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Memori3s

von

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Das kurze Leben der Hitomi Ito

Es wird das letzte Mal sein.

Das hatte er sich schon so oft gesagt.

Aber so oft er es auch in Gedanken wiederholte, so konnte er sein sich selbst gesetztes Ultimatum nie einhalten, geschweige denn die Worte ihr gegenüber aussprechen. Doch diesmal würde er sich gegen sein Verlangen durchsetzen, das hatte er sich vorgenommen. Seine Sehnsucht lachte ihn höhnisch aus. Als ob…

Seufzend richtete sich Zeus auf und knöpfte sich sein Hemd zu. Diese Liegen waren das unbequemste, was er je zugesicht bekommen hatte, aber mit der Zeit gewöhnte man sich ja irgendwie an alles. Mit der Zeit…- der Gedanke ließ ihn kurz innehalten. Wie lange ging dieses Schauspiel hier eigentlich schon? Zur Empörung seines Gewissens hatte er darauf keine Antwort- er wusste nur, dass der Satz „es wird das letzte Mal sein“ ihm schon zu oft in den Sinn gekommen war.

Hitomi setzte sich ebenfalls auf, schlang ihre Arme von hinten um seinen Hals und küsste ihn sanft in den Nacken. „Willst du schon wieder gehen?“

„Du hast doch Dienst.“, erwiderte Zeus lächelnd. „Es fällt auf, wenn du zu lange wegbleibst.“

Er spürte, wie sie die Lippen zu einem breiten Grinsen verzog.

„Das hat dich doch sonst auch nie gestört.“, gab Hitomi zurück. Ihre Küsse wurden immer verspielter und neckender, dass Zeus bald ein wohliger Schauer den Rücken hinunter rann, der es ihm zunehmend schwieriger machte, klar zu denken. Er gab sich einen Ruck, löste sich aus Hitomis Umarmung und stand auf. Mit einem Blick, der sich in Verwunderung und Enttäuschung aufspaltete, sah Hitomi ihm einen Moment lang dabei zu, wie er weiterhin seine Kleidung anzog und richtete, dann wurde ihr die Stille zu unangenehm. Besorgt legte sie die Stirn in Falten.

„Was ist los? Du bist… irgendwie verändert heute.“

Zeus hörte auf, sich durch die zerzausten Haare zu fahren und sah für endlos lange Sekunden in ihre blauen Augen. „Das gerade war das letzte Mal.“, brachte er dann schließlich widerwillig über die Lippen. „Wir sollten uns in Zukunft nicht mehr treffen, Hitomi.“

Kurz sah er Verwirrung in ihrem Gesicht aufblitzen, doch dann machte sich schockierte Erkenntnis in ihrem Blick breit. Fahrig strich sie sich eine Strähne hinters Ohr und sah zu Boden.

„Hat Hideki etwa von uns erfahren?“

Der Blasse schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich will unser Glück nicht weiter herausfordern und abwarten, bis er Wind davon bekommt.“

Für Augenblicke sagte niemand etwas, dann zog auch sie sich, von einem langen Seufzen begleitet, an. „Warum erzählen wir es ihm nicht einfach?“, fragte sie ihn dann irgendwann nebenbei. „Ich hätte kein so schlechtes Gewissen mehr und er würde es bestimmt verstehen…“

Stirnrunzelnd sah Zeus zu der Blonden herüber, die gerade dabei war, ihre langen Haare wieder in einem Pferdeschwanz zu bändigen. „Glaubst du das allen Ernstes?“, entgegnete er ungläubig. Hitomi hielt inne und musterte ihn eindringlich. Sie schien über seine Worte lange nachzudenken, dann verzog sich ihr Gesicht auf einmal in leichtem Zorn.

„Ich bin nicht sein Eigentum!“, sagte sie aufgebracht, worauf Zeus jedoch nur mit einem mitleidigen Blick antwortete.

„Nein? Versprichst du mir das?“

Ihr Zorn wuchs weiter an. Was sollte das nun schon wieder? Manchmal verstand sie diesen Mann einfach nicht. Sobald es um das Verhältnis zwischen ihr und Hideki ging, schienen bei Zeus die Alarmleuchten anzugehen. Sie versuchte ihre langsam auflodernde Wut in eine Ecke zu verdrängen und sachlich über die Situation nachzudenken. Für einen Moment die Augen schließend, versuchte sie sich zu sammeln und rutschte dann von der Krankenliege runter, um auf den Schwarzhaarigen zuzugehen, der in diesem Moment nach seinem Gepäck griff, das in dem ganzen stürmischen Durcheinander zu Anfang unsanft auf dem Boden neben der Tür gelandet war. Er hatte ihr erzählt, dass er schon seit längerem Kendounterricht nahm, deshalb war der Anblick dieses eingepackten Schwertes keine große Überraschung mehr für sie. Hitomi hielt zwar recht wenig von diesen ganzen Kampfsportarten, aber sie hatte schließlich ja kein Recht dazu, ihn in dieser Sache zu belehren.

„…warum machst du dir überhaupt so viele Sorgen?“, sprach sie ihr Unverständnis aus. „Es geht doch Hideki nichts an, was wir tun…“

„Wir sind seine besten Freunde, wir können ihm so etwas nicht antun.“, erwiderte Zeus sofort und wich ihrem nach Antworten verlangenden Blick aus.

