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Bonus: Erinnerungen eines Engels

Der Schnee lag schon seit mehreren Tagen, sodass er auf den Wegen entweder längst weggeräumt oder festgetreten war. Das frisch ausgehobene Loch stach zwischen den anderen Gräbern hervor, auf denen sich der Pulverschnee noch vollkommen unberührt wie eine weiße Bettdecke ausbreitete. Seit wenigen Minuten schneite es wieder große Schneeflocken. Einige Angehörige, die still um das noch leere Grab herumstanden, spannten wortlos ihre schwarzen Schirme auf und rückten näher zusammen. Niemand wollte jetzt in der Kälte alleine sein.

Oliver Lynn, der etwas abseits der Gruppe stand, zog sich seinen Schal fester um den Hals und half seiner Tochter dabei, die er an ihrer kleinen Hand hielt, die Kapuze ihrer Jacke aufzusetzen. Das kleine Mädchen schaute wie gebannt zu dem Loch hinüber und schwieg. Es hatte ihm viel abverlangt, ihr beizubringen, dass ihre Mutter nicht mehr von der Arbeit zurückkommen und nun friedlich und für immer unter der Erde schlafen würde…

Oliver kämpfte mit den Tränen. Das einzige, was ihm von Sonoko geblieben war, waren die wenigen Zeilen auf der Rückseite eines Einkaufzettels, den er am Vortag geschrieben hatte. Dort stand drauf, dass sie heute, an ihrem Todestag, länger im Büro bleiben müsse und dass er nicht auf sie mit dem Essen warten solle. Ich liebe dich, hatte darunter gestanden.

Von irgendwoher hörte man auf einmal ein leises Glockenspiel und alle Anwesenden drehten sich von dem ausgehobenen Loch weg in Richtung der Musik. Ein kleiner Trauerzug kam den Weg entlang auf die wartenden Gäste zu, vorneweg der Priester, dahinter gingen mit gesenkten Köpfen Sonokos Verwandte, gefolgt von einer kleinen Gruppe Mönche, die mit Glocken den Zug leise und andächtig begleiteten. Die Gäste bildeten eine Gasse, ließen sie passieren und senkten ebenfalls das Haupt, wenn der Zug an ihnen vorbeischritt. Sonokos Mutter, Mivako Hidashi, trug als Oberhaupt der ehrwürdigen Familie Sonokos Urne, welche in einem goldenen Seidentuch eingewickelt war. Neben ihr ging ihr zweiter Mann, Sonokos Stiefvater, und hielt ihr den mächtigen Schirm, der sie und die Urne vor den Schneeflocken schütze. Mivakos eisiger Blick traf Oliver, als sie an ihm vorbeiging und er wich diesem schüchtern aus. Seine Tochter würdigte die Frau mit keinem Blick und das traf ihn noch schlimmer. Um die Nerven nicht ganz zu verlieren, umfasste er die Hand der Kleinen noch stärker. Diese schaute ihn nur mit großen Augen an.

Die Rede des Priesters zog sich hin wie flüssiger Teer und die Beisetzung selbst dauerte eine halbe Ewigkeit. Es schneite noch stärker, als alle Gäste der Beerdigung einzeln an das noch offene Grab traten und sich mit einer Rose zum letzten Mal von der Toten verabschiedeten, so, wie es sich die Verstorbene, die von der westlichen Welt immer fasziniert gewesen war, einst gewünscht hatte. Als letztes ruhten alle Blicke auf Sonokos Tochter, der kleinen Finja, die bei ihrem Vater Oliver stand und ebenfalls eine dunkelrote Rose in den Händen hielt. Aufmunternd schob sie ihr Vater sanft auf den Weg und mit vorsichtigen Schritten ging sie auf die Stelle zu, wo fast dreißig Rosen aufgehäuft lagen. Ihr Vater blieb dort stehen, wo er war.

„Das arme Kind…“, raunte jemand und überall hörte das Mädchen ähnliches Getuschel. Der Blick ihrer Großmutter, die sie nur selten bisher gesehen hatte, war wie immer hart und unfreundlich, doch sie ließ das Kind gewähren und schaute schweigend dabei zu, wie dieser Bastard, der ihrer geliebten Tochter so ähnlich sah, die Rose zu den anderen fallen ließ und schleunigst zu seinem Erzeuger zurücklief.
 

Tage später war die traurige Stimmung zurückgedrängt worden und hatte Hektik platz gemacht- zumindest in Olivers Haus…

Er stand schon Minuten lang vor dem Spiegel und zupfte an seiner Krawatte herum, die einfach nicht richtig sitzen wollte. Irgendwann schaffte er es, dass sie wenigstens annähernd gut aussah und machte sich auf die Suche nach seinen Schuhen.

„Fin- Schatz, wie weit bist du?“, rief er, während er die neuen Schnürsenkel durch die Ösen seiner Schuhe fädelte. Tapsige Schritte waren zu hören und nur Sekunden später schaute die Achtjährige ins Zimmer- völlig zerzaust und in den dreckigen Sachen des Vortages. Oliver wusste nicht, ob er wütend sein oder heulen sollte- er entschied sich für ein gequältes Lächeln.

„Wie siehst du denn aus? Du solltest dich doch umziehen…“ Trotzig verschränkte Fin die Arme und schüttelte ihre ungezähmte Mähne.

„Ich will da nicht hin!“, maulte sie.

Oliver seufzte. „Glaub mir, ich will den alten Hausdrachen auch nicht besuchen, aber es muss sein. Und es ist wichtig, dass sie nicht denkt, dass du ein Wildfang bist, der sich gerne im Dreck wälzt.“, sagte er und strich ihr über die verdreckte Nase. Finja rümpfte diese nur mürrisch. „Und warum ist das so wichtig?“

Oliver legte ihr die Hände auf die Schultern und schaute sie ernst an. „Ich will, dass sie dich mag, Finja. Sie ist deine Großmutter und sehr… mächtig, verstehst du?“ Fins große Augen zeigten natürlich kein Verständnis- wie auch, sie war einfach noch zu jung. Er lächelte aufmunternd.

„Hör zu, ich möchte einfach nur, das sie dich nicht wie mich hasst, okay? Sie hat nämlich keinen Grund dazu- noch nicht!“, sagte er mit erhobenem Zeigefinger. „Also geh dich jetzt im Badezimmer waschen und zieh dir anschließend das Kleid an, das ich dir gekauft habe, ja?“

Fin verdrehte die Augen. „Na gut…“

„Versprichst du mir, dass du dich benimmst?“

Fin schnaufte. „Ja, ich verspreche dir, dass ich mich benehme und ganz lieb zu Oma- … zu obaa- sama sein werde.“, verbesserte sie sich gedehnt, als ihr Vater mahnend die Brauen hob.

„Danke.“, sagte Oliver erleichtert und gab der Kleinen einen Kuss auf die Stirn.
 

