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Er sieht dich.

Ein trauriges Märchen
von

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Undercover

Ihr Wecker klingelte unerbittlich, bis sie endlich aufgewacht und ihn ausgeschaltet hatte. Verschlafen drehte sie sich um und tastete nach Sasori. Doch statt seiner Hand fand sie eine rote Rose, deren Dornen entfernt war. Sie war offensichtlich von ihm.

„Damit du dich auf keinen Fall an ihnen stichst“, hatte er geantwortet, als sie ihn danach gefragt hatte. Seitdem hatte er die Dornen jeder Rose entfernt, die er ihr schenkte.

„Sasori?“, fragte sie und ging durch das Wohnzimmer ins Bad. „Schatz, wo bist du denn?“

Sie sah sich um und zuckte zusammen, als sie in den Spiegel sah. Ihre eigentlich grasgrünen Augen waren ganz rot und verheult. Ein Zeichen, dass sie die ganze Nacht durchweg geweint hatte.

Unter ihrem Gesicht war mit Filzstift ein Pfeil nach oben gemalt. Darunter stand „Die schönste Frau der Welt“ und ein rotes Herz mit Sasori's Unterschrift. Sie musste unwillkürlich lächeln. Es war so typisch er. Einfach nur süß.

Als sie in die Küche lief, saß er schon am Tisch und schob ihr eine Müsli-Schüssel hin.

„Gut geschlafen?“ Es war eine rhetorische Frage. Sie wusste genau, dass er kein Auge zugetan hatte.

„Du?“, fragte er, ohne ihr eine Antwort zu geben, obwohl er von ihr genauso wusste, dass sie nicht viel geschlafen hatte.

„Auch gut, danke der Nachfrage.“ Sie setzte sich zu ihm und löffelte ihr Müsli.

„Danke für die Rose. Echt süß von dir, Schatz“, sagte sie.

„Ich bitte dich! Was ist eine Rose gegen das, was du mir gibst?“

„Was gebe ich dir denn schon?“

„Dein Herz.“

„Es gehört dir eben. Dafür habe ich aber nichts getan. Du hast es mir einfach gestohlen!“

„Dann sind wir ja quitt! Du hast mich auch nicht nach meinem gefragt!“

„Ooooh, das tut mir aber Leid!“

Er seufzte gespielt. Sie gab ihm einen Kuss auf die Nase.

„Hast du heute schon Zeitung gelesen?“, fragte er und tippte auf die Zeitung, die neben ihm lag.

„Wann hätte ich das denn machen sollen?“

„Ich meine ja nur. Sie wollen angeblich jemanden vom FBI hier als Geheimagent einschleusen, wegen den ganzen Drogengeschäften.“

„Wirklich witzig.“

„Was denn?“

„Sowas schreiben die sicher nicht in die Zeitung. Sonst weiß die Drogenszene ja gleich, auf was sie achten muss.“

„Doch, das steht hier drin! Hat irgendein Typ von der örtlichen Drogenfahndung ausgeplaudert.“

„Zeig mal.“ Er reichte ihr die Zeitung, auf der ein Foto von einem Polizisten zu sehen war.

„Das ist der Kerl von der Drogenfahndung“, fügte Sasori hinzu, als er ihren fragenden Blick bemerkte.

„Ach so. Ziemlich dumm von denen, findest du nicht?“

„Schon. Na ja, sie werden es wohl hoffentlich schaffen den Drogenring zu sprengen. Soll hier in der Gegend ja ein echtes Problem sein.“

„Hoffe ich auch.“ Sie schluckte ihr Essen herunter. Er sah sie durchdringend an. Spätestens in diesem Moment war ihr klar, dass er von der Gang wusste. Trotzdem tat sie so, als wäre nichts, denn er würde ihr ohnehin nur sagen, dass sie damit vorsichtig sein müsse und dass er ihr davon abrate.

„Die Witzeseite dieser Zeitung soll ja granatenmäßig schlecht sein. Kannst du das bestätigen?“, wechselte sie das Thema. Er zog überrascht von dem plötzlichen Umschwung eine Braue hoch und antwortete: „Hab' schon besseres gelesen.“ Sie stand auf und stellte ihre Müsli-Schüssel in die Spülmaschine. Er beobachtete sie auf eine beinahe vorwurfsvolle Weise.

