Verheilen
Tsuna, der neben dir aus dem Schlaf hochgeschreckt ist, sieht sich desorientiert im Auto um, während du dich nur langsam aus der Trance löst, die Lussurias ungewohnte Ruhe verursacht hat. Du beachtest ihn erst wieder, als er lang ausatmet und sich zurück in die weiche Rückenlehne des Sitzes fallen lässt, als sei der vergangene Schlaf eine der anstrengendsten Tätigkeiten seines Lebens gewesen.
Stirnrunzelnd beobachtest du ihn dabei, wie er eine Hand auf seine Stirn legt, sich dann damit durch die Haare fährt und ein weiteres Mal tief durchatmet.
»Alles in Ordnung?«, fragst du vorsichtig.
»Ach, ich…«, sagt Tsuna prompt und bricht wieder ab, reibt sich die Augen und gluckst dann verloren. »Ich hab eben nur schlecht geträumt. Ziemlich schlecht.«
Du verziehst das Gesicht. »Von… Von den letzten Tagen?«
Tsuna nickt klamm, den Kopf nach hinten gelegt und den Blick nach vorn gerichtet. Du presst die Lippen zusammen. Ihr hattet keine Zeit, das ganze Ausmaß des Geschehens zu erfassen. Ihr musstet bangen, ihr musstet rennen, ihr musstet überleben. Und nun wird es nicht mehr lang dauern, bis alles auf euch niederprasselt. Letztendlich hat es alles mit Kyokos Tod begonnen, was die Verarbeitung nicht wirklich erleichtern wird.
Du streckst einen Arm aus, weil du nach Tsunas Hand greifen willst, doch er sitzt zu weit weg und bemerkt deine Bewegung nicht einmal. Eine Sekunde lang sitzt du bloß seltsam mit ins Leere greifendem Arm dort, dann lässt du ihn wieder sinken. Schließlich schnallst du dich einfach ab, rutschst über die Sitzbank, bis du direkt neben Tsuna bist, und legst ohne Vorwarnung einen Arm um seine Schultern, um ihn an dich zu drücken.
Du spürst ihn unter deinen Fingern zusammenzucken, doch gleich im nächsten Moment lehnt er sich an dich und seufzt leise auf.
»Noch ein Trauma auf der Liste«, murmelt er in dein schmutziges Shirt.
Du gluckst trocken. »Ja, sieht so aus«, sagst du leise und streichst vorsichtig mit den Fingern über seinen Arm. »Aber wir sind noch verdammt gut weggekommen. Und… Jedes vorige Trauma hast du doch auch irgendwie weggesteckt, oder?«
»Irgendwie«, antwortet er dumpf. »Ich weiß nicht, wohin ich das alles weggesteckt hab. Vielleicht kommt es irgendwann doch alles wieder… Nein; nein, wahrscheinlich nicht. Es ist… wirkt dieses Mal nur schwerer. Schwerer als sonst.«
»Ich weiß.« Plötzlich ist deine Stimme nur noch ein Flüstern. »Ich weiß.«
Es ist anders. Es ist nicht Tsuna, der zehnte Vongola-Boss, der auszieht, um die Menschheit zu retten, und die Varia, die ihn dabei ein bisschen unterstützt. Es ist Tsuna, ein Teenager, der einen Todesfall verkraften muss, der entführt wird und um ein Haar schon wieder jemanden verliert, den er liebt, nur knapp entkommt und dann fast vor Erschöpfung verreckt. Es ist anders als sonst. Es ist schwerer als sonst.
Ein weiteres Mal streichen deine Fingerkuppen über Tsunas Arm, der übersät ist von kleinen und großen Kratzern, die von eurer Odyssee durch die Wildnis stammen. Du siehst nicht anders aus. Tatsächlich wirkt ihr beide, als hättet ihr euch mit einer Horde Wildkatzen geprügelt.
»Hast du noch Schmerzen?«, fragst du leise.
»Kaum«, antwortet er. »Ich glaube, ich bin zu müde dafür…«
Du lächelst gequält. »Siehst du, es wird schon weniger. Die Schmerzen gehen zurück, dann verschwinden die Wunden, und am Ende bleibt nichts übrig, allerhöchstens hier und da eine kleine Narbe. Wir werden verheilen, Tsuna. Wir werden beide wieder verheilen.«
Er drückt sich an dich, doch nur wenige Sekunden lang. Dann legt er die Hände an deine Schultern und drückt sich etwas von dir weg, und du fürchtest, etwas falsch gemacht zu haben, bis du den Blick in seinen Augen siehst.
Er nennt deinen Namen. Er klingt anders als vorher. Entschlossener? Ja – er klingt entschlossen.
»Es ist Zeit, dass ich dir etwas sage«, sagt Tsuna.