Das Anwesen der Hidashi- Familie war gigantisch. Das ganze Grundstück war von einer hohen Mauer umgeben und es gab nur einen einzigen Eingang- ein schmiedeeisernes Tor, das kunstvoll verziert war. Finja starrte mit offenem Mund und je näher sie dem Haupthaus kamen, desto größer wurden ihre glänzenden Augen. „Wie in Hollywood, stimmt’ s Papa?“, hauchte sie irgendwann und schaute zu ihrem Vater hoch.

Oliver lächelte. „Ja, so ähnlich- allerdings leben in Hollywood nur junge hübsche Leute in solchen Häusern.“ Finja kicherte und ließ sich von ihrem Vater weiter über den Gehweg ziehen.
 

Oliver atmete noch einmal tief durch, ehe er die Klingel drückte und nervös von einem Bein aufs andere trat. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, die er vor der Tür zubrachte, bis sich diese endlich öffnete und ein mürrisch blickender, alter Mann den Kopf rausstreckte.

„Sie sind zu spät.“, begrüßte der Butler die Gäste und zog die Schiebetür ganz auf. Verunsichert schaute Oliver auf seine Armbanduhr und runzelte die Stirn. „I- ich dachte, wir sollten so gegen 14 Uhr kommen… es ist fünf Minuten nach und-“

„Genau- und wenn sie noch länger in der Eingangshalle stehen bleiben, werden weitere fünf Minuten ins Land ziehen. Und Hidashi- sama hasst Unpünktlichkeit.“ Und damit drehte sich der Butler um und ging. Oliver fühlte sich erdolcht; wie immer, wenn Mivakos Name mit dem Verb hassen in einem Satz verwendet wurde. Schnell half er Finja in die viel zu großen Hauspantoffeln und eilte dem Butler hinterher.

Der Speisesaal war prunkvoll angerichtet worden und alle saßen schon an der reichgedeckten Tafel, als Vater und Tochter eintraten. Mivako, die am Kopf des Tisches saß, entdeckte die beiden zuerst und hob verärgert eine ihrer feinen grauen Augenbrauen.

„Dann können wir ja endlich mit dem Essen beginnen, jetzt, wo auch unsere letzten… Gäste eingetroffen sind.“, sagte sie spitz und langte nach ihren Essstäbchen. Der Rest der Gesellschaft drehte sich kurz um und betrachtete Oliver und Fin, die sich sofort näher an seine Seite stellte. Oliver versuchte das aufsteigende Schamgefühl zu unterdrücken, verbeugte sich rasch, wie es sich hier gehörte und ging zu den einzigen freien Plätzen. Nun begannen auch alle anderen zu essen und Schweigen breitete sich aus.

Finja saß einige Sekunden lang etwas unbeholfen vor ihrem Teller, ehe sie unauffällig Oliver am Ärmel zupfte. Ihr Vater erkannte sofort das Problem und rief leise nach dem Butler, der die ganze Zeit um den Esstisch herumschlich. Etwas verwundert über Olivers Bitte, brachte er neues Essbesteck und gab es dem Mädchen. Gerade steckte sich Fin einen großen Löffel Reis in den Mund, als Mivako am anderen Tischende geräuschvoll ihre Stäbchen niederlegte und alle prompt aufhörten zu essen. Böses ahnend, schaute auch Oliver vorsichtig von seinem Teller auf und blickte der Hausherrin in die Augen. Sie musste sich sichtlich beherrschen.

„Was macht dieses Kind da?“ Fin, den Löffel noch immer im Mund, guckte zuerst ihre Großmuter und dann ihren Vater fragend an. „Hat sie etwa nicht gelernt, mit Stäbchen zu essen?!“

Oliver zuckte unter der barschen Stimme zusammen. „N- nun ja… also- sie kann es nicht richtig und deshalb-“

„Was soll das heißen? Sie kann so etwas banales, wie Essstäbchen halten, nicht? Wenn sie selbst das nicht kann, bezweifle ich, das sie überhaupt etwas zustande bringt!“

Oliver murmelte eine Entschuldigung und senkte gedemütigt den Kopf. In Fins Augen blitzte es allerdings wütend.

„Was ist so schlimm daran, nicht mit Stäbchen essen zu können? Mit normalem Besteck geht es viel einfacher und warum sollte ich so umständlich essen, wenn Papa das zu Hause auch nicht tut?“ Oliver starrte seine Tochter erschrocken an und ließ sein Besteck klappernd auf den Teller fallen. Alles war still um ihn herum, er hörte nur, wie ihn sein Herz bis zum Hals schlug. Mivakos knochige Finger zuckten gefährlich und ballten sich langsam zu Fäusten.

„Na wenigstens beherrscht sie unsere Sprache- was allerdings bestimmt nicht dein Verdienst ist…“, sagte sie gepresst zu Oliver und aß betont beherrscht weiter.

Während der restlichen Gänge wagte es niemand mehr, etwas zu sagen und so zog sich das Mahl in die Länge. Anschließend setzten sich einige der Gäste, darunter Oliver und - zu seiner eigenen Verwunderung- auch Mivako zusammen und tranken Tee. Überall fanden kleinere Gespräche statt, in denen sich Mivako nicht allzu selten einmischte.

„Hast du nun eigentlich einen vernünftigen Beruf, Oliver?“, meinte sie irgendwann und wieder verstummten alle anderen Gespräche sofort. Oliver schluckte. Wie er diese Familie doch hasste… Er setzte ein gequältes Lächeln auf.

„Nun… ich bin immer noch Musiker, Mivako- sama.“, antwortete er höflich und nippte rasch an seinem Tee, während Mivako ihn mit ihren Blicken durchbohrte.

„Ach wirklich? Mich wundert es tatsächlich, dass du dich damit noch über Wasser halten kannst- und natürlich auch Finja…“ Mit den Augen suchte sie seine Tochter. „Geht sie zur Schule?“

Fin wollte schon wieder pampig antworten, doch Oliver kam ihr noch zuvor. „Ja. Und sie ist sogar sehr gut. Magst du nicht mal von deinem letzten Zeugnis erzählen, Fin?“ Fin schüttelte nur mit dem Kopf und presste die Lippen aufeinander. Ihre Großmutter schwenkte desinteressiert ihre Tasse.

„Du solltest sie bei ihrem ganzen Namen nennen. Sonst gewöhnt sie sich noch hinterher an diesen Jungennamen…“

Fin schob die Unterlippe vor. „Ich habe nichts gegen meinen Spitznamen, ich finde ihn schön!“

„Finja!“, versuchte Oliver sie zischend zum Schweigen zu bringen und blickte um Verzeihung bittend zu Mivako auf.

