Erste Momente
»Machst du hier Urlaub?«
»N-Nein. Leider nicht… Es ist schön hier.«
»Ja, das ist es! Was machst du denn stattdessen?«
»Äh… Also… Es ist eine Ge-… Es ist eine Geschäftsreise.«
Du siehst ihn überrascht an. Er hat lang gebraucht, um das Wort richtig auszusprechen, vielleicht meinte er ja eigentlich was anderes… »Wie alt bist du denn?«, fragst du skeptisch.
»Eh. Sechsund-… Sechzehn.«
Du kannst dir nicht helfen, du findest es unfassbar niedlich, wie er alle zwei Worte zögert, weil sein Italienisch holpert. Dabei fandest du die Sprache immer unglaublich einfach – vor allem im Vergleich mit allen anderen, die du lernen solltest.
»Und mit sechzehn macht man schon Geschäftsreisen? Wo arbeitest du denn?« In Asien war ja bekanntlich alles anders. Vielleicht war das der Grund.
Mit einem Mal sieht der Junge, dessen Namen du noch gar nicht weißt, völlig panisch aus, beginnt, mit den Armen zu wedeln und schüttelt stammelnd den Kopf. Okay. Vielleicht meinte er ja doch etwas anderes. Oder ihm fällt mal wieder das italienische Wort nicht ein. Oder seine Arbeit ist ihm einfach extrem peinlich.
Du lächelst ruhig und machst eine wegwerfende Handbewegung. »Macht nichts, lassen wir das Thema«, sagst du einfach, was ihn sehr zu erleichtern scheint.
Deine »Mutter« hat dir beigebracht, stets nett und höflich zu sein. Auch, wenn du wohl die einzige aus diesem Haushalt bist, die dieses Prinzip auch wirklich ausführt.
»In Palermo verläuft man sich schnell«, sagst du irgendwann, während ihr noch immer durch die typisch italienischen, engen Gassen schlendert und deine Finger vom mittlerweile aufgegessenen Eis kleben. Eigentlich wolltest du den Jungen damit beruhigen, aber es scheint nicht wirklich zu klappen. »Von wo bist du denn losgegangen?«
Seine Wangen werden knallrot und er kratzt sich im Genick. »Äh… Eigentlich bin ich vom Hotel aus losgegangen… Ich sollte… wollte spazieren gehen und dann hab ich nicht mehr zurückgefunden…«
Er grinst schüchtern und du gluckst. »Das muss dir nicht peinlich sein«, sagst du fröhlich. »Als ich klein war, hab ich mich hier auch dauernd verlaufen!«
Dass der Satzanfang Als ich klein war ihn womöglich noch mehr in Verlegenheit bringen könnte, fällt dir erst ein, als du schon geendet hast. Er wird noch röter, du auch ein bisschen, und dann hältst du lieber die Klappe.
Irgendwann schlägst du eine Abkürzung ein, die ein bisschen mehr über Gras und Steine geht, und bereust es nach wenigen Minuten. Der Junge stolpert ständig, und du findest es zwar sehr amüsant, aber er tut dir ein bisschen leid, weil ihm nun mal alles peinlich ist.
Letztendlich schafft ihr es aber unbeschadet zum Hilton Hotel und du kommst vor der Eingangspforte zum Stehen.
»Vielen, vielen Dank«, sagt er, verbeugt sich ganz in asiatischer Manier und klingt, als hättest du ihm das Leben gerettet. »Kann ich irgendwas tun, damit…?«
Du schüttelst den Kopf und schiebst grinsend die Hände in die Hosentaschen. »Lass stecken«, sagst du – und stellst fest, dass Tsuna diese Redewendung nicht versteht. »Ist schon gut. Ich hatte sowieso nichts zu tun und ich freu mich, wenn ich jemandem helfen kann. Viel Erfolg noch auf deiner Geschäftsreise!«
Du gluckst, er gluckst ebenfalls, und dann dreht er sich zögernd um und erklimmt den weiten, ausgeschmückten Weg zur Fronttür des Hotels.
Er sieht verloren aus. Und irgendwie genauso niedlich wie die ganze Zeit vorher. Du grinst in dich hinein und schüttelst den Kopf, bevor du dich abwendest. Solche Menschen triffst du selten. Gerade heute war dieser Junge eine willkommene Abwechslung.
Als du an der hohen Mauer des Hilton-Hotels entlang deinen Weg zurück nach Hause antrittst, hörst du jemanden vom Hof aus ein erleichtertes »JUUDAIME!« brüllen.
Du gehst noch eine Straßenecke weiter, bis dir auffällt, dass das ja tatsächlich Japanisch ist und »Zehnter« bedeutet.