„Gehst du heute zur Schule?“, fragte er.

„Ja, klar.“

„Wie findest du deine Klasse denn so?“

„Keine Ahnung. Ich denke, sie ist ganz in Ordnung.“

„Und der Typ, der neben dir sitzt?“

„Er ist ziemlich schlechtgelaunt und etwas aggressiv, aber es geht.“

„Verstehe. Klingt unangenehm. Du solltest dich besser von ihm fernhalten.“

„Warum?“

„Der Direktor hat gestern angerufen.“

„Schön.“

„Du und dieser T-Pain, das ist doch dein Sitznachbar?“

„Ja. Ist er.“

„Ihr habt gestern nach der zweiten Stunde irgendwie gefehlt, ohne euch abzumelden. Du bist allerdings erst nachmittags nach Hause gekommen. Willst du mir nicht erzählen, wo du warst?“

„Nein.“

„Deine Sache. Pass einfach auf dich auf, okay?“

„Ja, mach ich. Und...“ Sie machte eine Pause.

„...danke.“

Sasori erhob sich und warf die Zeitung einen Papiereimer.

„Kein Problem“, antwortete er.

Er stand nun direkt hinter ihr. Liebevoll schloss er seine Arme um ihre Taille und küsste ihr Ohr. Ihr Körper entspannte sich langsam und sie lehnte den Kopf zurück. Eine Welle von angenehmen Gefühlen überkam sie. In seinen Armen fühlte sie sich geborgen.

Zärtlich fuhr er mit seinen Lippen an ihrer Schläfe hinunter und verweilte dort für wenige Sekunden, ehe er seinen Kopf an ihren lehnte und flüsterte:

„Geh bitte kein unnötiges Risiko ein. Und reg dich bitte nicht auf. Bleib ruhig, egal was sie sagen.“

Sie schloss die Augen.

„Ich weiß. Ich versuche es ja. Aber du kennst mein Temperament. Es geht ständig mit mir durch.“

„Ich liebe dich doch für dein Temperament.“

Er schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. Sie lächelte zurück und warf einen routinemäßigen Blick auf die Uhr.

„Oh, verdammt!“, rief sie. „Ich komme zu spät!“ Schnell packte sie ihre Schultasche, schlüpfte in ihre Schuhe und nahm eine Jacke unter den Arm. Als sie die Haustür öffnete, hielt er sie noch einmal kurz zurück, küsste sie und wünschte ihr viel Spaß.

Nach hinten hin winkend lief sie über die Straße und rannte zum Schulgebäude, das am anderen Ende der Stadt lag. Dort erwartete man sie bereits. Vor dem Eingang zum Pausenhof stand T-Pain mit verschränkten Armen und sah sie verärgert an.

Sorrow lehnte an die Mauer, die das Gelände umgab, und Tyke starrte sie aus seinen schwarz funkelnden Augen an. Big Key ging auf sie zu und packte sie im Nacken.

„Au!“, sagte sie laut. „Was soll das?“

Der Riese drückte sie ohne ein Wort der Erklärung gegen die Mauer und tastete sie ab.

„Lass die Scheiße!“, rief sie und versuchte, sich zu wehren. Doch er war zu stark und so blieb ihr nichts anderes übrig, als das über sich ergehen zu lassen. Big Key zog ein paar Messer aus ihren Hosentaschen und warf sie Tyke zu.

„Sie ist sauber“, sagte er auf gewohnt schroffe und direkte Art zu T-Pain.

Sorrow schüttelte den Kopf und rief: „Biggy, du hast 'ne Stelle ausgelassen!“ Mit einem auf Aiko bedrohlich wirkenden Grinsen ging er auf sie zu und langte ohne Scham in ihren Ausschnitt.