„Wieso antun?“, rief sie ungläubig und schüttelte den Kopf. „Du kannst dich doch nicht nach ihm richten, wen du liebst und wen nicht!“

Zeus bedachte sie mit einem langen Blick, den sie nicht zu deuten vermochte, dann stahl sich wieder dieses Lächeln auf seine Lippen, bei dem sich Hitomis Nackenhaare aufstellten. Mitleid, das einem kleinen Kind für seine noch naiven und unwissenden Aussagen geschenkt wurde…

„Du glaubst wirklich, dass das zwischen uns etwas mit Liebe zu tun hat?“, begann er und Hitomi fühlte sich, als hätte man sie in Eiswasser getaucht. Sein Gesicht zierte immer noch der gleiche Ausdruck, als er nun auf sie zukam. Sie wäre am liebsten vor ihm zurückgewichen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht, schienen am Boden fest zu kleben.

„Seien wir doch ehrlich zueinander- das zwischen uns ist keine Liebe… es ist mehr eine gegenseitige körperliche Zuneigung, oder?“

Hitomi schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals an. „… und wenn ich dir sagen würde, dass ich mich in dich verliebt habe?“, hauchte sie leise. Sie wollte es wütend klingen lassen, doch war ihre Stimme ungewollt ins Verzweifelte übergeglitten. Zeus stand nun direkt vor ihr und endlich verblasste dieses verhasste Lächeln. Sanft, als habe er Angst, sie könne unter seiner Berührung zerbrechen, legte er seine Hände gegen ihre Oberarme.

„Dann würde ich dich bitten, dich nicht selbst zu belügen.“, flüsterte er genauso leise. Ein flehendes Stirnrunzeln verunstaltete sein nahezu perfektes Gesicht und ihre Welt schien für einen Moment lang nur noch aus seinem Antlitz zu bestehen. „Versuch mich bitte zu verstehen, Hitomi. Ich will mich nicht irgendwann zwischen dir und Hideki entscheiden müssen. Meine Freundschaft zu euch beiden ist mir wichtiger als irgendeine kopflose Begierde oder heimlicher Sex.“

Die Worte rüttelten Hitomi wieder wach, ließen sie wieder klar denken. Hatte sie tatsächlich verloren? Gegen ihren besten Freund? Kopfschüttelnd entrang ein hartes Lachen ihrer Kehle.

„…wenn man dich so reden hört, könnte man glatt denken, dass du mit Hideki verheiratet seist.“, entgegnete sie mit leichten Sarkasmus und ging ein paar Schritte rückwärts. Zeus machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Stattdessen legte sich auch auf seine Lippen wieder ein kleines, belustigtes Schmunzeln.

„Ich habe mich im gewissen Sinne tatsächlich unwiderruflich an Hideki gebunden…“, gab er zu.

Ungläubig zog sie eine Augenbraue hoch. „Durch eure Arbeit?“

„Das könnte man so sagen.“

Seufzend schüttelte Hitomi wieder den Kopf. „Du stellst also deine Arbeit wirklich über deine Gefühle?“

Sein jungenhaftes Schmunzeln wuchs an und wieder verringerte er unauffällig seine Distanz zu ihr. „Genau um mir diese Frage nicht stellen zu müssen, beende ich das hier und jetzt-“, sagte er leise. „und im Übrigen: welche Gefühle? Ich sagte doch bereits, dass das zwischen uns mit nichts dergleichen zu tun hatte.“ Noch nicht, fügte er in Gedanken für sich selbst hinzu und hoffte, dass diese Tatsache vor ihr verborgen blieb. Er hatte gemerkt, wie schwer es ihm in letzter Zeit fiel, in ihrer Nähe sein Innerstes nicht offen darzulegen…

Hitomi schlang die Arme um sich und sah ihm tief und anklagend in die dunklen Augen. „Das ist sehr kaltherzig von dir…“

Wieder lachte er kurz und traurig. „Du wirst mir irgendwann nochmal dafür danken, glaub mir. Ich bin nicht derjenige, dem du diese berühmten drei Worte sagen solltest.“

Schuldbewusst schlug sie die Augen nieder. „Du sprichst… von Hideki, oder?“, sprach sie zögernd ihre Vermutung aus, doch Zeus schüttelte nur weiterhin lächelnd den Kopf.

„Ich spreche von niemandem. Wir haben dich beide nicht verdient.“

Ehe Hitomi etwas erwidern konnte, hatte Zeus sich leicht zu ihr hinunter gebeugt, als wolle er sie küssen und ihr Atem stoppte augenblicklich. Sie rührte sich nicht, sah ihm nur in die Augen und wartete, doch bevor seine Lippen ihre berührten, hielt er zögernd inne. Ihre Blicke trafen sich- hell flackernde Sehnsucht sah in unterdrückt glimmende- dann wich Zeus ihrem aus und zog sich, die Lippen hart aufeinander gepresst, vor Hitomi zurück. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, schloss die Tür auf und verließ das Behandlungszimmer.

Hitomi stand wie zu Stein geworden da und sah auf das Loch in der Wand, durch das der Blasse verschwunden war. Erst Sekunden später zwang ihre brennende Lunge sie wieder zum Atmen und zitternd tastete sie hinter sich nach der Kante der Liege, um sich dort abzustützen. Sie konnte nicht beschreiben, was sie fühlte. Wut? Trauer? Verzweiflung? Enttäuschung kam ihr in den Sinn, doch auch das wollte nicht so recht passen. Hitomi lehnte sich gegen das harte Gestell und fuhr sich durch ihr fahl gewordenes Gesicht.

„Er hat Recht…“, murmelte sie zu sich selbst und sah auf ihre zitternden Hände hinab. Es war töricht von ihr gewesen, ernsthaft zu glauben, dass mehr als nur körperliche Anziehung hinter diesen heimlichen Treffen gesteckt haben könnte.

Er liebte sie nicht und sie liebte ihn nicht.