Diese seufzte nur. „Ich sehe schon, dieses Kind hat bis jetzt keinerlei Art von Erziehung genossen.“ Dann streckte sie Fin ihre Tasse entgegen. „Hier. Mach dich nützlich und bring mir neuen Tee.“

Fin funkelte zuerst sie und dann ihren Vater an, der sie nur mit flehendem Blick anschaute. Bitte, tu, was sie sagt

Zum Glück wusste Fin, wann man den Bogen überspannte. Kurzerhand griff das Mädchen zu Olivers Erleichterung nach der Tasse und ging in Richtung Küche. Wenige Minuten später kam sie wieder zurück, die dampfende Tasse in beiden Händen haltend. Und dann passierte das, was nicht passieren sollte:

Fin wusste genau, wann sie den Bogen überspannte, jedoch konnte sie es unmöglich bei Mivako verhindern, diese Grenze irgendwann zu überschreiten. Mehr auf die heiße Tasse achtend, als auf den Boden, stolperte sie über ihre eigenen Füße. Die Tasse zerschellte und Fin stürzte mit den Händen voran in die Scherben und schnitt sich die Handflächen auf. Sofort sprang Oliver auf und eilte zu seiner Tochter, die nun schluchzend ihre blutenden Hände betrachtete. „Fin, alles in-“

Was kannst du eigentlich?!“, donnerte Mivakos Stimme hinter Oliver. Schnell stapfte sie an Oliver vorbei, packte Fin am Handgelenk und zog sie in die Höhe.

„Mivako, bitte, es war nicht…“

„Du hältst dich daraus! Von nun an werde ich dafür sorgen, dass dieses Kind meiner Familie nicht all zu viel schaden wird, denn du hast versagt!“, keifte Mivako, dass Oliver sie geschockt anstarrte. Grob schüttelte sie Fin am Arm und zeigte auf die Scherben. „Sieh, was du angerichtet hast! Du dumme Göre!“ Fin kullerten Tränen von ihren Wangen.

„Es tut mir Leid, obaa- sa-“

Oliver zuckte unter der schallenden Ohrfeige heftig zusammen, die Fin nun zu spüren bekam.

„Wage es nicht noch einmal, mich als deine Großmutter zu bezeichnen!“, schrie Mivako das Mädchen an, das nun stumm vor sich hin weinte. Hilfe suchend schaute Finja zu Oliver auf, doch dieser konnte das alles nicht mehr ertragen und drehte sich, selber mit den Tränen kämpfend, von seiner Tochter weg.
 

Während der Heimfahrt saß Fin die ganze Zeit über still auf dem Beifahrersitz und schaute auf ihre verbundenen Hände. Die Tränen, die in ihren Augenwinkeln klebten, waren getrocknet und hatten einen roten Schimmer auf der Haut hinterlassen. Sooft es Oliver möglich war, warf er ihr einen besorgten Blick zu, wagte es jedoch nicht, sie anzusprechen. Ihm war klar, dass er einen Fehler gemacht und sie im Stich gelassen hatte, doch er fand nicht den Mut, sich zu erklären.

Nach einer ganzen Ewigkeit parkte er sein Auto schließlich in der Einfahrt ihres Hauses- oder besser: das seiner Eltern, welche es beinahe ganz finanziert hatten. Er schaltete den Motor aus und wartete. Fin starrte immer noch zu Boden, die Hände im Schoß gefaltet und schwieg. Es kam ihm vor, als habe Mivako die Kleine durch ihr strenges Auftreten in eine andere Welt verbannt, wo ihr Geist nun ziellos umherirrte. Oliver seufzte. Er musste nun mit ihr reden.

„Tut es noch sehr weh?“, fragte er vorsichtig und streckte zögernd die Hand in ihre Richtung aus. Noch ehe seine Finger ihre Schulter berühren konnten, wich sie ihm aus und ihr Blick verhärtete sich. Olivers Hand ruhte noch einen Moment lang in der Luft, unsicher was er nun tun sollte und zog sie doch schließlich zurück.

„Warum hast du nichts getan?“ Fins Stimme war brüchig und dünn und diesen Tonfall hatte Oliver zuvor noch nie gehört. Anklagend. Enttäuscht…

Oliver schluckte hart. „Was hätte ich denn tun sollen?“

Fins Kopf schnellte in die Höhe und sie starrte ihren Vater beinahe hasserfüllt in die Augen. „Du hättest etwas sagen können! Warum lässt du dich von Oma so herumschubsen?“ Sie war wieder den Tränen nahe. Oliver schloss kurz die Augen um sich zu sammeln und nach den richtigen Worten zu suchen, dann sagte er fast vorsichtig: „Fin, das ist nicht so einfach… Weißt du, deine Großmutter will, dass man sie respektiert und-“

„Du sagst mir immer, dass man nur Respekt von anderen erwarten darf, wenn man selbst den anderen auch respektiert!“

„J- ja, schon, aber…“

„Ich verstehe nicht, wieso du dich nicht dagegen gewehrt hast… Sie hat dich, mich und auch Mama beleidigt und du hast gar nichts gesagt!“

Wütend schlug Oliver auf das Lenkrad vor ihm, dass es laut zu hupen begann. „Verdammt, Fin, ich darf nichts gegen sie sagen!“, schrie er hysterisch. „Sie sichert unsere Existenz, sie ist unsere finanzielle Quelle! Ich müsste ihr auch schon ohne diesen Umstand die Füße küssen vor Dankbarkeit, dass sie mich in ihrer Gegenwart überhaupt akzeptiert. Sie steht über mir, sehr weit über mir…!“

Niemand sagte etwas. Eigentlich hatte Oliver nicht vorgehabt, Fin davon zu erzählen. Sie sollte ihre kleine Illusion vom erfolgreichen Musiker, ihrem Vater, nicht verlieren- jedenfalls nicht so früh. Finja starrte ihn ungläubig an, dann schüttelte sie den Kopf und schnallte sich ab.

„Aber sie ist immer noch ein Mensch und kein Gott…“ Sie knallte die Autotür beim Aussteigen so feste zu, dass das ganze Auto leicht wackelte. Oliver blieb sitzen und sank, den Kopf in die Hände vergraben, kraftlos in sich zusammen.
 

Mit den Jahren wurde das Verhältnis zwischen Oliver und Mivako immer angespannter. Sie ließ ihn und seine Tochter nun öfter an Familienfesten teilnehmen, nur um sich bei der Gelegenheit über Finjas mangelnde Erziehung zu beschweren oder Oliver anders zu demütigen. Das Mädchen hatte sich mit der Zeit ein immer dicker werdendes Fell gegenüber den Sticheleien zugelegt und hörte irgendwann gar nicht mehr hin- ihr Vater dagegen drohte an der ganzen Situation langsam zu zerbrechen…

Das Geräusch der Klingel ließ Fin hochschrecken. Sie brauchte einen Moment, um sich zu orientieren und festzustellen, dass sie immer noch an dem gedeckten Esstisch saß. Mit steifen Gliedern stand sie auf und rieb sich über die müden Augen. Sie war tatsächlich eingeschlafen…

Es klingelte erneut und mit eiligen Schritten rannte die Dreizehnjährige zur Haustür. Sie öffnete die Tür so weit, wie die Kette es zuließ und spähte in die Dunkelheit. Sie brauchte nicht lange, um die Männer, die auf der Türschwelle standen, zu erkennen, sodass sie nur seufzend die Tür wieder schloss, die Kette entfernte und die beiden Männer hineinließ.

