. Zusammen mit ihren Eltern bauten sie einen
riesigen Schneemann und unternahmen einen Winterspaziergang, bei dem sie sogar
auf eine Gruppe Rehe stießen, die beim Anblick der Menschen mit großen Sätzen
davon sprangen. Am Nachmittag suchten sich die Kinder einen großen Hügel zum
Rodeln und erst als es so dunkel wurde, dass sie nicht mal mehr die eigene
Nasenspitze erkennen konnten, kehrten sie zum Haus zurück.
Dort wurden sie schon vom verführerischen Duft eines leckeren Abendessens
willkommen geheißen und im Nu hatten sie sich aus ihren Jacken geschält und
saßen wieder um den Tisch herum. Sie waren so hungrig, dass jeder von ihnen es
schaffte, sich dreimal nachzulegen, bis sie keinen Bissen mehr runter bekamen.
Ihr Vater lachte.
„Man könnte meinen, ihr hättet seit Tagen nichts gegessen. Seid ihr sicher,
dass…“
Er brach mitten im Satz ab. Auch die anderen hatten es gehört. Ein Klopfen. Sie
lauschten. Da war es schon wieder! Irgendjemand stand draußen an der Haustür
und klopfte.
Verwundert erhob sich Daniel. Wer konnte das so spät noch sein? Die nächsten
Nachbarn wohnten etwa zwei Kilometer entfernt. War das vielleicht der
Eigentümer des Hauses? Aber dem hatte er doch gesagt, er würde den Schlüssel
morgen vorbeibringen.
„Vielleicht irgendwelche Leute, die sich verfahren haben und nach dem Weg
fragen wollen“, meinte er zu seiner Frau und verließ die Küche. Kai sah ihm
neugierig hinterher und beschloss dann, ihm nachzulaufen. Er glitt von seinem
Stuhl und folgte seinem Vater in den Flur, wo dieser gerade die Haustür
öffnete.
„Ja, bitte? Was wünschen Sie?“
Kai hörte die Stimme seines Vaters, doch wer immer dort vor der Tür stand,
antwortete nicht. Stattdessen stieß Daniel plötzlich einen lauten Schrei aus.
Kai erfuhr nie, ob es Worte gewesen waren, die sein Vater rief, denn noch bevor
er irgendetwas verstehen konnte, zerriss ein ohrenbetäubender Knall die Luft.
Mit schreckensweiten Augen beobachtete Kai, wie sein Vater zwei Schritte
rückwärts in den Flur taumelte und dann zu Boden fiel, mit dem Gesicht nach
oben. Nur dass dort kein Gesicht mehr war…
Unfähig sich irgendwie zu rühren starrte Kai auf die blutige Masse, wo bis
eben noch die geliebten Züge seines Vaters gewesen waren.
Die Zeit stand still. Es gab keine Geräusche mehr auf der Welt. Nichts rührte
sich mehr. Er selbst war gelähmt und dazu verdammt, für immer die zerfetzte
Leiche seines Vaters zu betrachten und das Blut, das aus seinem Kopf sickerte,
über den Teppich floss und alles durchtränkte: das braune Haar, dem von Kai so
unähnlich; das grüne Hemd, von dem Mama immer androhte es endlich wegzuwerfen;
die abgenutzte Armbanduhr, die er trug, solange Kai denken konnte; die
gebräunte Haut, die sich über seine starken Arme spannte; die Jeans, über die
Nadia einmal ihren Kakao geschüttet hatte… Alles wurde von einem Moment zum
anderen tiefrot. Und auch der Boden wurde rot, ebenso wie die Wände und die
Luft. Es schien keine andere Farbe mehr zu geben als rot. Blutrot…
Der Klang schwerer Schritte riss Kai in die Wirklichkeit zurück. Er wusste
nicht zu sagen, ob Sekunden vergangen waren oder Jahrzehnte. Angesichts der
beiden dunklen, hoch aufragenden Gestalten, die nun den Flur betraten, schien
ihm diese Frage nebensächlich. Sie schritten langsam auf ihn zu: zwei Menschen
– ob Männer oder Frauen wusste er nicht zu sagen – mit langen schwarzen
Mänteln, die Gesichter hinter dunklen Tüchern und Kapuzen verborgen – und
beide mit einer Pistole in der Hand. Vollkommen unfähig sich zu regen starrte
Kai auf die Waffen. Er wollte schreien, wollte weglaufen, doch er konnte sich
nicht bewegen, konnte kein Glied rühren. Er würde hier stehen bleiben müssen,
bis auch sie auf ihn anlegten, bis sie ihn ebenfalls töteten.