Der Einzige, der hierbei zu Schaden gekommen wäre, war Hideki und auch da musste sie ihm zustimmen; sie wollte und konnte ihre Freundschaft, sowohl zu Hideki, als auch zu Zeus, nicht wegen einer Begierde aufs Spiel setzen. Es war absurd gewesen, zu hoffen, dass Hideki eine Beziehung zwischen ihr und Zeus akzeptiert hätte; natürlich hätte er das nicht, dafür kannte sie ihn viel zu gut.

Sie liebte ihn nicht und er liebte sie nicht.

Sie konnte und musste auf ihre Treffen verzichten- ansonsten würde sie riskieren, ihre beiden Freunde zu verlieren. Das war keine Liebe gewesen, das hatte sie irgendwo schon immer gewusst, jedoch nie wahrhaben wollen. Tränen tropften in ihre Handflächen. Zornig ballte sie diese zu Fäusten.

„Hör auf zu heulen!“, fuhr sie sich erstickt an und kniff die brennenden Augen zusammen. Doch es half nicht. Die restlichen dreieinhalb Stunden ihrer Schicht verbrachte Hitomi damit, sorgfältig und übertrieben häufig nach ihren schlafenden Patienten zu sehen und ihrer Kollegin und ihren misstrauischen Fragen so aus dem Weg zu gehen.
 

Es war heiß in ihrem Zimmer, trotz der Klimaanlage, die leise vor sich hin surrte. Sie hatte sich schon lange an das Geräusch gewöhnt und in gewisser Hinsicht war es sogar ganz beruhigend; nur heute Nacht wollte sie partout keinen Schlaf finden. Seit Tagen kratzte das Außenthermometer an ihrem Fenster an der 40°C- Marke und der Wetterbericht hatte vorausgesagt, dass diese Hitze mindestens bis zur nächsten Woche anhalten sollte. Unruhig wälzte sich Hitomi auf die andere Seite. Ihr dünnes Nachthemd klebte an ihrem Rücken und ihr Kissen fühlte sich klamm und unangenehm feucht an- aber vielleicht es auch einfach nur sie selbst, die vom bloßen Liegen in Schweiß gebadet war. Sie hasste den Hochsommer…

Dann endlich, nach gefühlten Tagen des Herumliegens, verfiel sie zumindest in einen leichten Dämmerschlaf; die Müdigkeit, die sie schon seit gestern verspürte, hatte endlich ihren Tribut erhalten. Doch lange währte man ihr die Erholung nicht.

Die Bodendielen knarrten unter dem Gewicht einer herannahenden Person und erschrocken riss Hitomi die Augen auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich abrupt aufrichtete und in die Dunkelheit starrte. Nur zwei Meter von ihrem Bett entfernt stand tatsächlich jemand. Sie versuchte die letzte Müdigkeit wegzublinzeln, die das Adrenalin vergeblich aus ihrem Körper hatte jagen können. Es verstrichen einige Sekunden, in denen ihr in Alarmbereitschaft versetzter Verstand sie die schlimmsten Horrorszenarien durchspielen ließ, ehe sie endlich Hideki in dem schattenhaften Umriss erkannte. Erleichtert atmete sie aus und sofort kroch die Müdigkeit zurück in ihre Glieder.

„Hideki…“, begann Hitomi und rieb sich gähnend über die Augen. „Was ist los?“

Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht genau erkennen, dennoch glaubte sie weder ein besorgtes Stirnrunzeln, noch ein verängstigtes Aufeinanderpressen der Lippen bei ihm zu entdecken- im Gegenteil: Hideki schien sie sehr neutral, beinahe emotionslos, anzusehen.

„Entschuldige… habe ich dich geweckt?“, fragte er nach ein paar Sekunden verspätet. Seine Stimme war dabei ungewöhnlich tief und klanglos, als habe er im Schlaf gesprochen. Hitomi sah ihn kurz fragend an, dann schüttelte sie seufzend den Kopf und zwang sich zu einem beruhigenden Lächeln. „Nein… schon gut, ich habe eh die ganze Nacht wachgelegen. Diese Hitze ist unerträglich.“

In dem Licht, das draußen vom Flur her in ihr Zimmer flutete, konnte sie erahnen, dass Hideki die Mundwinkel zu einem Lächeln anhob, das weit entfernt von jeglicher Freude oder gar irgendeiner anderen Emotion zu sein schien und Hitomi stutzig machte. So kannte sie ihn überhaupt nicht. Kurz überlegte sie, ob er vielleicht wieder Streit mit Zeus oder Stress auf der Arbeit gehabt haben könnte, doch da riss sie Hidekis unheimlich monotone Stimme wieder aus ihren Gedanken.

„Das finde ich auch…“, pflichtete er ihr verspätet bei. „Komm, steh auf. Ich möchte dir etwas zeigen.“

Verwirrt sah sie auf ihren Wecker und dann wieder stirnrunzelnd in sein Gesicht. „Jetzt? Mitten in der Nacht? Kann das nicht bis Morgen warten?“

Doch Hideki schüttelte nur langsam mit dem Kopf und sein mechanisches Lächeln mutierte zu einem Grinsen, das sie an das Zähneblecken eines Hundes erinnerte. „Nein, ich will es dir jetzt zeigen. Komm schon, es wird nicht lange dauern…“

Augenblicklich wurde sie wieder von diesem unwohlen Gefühl gepackt, das ihr Herz umklammerte und ihren Verstand mit skurrilen und absurden Bildern fütterte, bis in ihrem Körper jede Faser, jeder Nerv nur noch einen Satz schrie: Geh nicht!

Empört schob sie die warnenden Gedanken zur Seite. Was sollte das? Es war Hideki, verdammt! Warum hatte sie auf einmal so eine unbegründete Angst vor ihm?