„Hey!“, brüllte sie sauer, doch er wühlte ungeniert darin herum. Mit einem triumphierenden „Na, bitte!“ zog er drei Wurfmesser heraus, die mit schmerzhaft aussehenden Widerhaken versehen waren. Tyke pfiff durch die Finger.

„Profibesteck“, stellte er fest.

T-Pain stöhnte angenervt und gab Big Key ein Zeichen, sie loszulassen. Der schubste sie unsanft von sich. Übellaunig nahm T-Pain Tyke die Messer aus der Hand und betrachtete sie genau.

„Die sind zwar ganz hübsch, aber nicht das, was wir befürchteten. Hat sie 'ne Marke?“, wollte er wissen.

„Sieht nicht so aus“ , antwortete Sorrow. „Obwohl...vielleicht hat sie die ja weiter unten versteckt...“

Aiko schnappte empört nach Luft und ging sicherheitshalber ein paar Schritte zurück.

„Geht's noch???“, brüllte sie ihn an und holte sich ihre Messer von T-Pain zurück.

„Du bist so ein Arsch!“, rief sie in Sorrow's Richtung, der sein blödes Grinsen beibehalten hatte. Um sie weiter auf die Palme zu bringen, sagte er zu Tyke: „Wie und wo sie da noch die Messer untergebracht hat, ist mir echt schleierhaft.“

Als logische Reaktion darauf empfing er einen heftigen Schlag ins Gesicht. Er schrie auf und hielt sich die Backe.

Tyke lachte ihn aus, während T-Pain und Big Key leise miteinander sprachen.

„Hätte jemand die Güte, mir zu erklären, was zur Hölle das sollte?“, fragte sie.

Tyke antwortete ihr als Einziger: „Ey, escht voll sorry. Is' nur wegen Zeitung, steht drin, dass so'n Bulle sisch bei uns versteckt. Also wir mussten disch überprüfen. Nix für Ungut, Aiko.“

T-Pain kratzte sich am Hinterkopf und nuschelte ebenfalls irgendetwas in Richtung „'Tschuldigung.“

„Ich hab's gelesen. Ist schon okay. Nur das mit meinen Wurfmessern war überflüssig.“

Sie warf Sorrow, der eine geschwollene Backe bekommen hatte, einen bösen Blick zu. Der richtete seinen grün-blauen Irokesenschnitt wieder vernünftig her und sah in eine andere Richtung.

Er schämte sich anscheinend dafür, dass ein Mädchen ihn geschlagen hatte.

„Kannste mit den Dingern überhaupt umgehen?“, fragte T-Pain und deutete auf die Messer in ihrer Hand.

Diese verdrehte die Augen und erwiderte schnippisch: „Sonst würde ich sie wohl kaum mit mir rumschleppen, oder?“

Er zuckte mit den Schultern und forderte sie auf: „Zeig' mal, was du kannst!“

„Sollten wir nicht eigentlich längst im Unterricht sein?“, schwenkte Aiko um und verwies auf die Schulglocke, die schon vor zehn Minuten geläutet hatte. Sorrow lachte in seiner üblich schrillen Art auf.

„Bin ich blöd?“, fragte er. Aiko nahm an, dass es eine rhetorische Frage gewesen war, auf die er keine Antwort wollte, obwohl sie ihm zu gerne eine gegeben hätte.

„Wir schreiben jetzt Bio. Wenn ich den wieder verhaue, bekomme ich Null Punkte ins Zeugnis“, erklärte er.

„Bekommst du die nicht sowieso?“, mutmaßte Tyke.

Sorrow überlegte kurz und erwiderte gleichgültig: „Ja, glaube schon. Dann hat es ja erst Recht keinen Sinn, hinzugehen.“

„Was für eine Logik!“, befand Aiko und wandte sich an T-Pain. „Und, gehst du hin?“, fragte sie ihn.

„Nee, lass mal. Die Schobermann kann mir jetzt gerade gestohlen bleiben. Und du kannst auch nicht in die Schule gehen.“

„Warum nicht?“

„Wir kriegen in einer guten Stunde eine Lieferung rein. Hoffe für dich, dass du echt kein Bulle bist. Deine Kampftechnik spricht zwar eindeutig dagegen, aber es kann ja trotzdem sein.“

„Bin ich nicht ein bisschen jung, um jetzt schon Geheimagentin im Drogenmilieu zu werden?“

„Kann ja täuschen.“

„Willst du damit behaupten, ich würde alt aussehen?“, fragte Aiko empört.