Ein Klirren wie von zerbrechendem Glas und ein durchdringender, panischer Schrei
drangen aus der Küche. Der Schrei einer Frau…
Mama!
Er musste zu ihr! Zu ihr, Nadia und Sergej! Sie würde ihn beschützen, sie
würde machen, dass die Gestalten weggingen! Alles würde wieder gut, wenn er es
nur zu ihr in die Küche schaffte! Papa würde nicht tot sein, sie würden alle
wieder fröhlich beim Essen sitzen! Er musste nur zu ihr!
Er befahl seinen Beinen sich zu bewegen und war froh, als sie gehorchten. Doch
auch wenn er die Lähmung überwunden hatte, schien alles wie in Zeitlupe
abzulaufen. Er hatte das Gefühl, als vergingen Stunden ehe er es endlich
schaffte, sich umzudrehen und die ersten Schritte den Flur entlang lief. Er war
sich sicher, dass die Gestalten hinter ihm jeden Moment ihre Pistolen auf ihn
richten würden. So langsam wie er sich bewegte, konnten sie ihn doch gar nicht
verfehlen. Mit jedem zähen Schritt, den er machte, kamen sie ihm immer näher.
Er hörte sie, spürte ihre Blicke in seinem Rücken, wartete nur darauf,
plötzlich eine Kugel im Nacken zu fühlen…
Und dann hörte er das Geräusch, das er so sehr gefürchtet hatte: den Knall
eines weiteren Schusses. Er schloss die Augen, wartete auf den Schmerz, fragte
sich einen Moment, ob er überhaupt noch etwas fühlen würde, wenn sie ihm in
den Kopf schossen… Doch er spürte nichts. Hatten sie ihn verfehlt?
Plötzlich war der Lauf der Zeit wieder normal. Kai lief so schnell, wie er noch
nie im Leben gelaufen war. Es dauerte keine zwei Sekunden bis er das Ende des
Flurs erreicht hatte. Er lief durch die Tür, stolperte durch die Küche und war
schon auf halbem Weg zu seiner Mutter und seinen Geschwistern, ehe er überhaupt
registrierte, was er dort vor sich sah. Auf dem Boden lagen Glassplitter und
dort, wo noch vor wenigen Minuten das Küchenfenster gewesen war, stand eine
weitere der schwarzen Gestalten, ebenfalls mit erhobener Pistole. Sie zielte auf
seine Mutter, die mitten in der Küche stand und versuchte ihre beiden Kinder
vor dem Eindringling abzuschirmen. Nadia und Sergej klammerten sich an ihre
Beine, beide zitternd vor Angst. Kai wollte zu ihnen, wollte wie sie Schutz bei
seiner Mutter suchen. Doch noch bevor er sie erreichen konnte, sackte sie in
sich zusammen. Ihre Kinder ließen sie los und sprangen mit entsetzten Mienen
zurück. Nadia schrie. Kai blickte verständnislos auf seine Mutter am Boden,
doch dann sah er die Blutlache, die sich um sie herum ausbreitete… und
begriff.