„Was möchtest du mir denn zeigen?“, fragte sie erneut gähnend- vielleicht bekam sie ihn ja doch noch dazu überredet, diese merkwürdige Aktion auf den nächsten Tag zu verschieben…

Hidekis Grinsen nahm zu. „Das ist eine Überraschung.“

Hitomi musterte ihn noch einen Augenblick lang verwundert, dann gab sie sich einen Ruck und stand seufzend auf. Manchmal war dieser junge Mann wie ein kleines Kind.

„Na schön, ich zieh mich nur eben kurz an…“
 

Zehn Minuten später saß sie in seinem Wagen und kämpfte immer noch gegen die Müdigkeit an. Schlaftrunken schaute sie aus dem Fenster und beobachtete die wenigen Leute, die noch um diese Uhrzeit- und vor allem noch unter der Woche- auf den Straßen unterwegs waren. Hideki hatte, seit sie los gefahren sind, kein Wort mehr gesagt. Als er dann nach einer viertel Stunde Fahrt den Wagen auf eine Schnellstraße fuhr, wurde ihr die Ruhe zu dumm. Stirnrunzelnd drehte Hitomi sich zu ihm um. „Verrätst du mir wenigstens, wohin wir fahren?“

Der Blick, der Hitomi traf, als Hideki in diesem Moment flüchtig zu ihr hinübersah, war weiterhin ungewöhnlich kalt und freudlos, trotz des Schmunzelns, das der Braunhaarige in seine Mundwinkel gezerrt hatte.

„Tokyo.“, sagte er knapp, doch dieses eine Wort reichte aus, um Hitomis Gesicht blass werden zu lassen. Schnell sah sie wieder aus dem Fenster und versuchte, das Zittern in ihr zu unterdrücken. Wusste Hideki etwa von ihr und Zeus? War er doch dahinter gekommen und wollte nun sie beide zur Rede stellen? Sie rief ihr klopfendes Herz zur Ordnung und presste die bebenden Lippen aufeinander. Sei nicht dumm! , schollt sie sich in Gedanken, diese Sache liegt nun fast sechs Monate zurück, wieso sollte er ausgerechnet jetzt davon erfahren haben? Hitomi atmete tief ein und wieder aus. Ja, das konnte nicht der Grund für diese nächtliche Reise sein; es war nur ein Zufall, dass Hideki ausgerechnet in die Hauptstadt mit ihr fuhr…

„Alles in Ordnung, Hitomi?“, hörte sie ihn fragen. Ruckartig sah sie auf und schenkte ihm zögerlich ein breites Lächeln, das- so befürchtete sie- alles andere als gelassen aussah.

„Ja, mir geht`s gut.“, erwiderte sie um Frohsinn bemüht. In ihr jedoch war eine alte Angst aufgeplatzt, die tiefe Narben in ihrem Herzen hinterlassen hatte- die Angst vor ihren eigenen Gefühlen, die sie sich nicht zugestehen wollte. Erinnerungen an Silvester schossen ihr durch den Kopf, Zeus` Gesicht, so nah über ihrem, sein Blick, sein Lächeln… Hitomi hätte es niemals für möglich gehalten, dass Küsse so grausame Wunden hinterlassen könnten.

Hideki schien sich mit ihrer Antwort zufrieden zu geben und so konzentrierte er sich wieder schweigend auf den Verkehr; nur sein unheimliches Schmunzeln schien in seinem Gesicht festgefroren zu sein. Sie brauchten nicht einmal eine Stunde bis zu ihrem Ziel und zu Hitomis Erleichterung- und gleichzeitiger Verwunderung- lag dieses keinesfalls in einem Wohnviertel, sondern in einer heruntergekommenen Seitenstraße, die dazu noch schlecht beleuchtet war.

Unsicher stieg Hitomi aus und sah sich um. Die Gebäude, die die schmale Gasse säumten, schienen keine bewohnbaren Häuser zu sein; nach dem Geruch zu urteilen, waren sie in der Nähe eines Hafens, deshalb vermutete sie, dass diese Flachbauten Lagerhallen sein mussten. Sie wusste nicht, wo Zeus genau wohnte, doch sie konnte sich nicht vorstellen, dass er in so einer ungemütlichen Gegend lebte. Ein Teil ihrer Anspannung fiel von ihr ab. Hideki schloss den Wagen ab, dann ging er auf sie zu und deutete die Straße hinunter. „Komm. Wir müssen noch ein Stück gehen.“

Hitomi zog die Stirn kraus. „Du machst es aber sehr spannend…“ Der Braunhaarige antwortete ihr nicht, sondern ging nur schweigend vor ihr her. Die Gasse war nicht sehr lang und als sie in die nächste belebtere Straße einbogen, blieb Hitomi wie angewurzelt stehen.

Leuchtreklamen in grellen Farben und den verschiedensten Formen strahlten von den Fassaden der Häuser hinab und ließen die langgezogene Meile unwirklich und skurril erscheinen. Jung aussehende Frauen standen am schmutzigen Bürgersteig, als posierten sie in eine imaginäre Kamera und immer wieder hielten Autos vor ihnen an, zu deren Fahrern sie dann einstiegen und aus Hitomis Sichtweite verschwanden. Sie wollte ihren Augen nicht trauen.

Hideki bemerkte ihr Zurückbleiben nach einigen Schritten. Er ging wieder auf sie zu, nahm ihre Hand in seine und schenkte ihr ein warmherziges und verständnisvolles Lächeln.

„Hab keine Angst. Dir wird niemand etwas tun.“, sagte er und zog sie mit sich. Hitomis Herz schlug mit jedem Schritt schneller, doch beim Anblick seines Lächelns- die erste, wahre Gefühlsregung von ihm in dieser Nacht- fasste sie ein Stück weit wieder Vertrauen in Hideki, sodass sie bereitwillig folgte und sich schutzsuchend an seine Seite drängte.