„Kommt drauf an.“

„Worauf?“

Sorrow schaltete sich in das Gespräch ein und antwortete an T-Pain's Stelle: „Darauf, ob man nach deiner Oberweite oder nach deinem ziemlich kindlichen Gesicht geht.“

Diesmal duckte er sich unter ihrer Faust weg, ehe die ihn treffen konnte, und hielt ihr Handgelenk fest.

„Du … Arsch!“, zischte Aiko sauer.

Big Key, der die meiste Zeit irgendwelche Unterlagen geordnet hatte, legte diese nun beiseite und stieß Sorrow weg von ihr.

„Wir haben keine Zeit für Kindereien“, sagte er schroff und packte die Papiere weg.

„Okay, dann lasst uns gehen!“, schlug Tyke vor, froh, dass es endlich losging. T-Pain nickte und sprang von der Mauer herunter. Mittlerweile hatte sich Sorrow wieder aufgerappelt und lief mit Aiko und den anderen aus dem Schultor.

Sie gingen durch die Straßen, die um diese Uhrzeit noch ziemlich leer waren. Nur vereinzelt begegneten sie jemandem, meist Spaziergänger, die sich wohl ihren Teil zu der brutal aussehenden Gang dachten.

Nachdem sie eine Viertelstunde durch den ärmsten Bezirk der Stadt gegangen waren, kamen sie endlich an einem verlassenen Hinterhof an. Aiko empfand die Stille dieses Ort als unheimlich. Eine Weile warteten sie dort.

Dann kam ein Typ in ihrem Alter auf sie zu. Er hatte hellgrau gefärbte Haare und ein Hemd an, das nach Aiko's Geschmack einen Knopf zu viel offen hatte. Sein Gang war lässig, seine Augen glichen der einer Schlange. Sie waren seltsam rot.

Müssen Kontaktlinsen sein., dachte sie.

Der Typ war ihr auf seine Art nicht ganz geheuer. Sie bekam eine Gänsehaut, als er sie auffällig musterte und währenddessen die anderen begrüßte.

„Das ist unsere Neuzugang!“, stellte Tyke sie vor.

„Aiko, das ist Luxury. Er ist der Vollidiot in unserer Gang“, fügte Sorrow mit einem abschätzigen Blick auf Luxury hinzu.

„Noch einer?“, meinte Aiko trocken und ohne jegliche Ironie.

„Süß...“, murmelte der beinahe Silberhaarige und betrachtete sie noch einmal ganz genau.

„Schön, dass wir das geklärt haben“, sagte T-Pain ein wenig genervt und drehte Luxury von ihr weg. „Da. Arbeit“, ergänzte er und zeigte auf einen Lastwagen.

Luxury, vom Körperbau eher mittelmäßig muskulös, stemmte widerwillig eine Kiste von dem Lastwagen herunter, der im Hof stand. Big Key half ihm dabei. Auch Sorrow und Tyke packten mit an, während ihr Boss bloß daneben stand und zusah.

„Jetzt macht schon“, drängte er sie, „Wir haben hier nicht ewig Zeit. Je länger ihr braucht, desto größer ist das Risiko. Außerdem müssen wir die erste Ladung noch heute loskriegen. Na los, bewegt euch!“

Sorrow stapelte ein paar Kisten und sah missmutig zu Aiko hinüber, die neben T-Pain stand und die vier amüsiert beobachtete, wie sie sich mit den schweren Kisten abmühten.