„Tut mir Leid, dass ich geklingelt habe, aber er hat seine Schlüssel mal wieder vergessen. Wo soll ich ihn hinbringen?“, fragte der Mann leise und zog sich den Arm des Betrunkenen noch weiter über die Schulter. Das Mädchen deutete auf eine Tür, die an den schmalen Flur angrenzte. „Ins Wohnzimmer…“, murmelte Fin, schloss die Eingangstür wieder hinter sich und ging vorne weg in den von ihr gedeuteten Raum.

Der Freund ihres Vaters sah der Kleinen etwas besorgt hinterher. Es war nicht das erste Mal, dass er Oliver so nach Hause brachte und jedes Mal reagierte Finja auf dieselbe erschreckende Art- nüchtern, übermüdet, routiniert.

Oliver schien von all dem nichts mitzubekommen; er hat, seit er ihn aus seinem Auto gezerrt hat, nichts mehr gesagt, selbst sein betrunkenes Gesäusel, dass er sich die ganze Zeit über anhören musste, hatte aufgehört, als sei er nun vollkommen weggetreten und nicht mehr ansprechbar.

Fin tat ihm leid. Er fühlte sich immer wieder schlecht, wenn er mit Oliver abends wegging und der Idiot so übertrieb; er hatte ihn schon mehrmals darauf angesprochen, aber Oliver war leider unbelehrbar, was den Alkohol anging…

Der Mann legte Oliver aufs Sofa, während Fin kurz in dem Schlafzimmer ihres Vaters verschwand. Sein Blick wanderte durch den Raum und blieb an dem gedeckten Esstisch hängen. Kopfschüttelnd sah er wieder auf den schlafenden Hausherrn hinab.

„Du bist so ein Idiot.“, raunte er leise und seufzte. Er wartete, bis das Mädchen wieder im Wohnzimmer auftauchte, beladen mit einer Wolldecke, mit der sie ihren Vater zudeckte, dann räusperte er sich.

„Soll ich noch ein wenig bleiben?“, fragte er besorgt, doch Finja schüttelte nur den Kopf und schenkte ihm ein müdes Lächeln.

„Danke, aber ich komme schon klar.“

Er sah sie noch einen Moment lang mitleidig an, dann zuckte er betrübt mit den Schultern und ließ sich von Fin zur Tür begleiten. Sie verabschiedete ihn kurz, dann, als sie die Tür hinter ihm wieder abgeschlossen hat, fuhr er sich seufzend durchs Haar und schaute in den kalten Nachhimmel hinauf. Dieses Mädchen war genauso schlimm, wie ihr Vater- dickköpfig und unbelehrbar…

Fin setzte sich wieder auf einen der Stühle, die um den Esstisch drapiert standen und sah, den Kopf auf ihre zierlichen Hände gestützt, zu Oliver hinüber. Ihr Vater schnarchte- und das tat er eigentlich nur, wenn er betrunken war. Als er nach fünf Minuten immer noch nicht aufgewacht war, stand sie schnaubend auf, nahm ein gefülltes Wasserglas vom Tisch und kippte es ihrem Vater kurzerhand ins Gesicht. Tatsächlich schreckte Oliver auf, fuchtelte wild mit den Armen und blinzelte verdutzt. Seine lang gewordenen, braunen Haare klebten ihm auf Stirn und Wangen und mit fahrigen Händen versuchte er sich die nassen Strähnen aus dem Gesicht zu wischen. Fin schwieg, ließ ihm die Zeit, sich zu fangen und sah nur mit verschränkten Armen auf ihn herab.

Endlich schien Oliver klar zu werden, wo er sich befand und sah verwirrt zu seiner Tochter hoch. „Fin, w- was bist du denn noch auf?“, fragte er mit schwerer Zunge und sah sich zu der großen Wanduhr über dem Kamin um. „Hast du mal auf die Uhr gesehen?“

Fins Blick bekam etwas Anklagendes. „Ich habe auf dich gewartet.“, erwiderte sie und so sehr sie auch versuchte, ihre helle Stimme schneidend klingen zu lassen, konnte sie nicht unterdrücken, dass etwas Beleidigtes in ihr mitschwang. Oliver fuhr sich seufzend durch die nassen Haare und versuchte sich vollends aufzurichten.

„Fin- Schatz, das sollst du doch nicht- du hast doch morgen Schule…“

Die Augen des Mädchens verengten sich weiter. „Morgen ist Sonntag.“

Oliver stockte in seiner Bewegung, dann begann er verlegen zu lachen. „Ach ja, stimmt…“

Das Mädchen schlang ihre Arme noch mehr um ihren Körper und nickte in Richtung Esstisch. „Ich meinte auch, dass ich mit dem Essen auf dich gewartet habe.“ Ihr Vater folgte ihrem Blick und holte erschrocken Luft, als er den dekorierten Esstisch und die Teller darauf entdeckte.

„War das etwa heute gewesen, dass Frau Conner für uns kochen wollte?“, fragte er erschüttert und biss sich auf die Unterlippe. „Verdammt, das habe ich total vergessen.“ Er hörte seine Tochter neben ihn wütend schnauben.

„Das Essen habe ich gekocht.“

Olivers Herz machte einen schmerzhaften Satz in seiner Brust und mit geweiteten Augen starrte er seine Tochter an. Unsicher, was er nun tun sollte, streckte er vorsichtig eine Hand aus, um sie am Arm zu berühren.

„O nein, Fin das… das tut mir schrecklich leid, glaub mir…“, sagte er schuldbewusst und verfluchte sich in dem Moment, dass er so lallte. Er bekam einen Ärmel ihres Pullovers zu fassen, doch augenblicklich riss das Mädchen sich von ihm los und ging einige Schritte auf Abstand. Angewidert rümpfte sie die Nase. „Du stinkst nach Alkohol.“

Als hätte sie ihn geohrfeigt, zog er die Hand zurück und sah weg. Ihm war schon länger bewusst, dass er kurz davor stand, ein Alkoholproblem zu bekommen, doch er fand einfach nicht die Kraft, dagegen vorzugehen. Er wusste, dass es keine Lösung für seine anhaltenden Probleme mit der Familie seiner verstorbenen Frau war oder mit seiner wankelmütigen Arbeitssituation, aber die Abende in den Bars und Kneipen halfen ihm dabei, seine Sorgen für den Moment zu vergessen- allerdings schien dies nicht das einzige zu sein, was ihm der Alkoholrausch an Erinnerungen nahm.