„Was wollen wir hier, Hideki?“, fragte sie leise und drehte sich unsicher zu den Fassaden der geöffneten Bars um. „Das… das ist hier ein Rotlichtviertel, oder?“

„Ja, leider.“, seufzte er neben ihr und legte beruhigend einen Arm um ihre Schulter. „Ignorier es einfach.“ Das unwohle Gefühl breitete sich in Hitomi wieder aus. Hideki hätte sich früher nicht einmal in die Nähe eines solchen Ortes getraut und nun ging er wie selbstverständlich an Bordellen und Prostituierten vorbei- und bat sie, das alles zu ignorieren? Die Angst begann ihr erneut Warnungen ins Ohr zu schreien und diesmal spielte sie tatsächlich mit dem Gedanken, ihr nachzugeben und wegzulaufen, und auf einmal kam ihr auch sein wohlgemeinter Arm auf ihrer Schulter wie eine Kette vor, die sie an Hideki band und ihr jede Flucht unmöglich machte.

Und vielleicht hätte sie sich im nächsten Augenblick auch aus seinem Griff raus gewunden und wäre zum Auto zurückgerannt, hätte Hideki nicht in diesem Moment auf ein Gebäude vor ihnen gedeutet. „Wir sind da. Siehst du? Da vorne.“

Unsicher sah Hitomi in die gedeutete Richtung. Sie schaute ein paar Sekunden lang an der schmucklosen Fassade des hohen Gebäudes hinauf, bis sie realisierte, auf was Hideki dort zusteuerte. „Ein… Parkhaus?“, flüsterte sie ungläubig und schaute ihrem Freund fragend in die Augen. „Du wolltest mir ein Parkhaus zeigen?“

Ihr Begleiter schüttelte den Kopf und zwinkerte ihr zu. „Lass dich einfach überraschen, ja?“ Inzwischen standen sie vor der breiten Zufahrt des Parkhauses und Hideki bedeutete ihr mit einer einladenden Handbewegung, vorzugehen. Unbehagen und der Wunsch, von hier wegzugehen, erfüllte sie immer mehr, dennoch kam sie der höflich gemeinten Aufforderung zögernd nach.

Ihre Schritte hallten in einem unheimlichen Echo von den Wänden wider, egal wie vorsichtig sie die Füße aufsetzte. Sie entdeckte kein einziges Auto auf dem Parkdeck, dennoch lag der schwere und beißende Geruch von Abgasen in der Luft, als habe er sich über Jahre hier in den Beton des Gemäuers eingebrannt. Unsicher blieb sie nach wenigen Metern stehen und sah sich zu Hideki um, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht zu ihr aufschloss.

„Was wollen wir hier?“, fragte Hitomi mit leichtem Zorn in der Stimme. Lange würde sie dieses Rätselraten nicht mehr mitmachen! „Warum schleppst du mich in ein verdammtes Parkhaus?“ Unbeirrt ging er schweigend an ihr vorbei und durchschritt mit gemächlichen Schritten das Deck. Der Zorn wuchs weiter in ihr.

„Rede endlich mit mir!“ Eilig schritt sie hinter ihm her und wollte ihn am Oberarm festhalten, als auf einmal seine Rechte an ihr Handgelenk schnellte und so feste zupackte, dass sie erschrocken zusammenzuckte. Für den Bruchteil einer Sekunde spiegelte sich gleißende Wut in seinem hellen Irispaar, die Hitomi bis ins Mark erstarren ließ. So einen Ausdruck hatte sie noch nie in seinen Augen erblickt…

Die hassverzerrte Miene in dem Gesicht des Braunhaarigen währte nur kurz, dann trat dieses aufgesetzte, mechanische Grinsen wieder an dessen Stelle.

„Seit wann bist du so ängstlich?“, fragte er belustigt und ließ ihr schmerzendes Handgelenk augenblicklich los. „Vertrau mir einfach, es wird nichts Schlimmes passieren.“ Er ließ ihr nicht die Zeit, darauf etwas zu erwidern, sondern ging sofort weiter hinein in die schwarzen Schatten des Parkdecks. Für einen Moment blieb Hitomi wie angewurzelt stehen, rieb sich über die pulsierende Stelle an ihrem Handgelenk und sah ihm mit klopfendem Herzen hinterher, dann, kurz bevor er vollkommen in der Dunkelheit verschwand, lief sie ihm wieder nach. Der Ausdruck in seinen Augen wollte ihr einfach nicht aus dem Kopf gehen; er war so unwirklich, so unheimlich gewesen, dass Hitomi sich gerne eingeredet hätte, sich ihn eingebildet zu haben, denn das, was sie dort erblickt hatte, so hoffte sie, konnte unmöglich Hideki gewesen sein…

Der Braunhaarige sah nicht einmal auf, als sie wieder dicht neben ihm ging.

„Dürfen wir überhaupt hier sein?“, flüsterte Hitomi leise und sah sich weiterhin um. Außer nackten Betonwänden und vereinzelten Nummerierungen, die sie in dem flackernden Neonlicht der zum Teil funktionierenden Deckenlampen ausmachen konnte, gab es hier reichlich wenig interessantes, jedoch befürchtete Hitomi immer wieder, dass hinter der nächsten Ecke ein Wächter oder irgendein Betrunkener hervorspringen könnte. Sie hörte Hideki leise lachen.