„Hey!“, rief er. „Wie wäre es, wenn Aiko ihren hübschen Arsch auch mal hierüber bewegen und uns helfen würde? Die Arbeit tut sich nicht von alleine!“

T-Pain sah ihn verständnislos an und blaffte: „Jammer hier nicht 'rum wie 'ne Pussy! Das ist ja nicht auszuhalten! Wenn das für dich zu schwer ist, dann kannst du dich gerne ausruhen. Aber nerv' mich nicht!“

Dann drehte er sich zu Aiko und sagte mindestens ebenso barsch: „Und du, du drehst 'ne Runde und stehst Schmiere! Mach dich nützlich, na los!“ Aiko sah es als unnötig an, ihm zu widersprechen und ihn noch wütender zu machen, weshalb sie seinem Befehl folgte und um das Gebäude herumlief.

Sie huschte an der Hauswand entlang wie eine Geheimagentin und hielt Ausschau nach jemandem, der in irgendeiner Weise im Weg sein könnte. Doch das Einzige, was sie sah, waren ein paar Straßenfeger, gelegentlich kamen auch Passanten vorbei. Nur ein Auto beunruhigte sie.

Da sie sich in einer kleinen Nische an der Hauswand versteckt hatte, konnte sie niemand sehen, sie jedoch alles beobachten. Dieses Auto, ein schwarzer Porsche, war vor ein paar Minuten vorgefahren worden, an einen Punkt, von dem aus man bequem in den Hinterhof schauen konnte, wenn man ein paar Spiegel benutzte.

Da bis jetzt noch niemand ausgestiegen war, ging sie davon aus, dass sich der oder die Fahrer noch in dem Wagen befanden. Erkennen konnte sie nichts, denn die Scheiben waren dunkel getönt und verspiegelt.

Um jemanden zu beschatten ist das wohl etwas auffällig., dachte sie. Aber weshalb sollte das Auto sonst dort stehen? Vielleicht ist der Fahrer ja auch nur irgend so ein Idiot, der schwarze Autos mit verspiegelten Fenstern total cool findet und gerade eine Stadtkarte auf dem Schoß hat, weil er sich verfahren hat. Oder die Polizei hält uns wirklich für extrem bescheuert und unvorsichtig. Vermutlich eher Letzteres...Wir werden ja sehen...

Sie überlegte, was nun zu tun wäre. Wenn sie ihre Stellung aufgab, um T-Pain Bescheid zu geben, würde sie Gefahr laufen, entdeckt zu werden.

Außerdem würde der Fahrer sofort wissen, dass er bemerkt worden war. Nach einigem gedanklichen Hin und Her entschloss sich Aiko zu einem ziemlich ungewöhnlichen und riskanten Schritt.

Sie ging aus der Deckung und lief auf das Auto zu. Mit den Sachen, die sie trug, und mit ihrem allgemeinen Erscheinungsbild würde niemand auf die Idee kommen, dass sie zu der Bande gehörte.

Ein weißes Sonntagskleid gehörte nun wirklich nicht zu dem typischen Kleidungsstil eines Drogendealers, und wenn sie ihren Unschuldsblick aufsetzte, würde er schon keinen Verdacht schöpfen. Im Notfall würde sie mit ihm kämpfen, das wäre auch kein Problem.

Also klopfte sie an die Scheibe und lächelte freundlich. Erst, nachdem sie länger als normal dagegen geklopft hatte, kurbelte der Fahrer die Scheibe ein winziges Stückchen herunter. Sie konnte nicht sehr viel erkennen.

„Was?“, ranzte sie der Sonnenbrillenträger im Innern des Wagens an. T-Pain und er hätten sich sicher gut verstanden, dachte sie.

„Entschuldigen Sie, dass ich störe, aber ich wollte zum örtlichen Chor gehen, und jetzt weiß ich aber gar nicht, wo die Kirche ist! Könnten Sie mir da vielleicht aushelfen?“, fragte sie höflich.

Der Typ im Auto schien nicht sehr erfreut zu sein, dass sie hier war. Einen Stadtplan hatte er auf jeden Fall nicht auf dem Schoß, wie sie bemerkte.

„Ich bin selbst nicht von hier“, erwiderte er desinteressiert. Eine männliche Stimme vom Beifahrersitz, die wesentlich freundlicher klang als die des Fahrers, mischte sich ein.