„Verzeih mir, Fin, bitte…“, flehte Oliver kleinlaut und versuchte Fin wieder in die Augen zu sehen. Das Gesicht des Mädchens war immer noch hart und anklagend und schweigend erdolchte es ihn mit seinen Blicken. Je älter sie wurde, je schmaler und femininer ihre Gesichtszüge wurden- so musste Oliver immer wieder bitter feststellen-, desto deutlicher sah er Sonoko in ihr. Er spürte, wie ihm heiße Tränen in die Augen stiegen und schnell sah er wieder auf seine Hände hinab.

„Es ist schon wieder ein Brief von Mivakos Anwalt gekommen.“, durchbrach Fins helle Stimme das bedrückende Schweigen. Verwundert runzelte Oliver die Stirn.

„Seit wann liest du-?“

„Hast du ihn schon gelesen?“, fiel seine Tochter ihm brüsk ins Wort und hob erwartend die schmalen Brauen. Oliver ließ seine geplante Bemerkung kurzerhand fallen- so demütigend es auch war, aber er musste sich eingestehen, dass er eine Diskussion mit ihr zum Thema Diskretion und Briefgeheimnis in seiner jetzigen Verfassung eh nicht gewonnen hätte. Stattdessen seufzte er tief und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar.

„…nein, noch nicht.“, gab er zu und kratzte sich am Hinterkopf. Die Dreizehjährige schnaubte genervt und verschränkte erneut kopfschüttelnd die Arme vor ihrer Brust.

„Papa, du musst was tun.“

„Ich weiß…“, brummte Oliver missmutig und faltete seine Hände im Nacken.

„Wenn du weiterhin nicht auf ihre Briefe reagierst, wird sie böse.“

„Ich weiß.“, wiederholte er nun gereizter und seine Hände begannen sich zu verkrampfen. Fins Stimme wurde immer anklagender.

„In dem stand sogar schon was von einem Gerichtsbeschluss-“

„Ich weiß!“, rief Oliver so laut, dass Fin erschrocken zusammenzuckte und sich beeilte, den Mund zuzuklappen. Ihr Vater saß nach vorne gebeugt vor ihr auf dem Sofa, die Hände im Nacken zu Fäusten geballt und starrte zu Boden. Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber sie sah, wie sein ganzer Körper zu beben begann und dann hörte sie ihn schluchzen. Das Geräusch ging ihr schmerzhaft unter die Haut und ließ sie selbst mit den Tränen kämpfen.

Sie hatte vorgehabt, ihn wütend zur Rede zu stellen, sie wollte ihm seine Fehler vor Augen führen und ihn dazu bringen, dass er ihr schwor, mit dieser verdammten Trinkerei aufzuhören. Und jetzt? Jetzt tat er ihr nur noch leid. Fin war alt genug geworden, um Olivers Situation nachvollziehen zu können. Ihre Großmutter, die sie niemals so nennen durfte, ließ keine Gelegenheit aus, um ihn verbal niederzumachen. Fin stand über diesen Beleidigungen, allerdings waren sie auch nie an sie selbst gerichtet gewesen…

Wie sie ihren Vater dort weinen sah, bröckelte erneut ein Teil ihrer kleinen Welt, die in den letzten Jahren, nach dem Tod ihrer Mutter, so sehr gelitten hatte.

Sie schluckte das beklemmende Gefühl in ihrem Hals hinunter, setzte sich neben Oliver und umarmte ihn von der Seite. Sofort sah Oliver auf, wischte sich mit dem Handrücken die Tränen vom Gesicht, nahm Fin ebenfalls in die Arme und zog das Mädchen weiter auf seinen Schoß.

Für Minuten saßen sie so umschlungen auf dem Sofa und sagten kein Wort. Oliver beruhigte sich langsam und tröstend fuhr Fin ihm mit ihrer Hand über den großen Rücken.

„Ich will nicht von dir weg, Papa…“, flüsterte sie irgendwann und legte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters. Oliver unterdrückte die neuen Tränen und drückte seine kleine Tochter noch mehr an sich.

„Ich will das genauso wenig, Schatz.“, antwortete er heiser und vergrub sein Gesicht in ihrer braunen Lockenmähne. Er schwieg kurz, dann fügte er mit bebender Stimme hinzu:

„Ich hasse diese verdammte Familie- ich hasse dieses gottverdammte Land…“
 

Die Flügeltür öffnete sich geräuschvoll und eilig strömten die wenigen Zuschauer und Parteien des Rechtsstreites aus dem Gerichtssaal. Oliver wagte es zum ersten Mal seit zwei Stunden wieder durchzuatmen. Seine Anwältin ging neben ihm und steckte im Gehen die Unterlagen in ihre Aktentasche.

„Nochmals vielen Dank. Ohne Sie wäre es nicht so glimpflich ausgegangen.“, sagte Oliver und reichte der Frau seine Hand. Die Anwältin lächelte zwar, allerdings ließen ihre Augen auf etwas anderes schließen.

„Ich rate Ihnen, sich nicht zu früh zu freuen, Herr Lynn.“, begann sie mahnend und erwiderte die dankende Geste ihres Mandanten. „Wir konnten den Richter milde stimmen, aber das heißt leider noch lange nicht, dass wir gewonnen haben.“ Der Ernst in ihrem Blick nahm zu. „Wenn Sie Ihr Versprechen eines Entzugs nicht einhalten, kann niemand mehr etwas dagegen tun, das die Familie Ihrer Frau das Sorgerecht erhält.“

Innerlich zog sich alles in Oliver zusammen, doch nach außen hin schaffte er es, die Fassade des Willenstarken aufrechtzuerhalten.

„Ich werde mich bessern.“, antwortete er mit fester Stimme. „Ich verspreche es Ihnen.“

Seine Anwältin seufzte. „Versprechen Sie das Ihrer Tochter.“, entgegnete sie und nickte zurück in den Raum, in dem Finja noch saß und sich ihre Jack anzog. „Immerhin geht hier um sie- und laut Gericht hat sie es jetzt in der Hand. Ihre Entscheidung wird sehr stark gewichtet werden, da bin ich mir sicher.“

Oliver sah ebenfalls zu Fin. Das Mädchen wollte sich gerade von ihrem Platz erheben, als Mivako auf einmal an ihr vorbeiging und ein, zwei flüchtige Worte mit ihr wechselte. Fin erschrak leicht, als die Frau plötzlich neben ihr auftauchte und versuchte, Mivakos dominantem Blick standzuhalten. Als sich die Frau wieder zum Gehen abwandte, beeilte sich Fin, eine höfliche Verbeugung zu vollführen, allerdings bezweifelte Oliver, dass Mivako diese Bemühung des Respektzollens überhaupt gesehen hat. Als Fin sich wieder aufrichtete, sah er, wie blass seine Tochter im Gesicht geworden war und bei diesem Anblick, breiteten sich Schuldgefühle in seinem Magen aus.

Das ehrwürdige Familienoberhaupt kam auch an ihm und seiner Anwältin vorbei und obwohl ihr Blick gewohnt kalt und herablassend war, lief es Oliver eisig den Rücken hinunter und sein Herz begann schneller zu schlagen. Der Blickkontakt währte nur wenige Sekunden, dann ging Mivako erhobenen Hauptes an ihm vorbei.