„Natürlich, warum denn auch nicht? Schließlich gehört uns das Parkhaus doch.“

„…Was?!“, rief Hitomi und blieb erneut fassungslos stehen. „Uns? Du- du meinst Zeus und dir?!“ Sie sah den Braunhaarigen eifrig nicken und ihre Augen weiteten sich im Unglauben. „Aber… woher habt ihr das ganze Geld und- warum kauft ihr ein leer stehendes Parkhaus?“

Hideki zuckte mit den Schultern und grinste. „Es würde jetzt zu lange dauern, das alles zu erklären, aber ich sag dir so viel: Es ist alles geregelt und… irgendwie auch legal.“, schloss er und sein anfängliches Schmunzeln wuchs zu einem belustigten Lachen an, das laut an den Parkhauswänden widerhallte. Hitomi beschloss, lieber nicht weiter nachzufragen, also beließ sie es bei einem ungläubigen Stirnrunzeln.

„Aber… warum kauft ihr ein Parkhaus?“, fragte sie stattdessen noch einmal und wieder zuckte Hideki mit den Schultern, als seien ihre Fragen eindeutige Tatsachen, die man ihr schon hunderte Male erklärt hatte.

„Für unser Projekt.“

„Projekt?“

„Ja. Zuerst haben wir nur einen ruhigen Ort gesucht, wo wir ungestört arbeiten können, aber dann haben wir noch etwas Besseres entdeckt.“, antwortete Hideki und winkte sie aufgeregt zu sich. Erst, als Hitomi bei ihm ankam, bemerkte sie den Durchbruch in der Rückwand des Decks. Er war niedrig und mit scharfen Kanten, als habe ihn jemand mit ein paar kräftigen Schlägen eines Vorschlaghammers in die Wand gerissen. Hitomis Augen weiteten sie vor Staunen und mit vorsichtigen Fingern fuhr sie über den bröckeligen Putz, der unter ihrer Berührung weiter nachgab und in feinen Staub zu Boden fiel. Sie erkannte einen Treppenabsatz direkt hinter der Durchbruchstelle- schmale, grob geschlagene Treppenstufen, die hinab ins Nichts zu führen schienen…

„Kein Mensch wusste, dass hier früher einmal der Eingang zu einer unterirdischen Bunkeranlage gelegen hat.“, erklärte ihr Begleiter weiter interessiert und trat näher an ihre Seite. Ein ungläubiges, kurzes Lachen entrang seine Kehle. „Ist das zu fassen? Nicht einmal die Regierung hat Pläne hiervon und wir sind auch nur durch Zufall darauf gestoßen.“

Hitomi riss sich von dem Loch in der Wand los und sah Hideki fragend in die Augen. „Woher willst du das wissen- ich mein das mit der Regierung?“

„…ich habe mich halt informiert…“, antwortete er schwammig und stieg durch das Loch in der Wand, das so niedrig war, dass er den Kopf einziehen musste, um sich nicht zu stoßen. Er blieb auf der zweiten Stufe stehen und streckte ihr eine Hand entgegen. „Komm, du brauchst keine Angst zu haben. Ich versichere dir, dass dort unten alles begehbar und sicher ist.“

Hitomi sah zögernd an Hideki vorbei in die Dunkelheit, die sich wie ein dunkles Tuch über den Gang zu legen schien, doch dann gab sie sich einen Ruck und griff vorsichtig nach seiner dargebotenen Hand.

Die Treppe war nicht besonders lang, Hitomi zählte zehn Stufen, und zu ihrer Verwunderung brannten auch hier unten nach einigen Metern wieder ein paar kalte Neonröhren von der Decke. Die Luft roch noch abgestandener, als zuvor auf dem Parkdeck, und auch etwas moderig. Immer wieder entdeckte sie kleine Lüftungsschächte an den Wänden und über den unendlich vielen Türen, an denen sie vorbeiliefen und von irgendwoher hörte sie auch das monotone Surren eines Generators. Hier unten gab es funktionierende Stromleitungen? Ob das Hidekis Verdienst war? Aber was, um Himmels Willen, wollten ihre beiden Freunde mit einer alten Bunkeranlage anstellen? Und warum hatte sie bis jetzt davon nichts gewusst?

Sie waren schon ein paar Minuten durch den riesigen Komplex untertage gegangen, als Hideki wieder zu erzählen begann: „Es ist erstaunlich, wie gut hier unten alles erhalten ist. Ich war ja am Anfang noch skeptisch, als Zeus mit der Idee, dieses Parkhaus zu kaufen, anfing, aber inzwischen finde ich, dass wir es besser nicht hätten anstellen können.“ Er sah erwartungsvoll zu Hitomi hinab, die sich bei dem Anblick seiner leuchtenden Augen zu einem Lächeln zwang.

„Das… ist ja alles sehr interessant, aber ich möchte trotzdem lieber gehen, Hideki.“, sagte sie vorsichtig und verlangsamte ihren Schritt. Das Unbehagen kroch stetig in ihr hoch und lange würde sie es nicht mehr unterdrücken können. Hideki schien, wie so oft, ihre Körpersprache und Wortwahl zu ignorieren, und fing wie ein kleines Kind an zu grinsen.

„Oh, du hast ja noch gar nicht das Beste gesehen!“, meinte er aufgeregt und zog sie zu einer der Türen. Bevor Hitomi nachfragen konnte, hatte Hideki die Metalltür aufgezogen und sie in den dunklen Raum hineingeschoben. Voller Vorfreude schaltete er das Licht ein und deutete auf den Gegenstand vor ihnen. „Da! Schau` s dir an!“

Zum wiederholten Mal an diesem Abend spürte sie ihr Herz einen schmerzhaften Satz in ihrer Brust machen. „W… was ist das?“, fragte sie kleinlaut und trat einen Schritt rückwärts. Ihre Angst nahm schlagartig zu. Hideki ging weiter auf den merkwürdigen Stuhl zu und setzte sich auf ihn. Strahlend breitete er die Arme aus

„Das ist eine Maschine, die bestimmte Teile des Gedächtnisses löschen kann- kontrolliert, verstehst du?“ Hitomi schüttelte nur verängstigt den Kopf, doch auch diesmal schien der Braunhaarige ihre Geste absichtlich auszublenden.