„Sei doch nicht immer so scheiße zu allen! Hey, Kleine, ich erklär's dir. Warte kurz.“

Die Beifahrertür öffnete sich. Von drinnen konnte Aiko deutlich ein „Bist du denn verrückt?“ des Fahrers hören, doch der junge Mann stieg ungeachtet dessen aus dem Auto.

„Also, du gehst da entlang, dann die nächste Straße rechts, dann dem Straßenverlauf folgen und dann dürftest du am Kirchplatz sein. Hast du das verstanden, Süße?“, fragte der junge Mann, der höchstens Mitte zwanzig war und sonst sehr durchschnittlich aussah. Sie lächelte und nickte. Plötzlich fasste sie in ihre Tasche und holte ihr Handy hervor.

„Oh nein!“, rief sie, als sie darauf sah.

„Was denn?“, fragte der nette Typ, den der Fahrer dazu bewegen wollte, wieder ins Auto zu steigen.

Für einen Moment fragte sie sich, ob sie zu weit ging. Doch diesen Gedanken verwarf sie gleich wieder und log: „Ich hasse es! Wir hatte doch tatsächlich 'nen Aufsatz in Deutsch auf. Über die Polizei! Und dabei hab ich weder Zeit dafür noch Ahnung von Polizisten!“

Sie seufzte schwer und sah ihn etwas hilflos an.

„Weißt du, ich kenne mich eigentlich ganz gut damit aus, schätze ich. Soll ich dir vielleicht helfen?“

Sie fasste es nicht. Wie konnte man nur so blöd sein, auf so einen uralten Trick hereinzufallen?

„Wir haben allerdings LEIDER keine Zeit mehr!“, knurrte der Fahrer ihn böse an, sodass dieser den Kopf einzog. Anscheinend war der junger Kerl noch nicht sehr lange dabei. Es wunderte sie überhaupt, dass er seinem Vorgesetzten widersprochen hatte.

Gespielt schüchtern nahm sie seine Hand und flüsterte: „Warte bitte!“

Der junge Mann sah sie fragend an.

„Vielleicht … können wir uns ja schreiben...? Ich würde gerne etwas über Polizisten erfahren. Gibst du mir deine Nummer?“, sagte sie so leise, dass der Fahrer es nicht hören konnte. Er nickte grinsend und steckte ihr ein Zettelchen zu.

Oh mein Gott. Wie kann so ein naiver Idiot nur Polizist werden? Hätte nicht gedacht, dass es so einfach wäre..., überlegte sie.

„Dann gute Weiterfahrt!“, strahlte Aiko die beiden an und winkte.

Jetzt haben sie ein Problem. Wenn sie nicht weiterfahren, würde es Aufsehen erregen, weil ich ja hier stehe und darauf warte, dass sie losfahren. Wenn sie wegfahren, dann müssten sie ihre Stellung aufgeben.

Sie werden wohl oder übel auf die andere Seite fahren und sich dort einen Standpunkt suchen. Zwischen dem Hinterhof und der Straße ist allerdings eine so hohe Mauer, dass sie da keinen Posten beziehen können. Tja, Pech gehabt, würde ich mal sagen...

Sie wartete. Nach ein paar Minuten, in denen im Innenraum vermutlich heftig diskutiert wurde, fuhr das Auto dann endlich los. Als der Wagen hinter der nächsten Kurve verschwunden war, rannte Aiko zu T-Pain und den anderen. Die waren inzwischen anscheinend fertig mit der Arbeit und ruhten sich ein wenig aus.

„T? Ich muss dir was berichten!“, rief Aiko und lief zu ihm. Dann erzählte sie ihm davon, was passiert war.

Er nickte und blieb im Gegensatz zu Sorrow ziemlich ernst. Der Punk hinter ihm lachte und meinte: „Guten Geschmack hatte der Bulle ja schon! Aber der muss ja echt übelst dumm gewesen sein! Was für'n Opfer!“

Luxury grinste ebenfalls. Ohne Vorwarnung legte er einen Arm um ihre Taille, zog sie an sich heran und flüsterte ihr ins Ohr: „An seiner Stelle hätte ich auch alles stehen und liegen lassen, um dir den Weg zur Kirche zu zeigen. Leider weiß ich nicht, wo die Kirche hier ist, aber ich kenne ein nettes Hotel hier ganz in der Nähe...Wenn du willst, könnte ich...“

Aiko glaubte, beziehungsweise sie hoffte eher, dass das ein Witz sein sollte.