Der Schuss, den er im Flur gehört hatte… Der Knall war nicht hinter seinem
Rücken erklungen, sondern vor ihm. Aus der Küche. Aus der Waffe der
gesichtslosen Gestalt vor ihm. Als hätte sie seine Gedanken erahnt, wandte sie
ihren Kopf nun ihm zu, und Kai spürte – auch wenn er sie nicht sehen konnte
– wie ihre Augen seinen Körper durchbohrten. Erneut hob sie die Pistole,
ließ sie einen Moment ziellos in der Luft verharren… und richtete sie dann
auf Kai. Diesmal irrte er sich nicht. Er würde sterben. Jeden Moment. Genau wie
seine Mama und sein Papa. Er sah, wie sich der Finger um den Abzug krümmte.
Wartete…
„NEIN! Du hast es doch gehört! Die Kinder sollen unversehrt bleiben!“
Eine zornige Stimme erklang hinter ihm. Die beiden Vermummten aus dem Flur waren
hinzugekommen und fixierten ihren Kollegen. Von Kai oder seinen Geschwistern
nahmen sie keinerlei Notiz.
Die angesprochene Gestalt zuckte nur mit den Schultern und senkte die Waffe.
„Na gut, aber ich versteh nicht, warum wir die Bälger laufen lassen
sollen.“
„Ist mir schon klar, dass du nichts verstehst, aber das ist auch nicht dein
Job, oder? Apropos,“ und der Sprecher machte eine flüchtige Handbewegung zu
der am Boden liegenden Frau, „du hast hier alles erledigt?“
Er erhielt nur ein Nicken als Antwort.
„Gut, dann lasst uns von hier verschwinden!“
Und ohne noch einen Blick zurück liefen sie in den Flur und dann in die Nacht
hinaus. Von einem Moment auf den anderen waren sie fort.
Nadia begann zu weinen und klammerte sich an Sergej, der sie überhaupt nicht
wahrzunehmen schien.
Kai wollte zu ihnen gehen, wollte sich Trost von ihnen holen. Doch als er sich
in Bewegung setzte, trugen ihn seine Beine ganz von selbst in die Mitte der
Küche, zu seiner Mutter. Sie lag auf dem Bauch, den Kopf von ihm weggedreht. Er
würde um sie herumgehen müssen, um ihr Gesicht zu sehen. Doch wollte er das?
Würde es genau so aussehen wie das seines Vaters? Er war sich sicher, dass er
es nicht wissen wollte, doch erneut entschieden sich seine Beine von selbst.
Schritt für Schritt trugen sie ihn um den leblosen Körper herum. Er zitterte,
eine unwirkliche Kälte war in seine Glieder gedrungen.
Als er endlich ihr Gesicht sah, erschrak er. Doch nicht aus dem Grund, den er
erwartet hatte. Nein, er erschrak, weil die Augen seiner Mutter geöffnet waren
und sich ihre Lippen bewegten! Er stieß einen überraschten Schrei aus und ging
neben ihr in die Hocke. Am liebsten hätte er sie umgedreht, aber er wusste,
dass ihm dazu die Kraft fehlte. So kauerte er sich ganz dicht neben sie, das Ohr
ganz dicht an ihrem Mund, um auch ja jedes Wort zu hören. Doch er hörte
nichts. Er erschrak. War sie etwa doch…
„K-kai… seid… seid stark und… passt aufein…aufeinander auf…“
Er starrte sie an. Ein ganz zartes Lächeln umspielte ihre Lippen. Für einen
winzigen Moment sah sie ihm direkt in die Augen. Rubinrot traf auf rubinrot. Und
dann senkten sich ihre Lider…
„NEIN!“ Mit einem entsetzten Schrei fuhr der Junge namens Kai Hiwatari aus
dem Schlaf.
So, das war nun das erste Kapitel zu "Wounded Soul". Ich entschuldige mich
für alles, was ich dem lieben, kleinen Kai hier antue. T.T Ich wünschte, ich
könnte behaupten, dass nun keine weiteren Schicksalschläge mehr auf ihn
zukommen, aber das wäre gelogen... Der Gute muss bei mir ganz schön was
durchmachen, ehe er sein Happy end kriegt. ^^'
Ich danke allen, die dieses Kapitel gelesen haben und hoffe, es hat euch
gefallen. Das nächste folgt auch bald!