„Das hier ist revolutionär!“, begann er wieder und strich andächtig mit der Hand über die Lehne, an der breite Ledermanschetten angebracht worden waren. Hitomi wollte nicht darüber nachdenken, welchen Zweck sie genau erfüllten, der bloße Anblick war schon verstörend genug. „Niemand vor uns hat sowas jemals gebaut- nur mir und Zeus ist das gelungen!“ Er stand auf und ging zurück auf Hitomi zu, die beinahe unbewusst immer weiter in Richtung Tür drängte. „Stell dir vor, du hast etwas Schreckliches erlebt und du quälst dich mit dieser Erinnerung… diese Maschine könnte dir helfen!“ Seine Stimme wurde immer euphorischer. „Verstehst du, was wir damit erschaffen haben? Was ich erschaffen habe? Zeus und dieser Alte haben zwar diese ganzen unverständlichen Theorien aufgestellt, aber ich habe das alles hier erst technisch möglich gemacht.“ Er deutete auf den Stuhl. „Das dort ist mein Werk!“

Hitomi starrte die Maschine an und schüttelte zögernd den Kopf. „Das… das kann doch unmöglich funktionieren…“, entgegnete sie fast flüsternd. Hideki begann zu lachen.

„Und wie das funktioniert! Wir haben sie erst vor kurzem getestet und das Mädchen kann sich an nichts mehr erinnern. Sie lebt jetzt wieder glücklich und ohne Qualen.“ Er machte auf einmal wieder kehrt und ging zurück zu „seinem Werk“. Erneut begann er vorsichtig mit den Fingern über die Rücklehne zu streicheln, als liebkoste er ein Haustier.

„Ich kann Menschen helfen, Hitomi, ich kann ihnen allen helfen! Jeden könnte ich hiermit glücklich machen.“ Er sah von dem elektrischen Stuhl auf und grinste sie mit demselben mechanischen Lächeln vom Anfang an, mit dem er sie geweckt hatte.

„Ich bin ein Gott, Hitomi!“, rief er euphorisch aus und das Grinsen schien sein ganzes Gesicht einzunehmen.

Hitomi spürte ihr Herz rasen. Sie hatte es zuvor, in ihrem Zimmer, durch das Dämmerlicht nicht eindeutig sehen können, doch nun, im hellen Neonlicht, erkannte sie es deutlich: Hidekis Grinsen war keineswegs emotionslos und mechanisch gewesen- das, was sich damals und jetzt wieder in seinem Gesicht abzeichnete, war purer Wahnsinn…

Zittrig schluckte sie gegen das beklemmende Gefühl in ihrer Kehle an. Sie wollte etwas sagen, fand jedoch keine Worte für das alles, für ihre vielen Emotionen, die sie nicht zu ordnen wusste, und mit jeder Sekunde, in der Hideki sie erwartungsvoll und begeistert ansah, fiel es ihr immer schwerer, auch nur Luft zu holen. Sie konnte sich ihr Unwohlsein nicht erklären, aber dieser Raum hier, diese unheimliche Maschine und Hidekis Verhalten, waren ihr nicht geheuer und weckten in ihr fast animalische Fluchtinstinkte. Sie wollte hier unten keine Sekunde länger bleiben…

Nach unendlichen Augenblicken des bedrückenden Schweigens, riss sie sich zusammen und versuchte, ihre Gefühle endlich in Worte zu fassen, in der Hoffnung, bei Hideki auf Verständnis zu stoßen.

„Ich… ich habe Angst, Hideki.“, fing sie kleinlaut an und begann wieder rückwärts in Richtung Tür zu gehen. Hideki bemusterte sie dabei, wie eine Raubkatze ihre in die Enge getriebene Beute. „Ich will weg von hier, bitte lass uns gehen.“ Sie wartete nicht seine Antwort ab, sondern drehte sich einfach auf dem Absatz um und wollte losrennen, als auf einmal seine Stimme sie zurückhielt.

„Ich könnte dich glücklich machen.“

Hitomi erstarrte augenblicklich und hörte den Pulsschlag in ihren Ohren wie Trommelschläge vibrieren. Verängstigt schaute sie wieder zu Hideki zurück. Ihr Freund stand immer noch neben dem Stuhl, die Linke auf der ledrigen Lehne ruhend. Sein Grinsen war verschwunden und an dessen Stelle war ein Ausdruck getreten, der unlesbar für sie war. Hitomi zwang sich zu einem unbekümmerten Lachen.

„Das ist lieb von dir, wirklich, aber ich bin doch glücklich.“, entgegnete sie um authentische Freude bemüht, allerdings brach ihr Lachen im nächsten Moment in sich zusammen, als Hideki plötzlich auf sie zuging, sein Gesicht immer ernster werdend.

„Nein, bist du nicht.“, sagte er. „Ich sehe es in deinen Augen. Früher, ja, da warst du fröhlich und heiter.“ Er blieb stehen und musterte sie mit verengten Augen. „Früher, als es nur uns beide gab…“

Hitomi wich seinem anklagenden Blick aus und starrte zur Seite. „Ich weiß nicht, wovon du redest.“

„Doch, du weißt es, lüg mich nicht an!“, fiel er ihr wütend ins Wort. „Seit Zeus in unserem Leben aufgetaucht ist, bist du nicht mehr du selbst.“

„Das ist nicht-“, fing sie kleinlaut an, verstummte jedoch sofort wieder. Hideki kam immer weiter auf sie zu und mit jedem Schritt, der er näher kam, wich sie immer weiter vor ihm zurück. Fassungslos schüttelte der Braunhaarige mit dem Kopf.