Was geht denn mit dem?, dachte sie. Der hat's doch echt nötig! Geht’s noch? Das kann der doch nicht einfach so sagen?! Ich hab' mir doch gleich gedacht, dass der nicht ganz koscher ist!

Nachdem sie nicht geantwortet hatte, immer noch schockiert von seiner unglaublichen Dreistigkeit, redete er mit einer Stimme, die wie Honig an einem herunterging, weiter in ihr Ohr: „Komm schon, du musst dich nicht zieren. Ich weiß, was du für eine bist... Kein Grund sich dafür zu schämen...“

So, jetzt reicht's! Ich bring den Kerl um! Ich schlag ihm die Rübe ein! Dieser … Arrrrrgh! Ich mach den sowas von fertig!

Sie kochte vor Wut. Die Außenstehenden beobachteten das Szenario mehr oder weniger amüsiert und warteten darauf, dass Aiko explodierte.

Doch auch wenn sie normalerweise in einer solchen Situation niemand aufhalten hätte können, so hielt sie in diesem Moment tatsächlich etwas in ihr zurück.

Beruhig' dich, verdammt! Du sollst nicht ständig ausrasten! Denk daran, was du ihm geschworen hast! Sei gefälligst freundlich und werd' nicht so schnell wütend! Du weißt doch genau, dass er dich sieht! Er sieht dich! Also stell dich besser an!

„Glaub nicht, es würde mich irgendwie kratzen, was du sagst“, erwiderte sie und kühlte ihr Gemüt stark herunter. Er nahm die Niederlage gelassen hin und startete gleich den nächsten Angriff.

„Tut mir Leid. Hab' ich dich wohl falsch eingeschätzt, Süße. Wärst du eine von der Sorte, hättest du anders reagiert. Ich wollte damit nicht sagen, dass du dich wie ein Mädchen dieser Art kleidest oder verhältst. Es kommt nur heutzutage äußerst selten vor, dass jemand von deiner Schönheit nicht überheblich wird und versucht, mit den bemitleidenswerten Herzen der Männerschaft zu spielen. Du musst wissen, die meisten dieser Frauen glauben doch tatsächlich, eine Trennung würde uns mehr verletzen als sie. Also verzeihe mir meine unüberlegten und vorschnellen Worte. Ich war lediglich ein Opfer dieser weit verbreiteten Vorurteile“, sagte er.

Seine Worte waren sehr gut durchdacht und das wusste Aiko auch. Sie bewunderte es, wie man nur so viel Mist reden und es so schön klingen lassen konnte wie er.

„Boah, jetz' schleim hier nicht 'rum. Ist ja echt das Letzte“, kam es von Sorrow. „Wenn du jetz' schon geblickt hast, dass sie 'ne Schlampe ist, dann bleib wenigstens auf dem Kurs und laber' keinen Scheiß, bloß weil du gemerkt hast, dass ihr das voll peinlich ist.“

„Okay, jetzt mache ich ihn fertig!“, rief Aiko sauer und ging auf Sorrow los.

Die beiden lieferten sich einen filmreifen Kampf, in dem er sich überraschend wendig unter ihren wütenden und unkontrollierten Tritten und Schlägen hinweg duckte. Letztendlich war es jedoch, als würde er gegen eine übermächtige Naturgewalt kämpfen, die ihn trotz allem Widerstand irgendwann niederrang.

Aiko gewann und drückte ihn gegen die Hauswand. Ihr Blick war eiskalt und zielgerichtet. In ihrer Rage zog sie eines ihrer Messer hervor und hielt es ihm an den Hals.

„Wenn du diesen Tag überleben willst, dann bettle!“, flüsterte sie bedrohlich.