Seine Anwältin sah Mivako hinterher und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Das Mädchen konnte einem nur leidtun- ein Vater, der seinen Kummer im Alkohol ertränkt und eine Großmutter mit der Herzenswärme eines Eiswürfels. Sie hatte während der Verhandlung so manches Mal trocken schlucken müssen, wenn sie in Mivako Hidashis Richtung geschaut hat- so eine Gefühlskälte hatte die Anwältin selten bei einem Menschen gesehen. Finjas Vater liebte seine Tochter über alles, auch wenn seine verantwortungslosen Taten -ohne das nötige Hintergrundwissen- etwas anderes vermuten ließen, aber dieses… Biest schien das Sorgerecht nur gewinnen zu wollen, um des Sieges willen.

Sie hing ihrem Gedanken noch einen Moment kurz nach, dann drehte sie sich seufzend zu ihrem Mandanten um. „Wir sind hier fertig für heute.“, sagte sie und reichte Oliver erneut die Hand. „Wir sehen uns dann nächste Woche- und denken Sie an unsere Abmachung.“

Der Angesprochene beeilte sich zu nicken. „Das werde ich.“ Die Frau wollte sich schon abwenden, als Oliver sie sanft am Oberarm zurückhielt.

„Ich wollte Sie noch etwas fragen…“, begann er leiser, sodass seine Anwältin verwundert die Stirn runzelte.
 

Fin brauchte ein paar Sekunden, um nach der Begegnung mit Mivako wieder ruhig atmen zu können. Ihr Herz schlug so schnell, als sei sie Kilometerweit gerannt und ihre Knie zitterten wie Espenlaub. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was die Frau zu ihr gesagt hatte, der Schreck über ihr plötzliches Erscheinen saß ihr zu tief in den Knochen.

Nachdem sie sich wieder gefasst hatte, knöpfte sich Fin ihre Jacke ganz zu und suchte ihren Vater in der Menge. Sie entdeckte ihn auf dem Flur stehend und in ein Gespräch mit seiner Anwältin vertieft. Oliver schien schnell und hastig auf die Frau einzureden, deren Blick immer ungläubiger wurde. Einmal sah Fin, wie sie energisch den Kopf schüttelte, woraufhin ihr Vater die Handflächen nach oben drehte und ihr flehend in die Augen sah. Für Sekunden schienen beide zu schweigen, dann sah die Anwältin kurz weg, fuhr sich mit der Rechten über den Nasenrücken, schaute wieder auf und sagte etwas, das Oliver erleichtert aufatmen ließ. Er lächelte, schüttelte glücklich ihre Hand, dann wandte sich die Anwältin ab und verschwand in dem Getümmel der vorbeigehenden Menschen.

Fin setzte sich in Bewegung und lief auf ihren Vater zu. Als dieser sie entdeckte, wurde sein Grinsen ein Stück weit breiter und er schloss sie stürmisch in die Arme.

„Was hast du mit Frau Saito besprochen?“, wollte Fin wissen, nachdem Oliver seine überschwängliche Begrüßung beendet hat. Ihr Vater blinzelte überrascht, doch dann grinste er wieder und fuhr ihr durch die dichten Haare.

„Sei nicht immer so neugierig. Ich verrate dir das schon bei Zeiten.“, sagte er und zwinkerte ihr gut gelaunt zu.
 

Erschöpft schloss Fin einige Tage später die Haustür auf, warf ihren Schulranzen unachtsam in die eine Ecke des Flures und pellte sich aus ihren Jackenschichten. Seit Vorgestern waren die Temperaturen rapide abgesunken, sodass nun niemand mehr leugnen konnte, dass der Winter einzog. Fin hasste den Winter schon allein wegen den vielen Klamotten, die man gezwungen war anzuziehen, um nicht zu erfrieren- hinzu kamen die Unmengen von Schnee auf den Gehwegen, welche für beinahe jeden ihrer Nachbarn ein unüberwindbares Hindernis darstellten, und die Schneematschbälle, die sie nun auf dem Schulhof ewig ins Gesicht bekommen würde.

Sie konnte nicht nachvollziehen, warum alle in ihrer Klasse anfingen, auszuflippen und jubelnd durch die Gegend zu rennen, sobald die ersten Schneeflocken vom Himmel fielen- was war so toll an diesem kalten Zeug? Gut, früher war sie auch immer raus gegangen um Schneemänner zu bauen oder Schlitten zu fahren, aber jetzt war sie vernünftig genug, um zu wissen, dass eine Erkältung oder gar Grippe dieser „Spaß“ garantiert nicht wert war und so gesehen war sie auch viel zu alt für so einen Blödsinn!

Seufzend stellte sie ihre vom Schnee durchgenässten Schuhe auf das bereitliegende Handtuch und beeilte sich, den kalten Flur hinter sich zu lassen. Auf dem Weg in ihr Kinderzimmer warf sie einen flüchtigen Blick in den Wohnraum und gerade wollte sie schon wieder weiter gehen, als sie auf dem Sofa eine Person entdeckte. Ruckartig blieb sie stehen und sah noch einmal stirnrunzelnd auf ihren Vater.

„Papa? Warum bist du schon zu Hause?“, fragte Fin verwundert und ging auf den Mann zu. Dieser schien sie gar nicht zu bemerken, er sah nicht einmal auf, als sie schon fast neben ihm stand. Ihr Vater saß mit gefalteten Händen dort und starrte ausdruckslos die gegenüberliegende Wand an. Auf dem niedrigen Couchtisch lag ein Brief, daneben eine geöffnete Bierflasche. Fin konnte von ihrem Standpunkt aus nicht sehen, was genau in dem Brief drinstand, allerdings erkannte sie über der fettgedruckten Kopfzeile das Emblem der Firma, für die Oliver seit längerem Lagerarbeiten verrichtete. Auch wenn sie wusste, dass ihr Vater es nicht gerne sah, wenn sie seine Post las, nahm Fin das Schreiben in die Hand und überflog die Zeilen, jedoch kam sie nicht sehr weit.

„…das hat mit Sicherheit Mivako eingefädelt.“, riss Olivers Stimme sie aus ihrem Lesefluss und ließ sie erschrocken aufschauen. „Ganz bestimmt.“, fügte er leise hinzu und griff nach der Flasche, die auf dem Tisch stand. Fins Hände verkrampften sich bei Olivers Bewegung, sodass sie das Kündigungsschreiben leicht zerknitterte.

„Papa, du sollst doch nicht trinken…“, sagte sie müde und kraftlos, was Oliver lediglich mit einem Schulterzucken quittierte.

„Ist mir doch egal.“, murmelte ihr Vater und setzte die Flasche an die Lippen.

Fins Blick verhärtete sich augenblicklich. „Mir aber nicht!“, zischte sie zornig, sodass Oliver tatsächlich verwundert zu ihr aufblickte, als hätte sie ihn aufs äußerste beschimpft. Der anklagende Blick seiner Tochter zeigte Wirkung und schuldbewusst stellte Oliver die Flasche zurück auf den Tisch.

„Tut mir leid…“, antwortete er aufrichtig und fuhr sich seufzend durch die Haare.

„Das sagst du immer.“, erwiderte Fin nur, sodass Oliver die Lippen aufeinander presste und wegsah. Wie so oft konnte er ihren durchdringenden und tadelnden Blick nicht ertragen. Für Minuten sagte niemand etwas, dann nahm Oliver all seinen verbliebenen Mut zusammen und sah seiner Tochter lächelnd ins Gesicht. Er bedeutete ihr, sich neben ihn zu setzen, was sie dann auch nach kurzem Zögern tat. Olivers Laune hellte etwas auf.

„…Fin, was würdest du sagen, wenn wir von hier weggehen würden?“, begann er und in seiner Stimme lag eine Vorfreude, die Fin allerdings nur die Stirn runzeln ließ.

„Du meinst umziehen? Warum, das Haus gehört uns d-“

„Ich rede nicht von umziehen…“, unterbrach ihr Vater sie und seine Augen begannen zu leuchten. Er wusste, wie er alles noch retten konnte. Er würde seine Tochter wieder glücklich machen. „Ich möchte mit dir weg von hier- raus aus Japan.“

Zu seiner Verwunderung riss das Mädchen erschrocken die Augen auf. „Aber… warum?“, fragte sie fassungslos und rutschte ein Stück weit von ihm weg. Oliver war zuerst genauso überrumpelt von Fins Reaktion, mit der er so nicht gerechnet hatte, doch dann holte er tief Luft und nahm die zierlichen Hände seiner Tochter in seine eigenen.

„Ich halte es hier nicht mehr aus, Fin. Dieses Land, dieser Streit mit dieser verdammten Familie- ich ertrag das alles nicht mehr!“, erwiderte er um Ruhe in der Stimme kämpfend und sah ihr hilflos in die Augen. Du musst das doch verstehen, Fin, flehte sein Blick, gerade du!

Als Fin nichts erwiderte, sondern ihn weiterhin schockiert anstarrte, startete Oliver einen neuen Versuch.

„Ich habe mit Saito gesprochen. Wenn ich das alleinige Sorgerecht erhalte, darf ich das Land mit dir verlassen. Ich will wieder in meine Heimat, nach Amerika. Ich habe alles geregelt, meine Eltern würden unseren Flug bezahlen und wir könnten die erste Zeit auch bei ihnen wohnen und-“

Mit einem Satz war Fin auf den Beinen. „Aber ich will nicht nach Amerika!“, rief sie aufgebracht. Mitleidig sah Oliver zu ihr hoch und versuchte sich an einem verständnisvollen Lächeln.

„Hast du Bedenken wegen der Sprache? Das brauchst du nicht, Schatz- dein Englisch ist super, du-“ Fin unterbrach ihn erneut mit einer energischen Handbewegung und schüttelte den Kopf. „Nein, Papa, ich will einfach nicht von hier weg!“

Olivers Blick wurde immer ungläubiger. Er rutschte auf dem Sofa näher an Fin heran und sah ihr hilflos in die Augen.

„Fin, versteh mich doch bitte. Ich hätte diese Entscheidung schon viel früher treffen müssen, dann hätten wir uns so vieles ersparen können. Wir können hier doch nicht mehr glücklich werden.“

Du vielleicht nicht.“, erwiderte das Mädchen sofort und entfernte sich noch weiter vom Sofa. Bei diesen Worten begann sein Herz schneller zu schlagen.

„Ich… was willst du damit sagen?“, wollte Oliver mit brüchiger Stimme wissen. Es lief alles schief…

Fins Blick wurde ein Stück weit trauriger und mit gesenktem Kopf wich sie Olivers fragendem Gesicht aus. Als müsse sie sich sammeln, schloss sie die Augen und atmete tief durch.

„Du hast Recht, Papa. Es wäre besser für dich, wenn du wieder nach Amerika gehen würdest…“, sagte Fin leise und fing an, an ihrem Ärmel herumzunesteln. Sie sprach nicht sofort weiter und ihre nächsten Worte schienen ihr nur schwer über die Lippen zu kommen. „Aber ich will hier bleiben.“, vollendete sie ihren Satz zögernd und sah dabei ihrem Vater wieder in die vor Schock geweiteten Augen. Er schien nicht die Kraft aufbringen zu können, zu antworten, sodass Fin einfach ruhig und beherrscht weitersprach: „Hier sind meine Freunde, Papa, ich gehe hier zur Schule und… und ich glaube dir, dass dich hier nichts mehr glücklich macht- ich habe dich oft genug weinen sehen. Aber das hier… ist meine Heimat, verstehst du?“, erklärte das Mädchen hilflos, doch Oliver schüttelte nur fassungslos den Kopf.

„Das meinst du nicht ernst.“, flüsterte ihr Vater kraftlos. Fins selbstsichere Fassade begann sich unter dem entsetzten Anblick ihres Vaters aufzulösen, sodass sie nur noch mit Mühe das Zittern unterdrücken konnte. Dennoch schaffte sie es, ihre Worte überzeugt und bestimmt klingen zu lassen.

„Doch. Ich will, dass du glücklich bist, aber das kannst du anscheinend hier nicht werden…“

In Olivers Augen sammelten sich Tränen. „Fin, bitte…“, flehte er erstickt.

Fin schluckte ihre eigenen Tränen hinunter. „Ich habe mich entschieden, Papa.“
 

Der Sorgerechtsstreit wurde wenige Tage später entschieden. Der Ausgang wäre auch ohne Fins Aussage eindeutig vorherzusagen gewesen, jedoch gab der Wunsch des Mädchens die letzte Entscheidungshilfe, sodass der Familie Hidashi in allen Punkten das alleinige Sorgerecht zugesprochen wurde.

Am nächsten Tag stand Oliver vor der Tür des Ehepaares Conner. Sie waren langjährige Nachbarn gewesen, die nie gezögert hatten, Vater und Tochter zur Seite zu stehen und zu helfen. Peter Conner, ein alter hagerer Mann mit dicken Brillengläsern und Halbglatze sah verwundert auf die Reisetasche, die neben Oliver auf der Fußmatte stand.

„Das sind noch ein paar Sachen von Fin.“, erklärte Oliver mit dünner Stimme und zuckte etwas hilflos mit den Schultern. „Ich dachte mir, dass sie die vielleicht hier haben möchte, solang-“ Oliver brach den Satz ab und versuchte sich noch in ein verlegendes Lächeln zu retten. Peter kam ihm zur Hilfe, nickte und nahm die Tasche an sich.

„Ich werde sie ihr geben. Danke, Oliver.“, erwiderte er freundlich und sah Oliver aufmunternd in die Augen. Der sonst so stattliche Mann war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er hatte abgenommen, was man besonders im Gesicht erkennen konnte und seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Es tat Peter weh, seinen liebgewonnenen Freund und Nachbarn so zu sehen.

„Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie Fin für ein paar Tage bei sich aufnehmen, bis sie bei Mivako einziehen kann.“, sagte Oliver, woraufhin Peter lächelnd den Kopf schüttelte.

„Wir freuen uns jedes Mal, wenn wir das Kind um uns herum haben und wenn wir Ihnen damit helfen können, tun wir das von Herzen gerne.“ Er sah kurz an Oliver vorbei zu dem Auto, das in seiner Einfahrt stand. Ein paar Koffer waren auf der Rückbank zu erkennen. Betrübt schaute Peter wieder zu Oliver auf. „Sie wollen uns also tatsächlich verlassen?“

Etwas überrascht sah nun auch Oliver über die Schulter zurück zu seinem Wagen und zuckte verlegen mit den Schultern. „Ja. Mein Flug geht in ein paar Stunden.“

„Es ist jammerschade…“, erwiderte der alte Mann traurig. „Ich hätte Sie gerne noch länger um mich gewusst- wer soll denn jetzt immer das Laub und den ganzen Schnee aus meiner Einfahrt wegräumen?“, fügte Peter zwinkernd hinzu und auch Oliver konnte sich ein Lachen nur schwer verkneifen, jedoch hielt die aufhellende Stimmung nur kurz, sodass der Jüngere im nächsten Moment wieder mit hängenden Schultern und gesenktem Blick vor ihm stand. Peter seufzte und legte Oliver eine Hand an den Oberarm.

„Sie haben die richtige Entscheidung getroffen, Oliver.“, sagte er aufrichtig, doch sein Gegenüber schüttelte nur bitter lachend den Kopf.

„Ich lasse meine Tochter im Stich. Wie kann das eine gute Entscheidung sein?“ Verzweifelt presste er die Lippen aufeinander. Tränen drohten ihm erneut über die Wangen zu laufen. „Ich bin ein schlechter Vater, mehr nicht.“

„Sie brauchen beide einen Neuanfang.“, erwiderte Peter. „Die letzten Jahre waren nicht leicht gewesen und Sie beide haben es mehr als jeder andere verdient, glücklich zu werden und ihren Frieden zu finden- nur Fin war der Meinung, dass Sie das nicht zusammen werden können. Sie weiß, dass Sie sie über alles lieben und Finja liebt Sie, das können Sie mir glauben. Sie glauben, Sie seien ein schlechter Vater?“ Peter sah ihm tief in die Augen. „Sie stehen vor mir und weinen um ihre Tochter. Sie haben alles für Sie getan. Trauer ist menschlich, Oliver, niemand würde Ihnen verbieten, um Ihre verstorbene Frau zu weinen. Aber Sie müssen jetzt nach vorne schauen! Sie haben in ein paar Situationen falsch gehandelt, ja, und Fin sieht diese Fehler und ist enttäuscht, deshalb ist es umso wichtiger, dass Sie genau diese Chance jetzt nutzen. Lassen Sie die Vergangenheit ruhen und fangen Sie noch einmal bei null an. Werden Sie für Fin wieder der Vater, der Sie vor Sonokos Tod waren und lassen Sie Ihrer Tochter die Zeit, selbst zu entscheiden, wann dieser Zeitpunkt gekommen ist. Das ist das einzig Richtige, was Sie nun tun können, also tun Sie`s!“ Peter schenkte Oliver ein aufmunterndes Lächeln. „Fliegen Sie wieder in Ihre Heimat und machen Sie sich keine Sorgen um Fin. Sie ist ein tapferes Mädchen, sie wird sich von nichts unterkriegen lassen.“

Sprachlos stand Oliver vor dem alten Mann. Dann, ohne dass er wusste warum, schloss er Peter in die Arme.
 

„Kindchen, dein Vater steht draußen vor der Tür. Willst du ihm nicht auf Wiedersehen sagen?“, fragte Marie Conner leise und setzte sich neben Finja auf das Gästebett. Das Mädchen zog die Beine noch näher an den Körper und schüttelte energisch mit dem Kopf.

„Ich will ihn nicht wiedersehen.“, murmelte sie und schlang die Arme um ihre Schienbeine. Marie seufzte und legte Fin behutsam einen Arm um die Schulter.

„Belüg dich doch nicht selbst, Fin…“

Das Mädchen wich dem mitfühlenden Blick der alten Frau aus. Sie belog sich nicht! Sie wusste, dass es besser für sie beide war, wenn sie sich nicht noch einmal sahen. Ihr Vater wollte weg von hier und sie würde ihn nicht davon abhalten.

Es war besser so…

Oliver brauchte sie nicht und Fin brauchte ihn nicht- warum sollten sie sich also den Abschied unnötig schwer machen, indem sie sich weinend in die Arme fielen? Sie hatte Oliver genug Tränen vergießen sehen und mit jedem Mal ertrug sie es schwerer, mit jedem Mal konnte sie es immer weniger glauben, dass ihr Vater- ihr Papa, den sie immer bewundert hatte- weiter in Selbstmitleid ertrank. Fliehen war die einzige Möglichkeit, die er sah? Sollte er ruhig, sie würde das nicht tun! Sie würde sich von Mivako nicht einschüchtern lassen.

Sie hörte, wie ein Motor draußen gestartet wurde und dieses Geräusch ließ sie hochschrecken. Sie kannte den Wagen. Mit einem Satz war sie auf den Beinen und lief zum Fenster, das zur Straße hinzeigte. Sie sah noch, wie Oliver losfuhr, das Gesicht emotionslos und eingefallen, dann war er aus ihrem Sichtfeld verschwunden.

Du hast dich richtig entschieden! , rief sie sich selbst zur Ordnung und verfluchte im nächsten Moment ihr Herz dafür, die Kontrolle über ihren Körper übernommen zu haben. Marie stand auf, stellte sich hinter Fin und nahm das schluchzende Mädchen tröstend in die Arme.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Thuja
2012-03-14T23:22:41+00:00 15.03.2012 00:22
WOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOOW
Du bist so großartig.
Du bist so talentiert

nun habe ich es wirklich geschafft
*schwermütig seufze*
es ist schon wahr. Diese Geschichte ist genial. Du bist ein Genie im Schreiben

hier gehst du sehr tiefsinnig vor, du fühlst dich so perfekt in die Charaktere hinein.
Am Ende hatte ich einen richtigen im Hals. Das war so rührend. Und auch Oliver tat mir extrem Leid. Er hat einiges falsch gemacht, aber ich konnte ihn so gut verstehen.
Wäh
Ich hätte die Großmutter am liebsten in der Luft zerrissen. Ein schreckliches Biest war sie.
Wenn ich könnte, ich würde die Geschichte mit ins Bett nehmen und mit ihr kuscheln.
Du hast mir so viele tolle Stunden bereitet.
Das kann ich dir nie zurückgeben



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