Sorrow schien tatsächlich sehr eingeschüchtert zu sein und hätte sicher getan, was sie gesagt hatte, doch Big Key verhinderte dies. Er nahm ihr das Messer aus der Hand und sah sie kopfschüttelnd an.

„Solche Kindereien. Du hättest ihn damit ernsthaft verletzen können. Dinge wie diese sind in unserer Gang nicht gestattet, zumindest nicht aus einem solch niederen Grund wie einem Scherz. Das nächste Mal...“, erklärte Big Key mit strafendem Blick.

„...wird es nicht geben“, ergänzte Aiko mit gesenktem Kopf.

„Und was dich angeht, Sorrow,“, fuhr er fort, „du solltest aufhören, sie zu verärgern. Mir scheint, als hätte sie ein sehr hitziges Temperament. Hör auf, dich wie ein Kleinkind zu verhalten und lass alle niveaulosen Witze über sämtliche ihrer weiblichen Attribute oder die umstrittene Vermutung, sie würde zu der selben Sorte wie deine zahlreichen Frauenbekanntschaften, oder zumindest wie jene, die du vorgibst gehabt zu haben, gehören. Verstanden?“

Sorrow hatte anscheinend einen großen Respekt vor Big Key, wie ihn alle zu haben schienen. T-Pain nickte zufrieden.

Sorrow nickte ebenfalls, um Big Key seine Reue zu zeigen. Aiko seufzte schwer.

„Sollten wir jetzt nicht besser das ganze Zeug wegbringen?“, fragte sie.

„Ich denke, das ist eine sehr gute Idee. Also, auf Jungs! Es gibt was zu tun! Los!“, rief T-Pain.

Stöhnend und maulend machten sich Sorrow, Tyke und Luxury wieder an die Arbeit.Später, als sie endlich mit dem Beladen fertig waren, setzte sich Big Key in den Lastwagen und fuhr ihn in einem rasanten Tempo davon.

„Hey, Kleines!“, rief Luxury ihr zu, nachdem alle ihrer Wege gegangen waren und Aiko auch gerade aufbrechen wollte.

„Hast du ein paar Minuten Zeit?“, wollte er wissen.

„Nee, sorry. Mein Freund wartet auf mich“, sagte sie scharf mit Betonung auf dem Wort „Freund“.

Luxury zeigte sich unbeeindruckt davon.

„Kriege ich deine Handynummer?“, fragte er, ohne auf ihre Antwort einzugehen. Sie lachte.

„Was willst du denn bitte mit meiner Handynummer? Ich sagte doch gerade, dass du keine Chance hast! Zugegeben, du bist echt hartnäckig, aber meine Antwort ist: Vergiss es“, erklärte sie eindeutig, aber gelassen.

„Du sagtest mit keinem Wort, dass du kein Interesse hast. Bloß, dass du einen Freund hast, aber das muss uns beide ja nicht daran hindern, oder, Süße?“, erwiderte er sehr von sich überzeugt.

Sie seufzte und wiederholte noch einmal: „Ich sagte nein, und dabei bleibt es. Ich bin nicht dein Typ, okay?“

„So würde ich das nicht sagen. Du bist exakt mein Typ.“

„Dein Typ ist Single. Ich nicht.“

„Nicht zwingend. Ich habe kein Problem damit, wenn du einen anderen hast. Ich will dir doch nur zeigen, was richtiger Spaß ist.“

„Schon klar. Ich will es aber nicht wissen. Nicht von dir.“

Mit diesen Worten drehte sie sich um, winkte ihm kurz und ging erhobenen Hauptes davon.

Sie werden dich niemals bekommen. Kein anderer wird dich bekommen. Denn dein Schwur gilt bis zum Tage deines Todes. Bis zu jenem Tag, an dem seine Welt zusammen mit deiner zerbrechen wird.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  SailorCherryknoedel
2011-07-03T15:34:23+00:00 03.07.2011 17:34
Und wieder spürt man dein Auge fürs Wesentliche. Alltägliche Themen sind dein Ding! Magst du zufällig Loriot? Bei dem ist das auch oft so. ^^

Auch Personen beschreibst du gut.Eben nicht zu viel, sondern gerade viel genug!


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