„Du distanzierst dich von mir, Hitomi. Immer weiter. Obwohl ich dich an meiner Seite brauche.“ Sein verzweifelter Tonfall war wie ein Stich in ihrem Herzen und verdrängte langsam ihre beklemmende Angst. Sie blieb stehen und ließ ihn näher auf sie zu kommen. Hilflos sah sie ihm in seine traurigen Augen- das, was sie niemals bei ihm sehen wollte: Trauer. Angst. Hoffnungslosigkeit…

„Ich brauch dich doch auch, Hideki, also hör bitte auf, so etwas zu sagen…“, antwortete sie vorsichtig und wollte ihn beruhigend an der Schulter berühren, als er auf einmal ihre Hand zur Seite wegschlug, sodass sie erschrocken die Luft einsog und ihn aus geweiteten Augen anstarrte. Die Trauer war aus seinen hart gewordenen Gesichtszügen verschwunden, als habe dieses Gefühl nie in ihm existiert.

„Lüg mich nicht an!“, schrie er aufgebracht und packte sie so feste an den Schultern, dass Hitomi für einen Moment ihren Schock überwand und selbst vor Schmerz aufschrie. Doch auch dieser Wutausbruch währte nur kurz, sodass Hideki im nächsten Augenblick zur Seite sah, als bemühe er sich um Selbstbeherrschung. Als er seine Freundin wieder anschaute, war sein Gesicht von Unbeholfenheit gezeichnet.

„Ich liebe dich, Hitomi…“, flüsterte er verzweifelt. „Ich habe dich schon immer geliebt. Also bleibe bitte bei mir…“

Hitomi starrte ihn nur aus tränenden Augen an. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken, dutzende Stimmen schrien ihr Warnungen und Phrasen ins Ohr, sodass sie befürchtete, langsam den Verstand zu verlieren. Hunderte von Gefühlen wüteten in ihrem Herzen und ließen sie Achterbahn fahren. Sie verspürte Angst vor diesem Ort und vor allem vor der Person, die vor ihr stand und ihrem besten Freund zum verwechseln ähnlich sah, aber unmöglich sein konnte. Doch wenn Hitomi in seine Augen sah, so konnte sie nichts anderes als Mitleid und Sorge um diesen Mann empfinden- so war es schon immer gewesen; sie konnte nicht sagen, wie es so weit kommen konnte, aber wenn Hitomi eine Schwachstelle hatte, dann war es Hideki und egal wie viel Angst sie vor ihm auch hatte, sobald sie merkte, dass es ihm nicht gut ging, war jedes andere Gefühl, jedes verunsichernde Wort von ihm, vergessen.

Und dann hallten Hidekis Worte durch ihr persönliches Chaos: ich liebe dich. Immer wieder echoten sie in ihrem Kopf, immer hämmernder, immer lauter, bis sie unerträglich wurden. Sie hatte gehofft, diese Worte nie von ihm zu hören- von jedem, nur nicht von ihm, denn sie wusste, dass sie alles kaputt machen würden. Aber hatte sie es nicht irgendwo schon immer gewusst…? Sie riss sich aus dem tödlichen Strudel ihrer Gefühle zurück in die Realität und konzentrierte sich darauf, ihre Mimik unter Kontrolle zu bringen.

„… ich…“ Sie brach den Satz ab und holte tief Luft. „Ich würde dich niemals verlassen, bitte glaube mir… du bist doch wie ein Bruder für mich.“ Hilfe suchend sah sie wieder zu Hideki auf. Der Druck auf ihre Arme ließ nach, das Verzweifelte baute sich in seinem Gesicht ab und brachte eine nie dagewesene Verachtung darunter zum Vorschein.

„Ach ja? Und was ist Zeus dann für dich?“

„Was meinst du damit?“

„Stell dich nicht dumm!“, zischte Hideki und kam ihrem Gesicht noch näher. „Ich habe euch an Silvester gesehen.“ Hitomi wurde sofort kreidebleich und jegliche Emotion fiel ihr aus dem Gesicht. Hideki schien seine Schlussfolgerungen aus ihrer Reaktion zu ziehen und sah ihr ernst in die Augen. „Liebst du ihn?“

Hitomi schaute verschüchtert zu Boden. „Hör auf damit, bitte…“

„Gib mir eine Antwort!“ Seine Stimme glich dem drohenden Knurren eines Hundes.

Hitomi stiegen wieder Tränen in die Augen. „Bitte…“

Der Druck auf ihre Arme war schlagartig wieder da. „Liebst du ihn?!“, schrie Hideki ihr hasserfüllt ins Gesicht und im selben Moment schrie Hitomi verzweifelt zurück: „Nein!

Für Sekunden war es still, allein Hitomis Schluchzen war zu vernehmen. Tränen verschleierten ihre Sicht. Es lief alles aus den Rudern, das wurde ihr immer mehr bewusst, und sie allein war schuld daran! Hätte sie doch niemals ihren verdammten Gefühlen nachgegeben, wäre sie doch damals, an Silvester, niemals nach draußen gegangen, sondern bei Hideki geblieben, dann wäre es niemals so weit gekommen, oder?

Hidekis Wut verblasste langsam aus seinem Gesicht, bis kaum noch ein Schimmer davon übrig blieb- die Gleichgültigkeit, die an ihre Stelle getreten war, war jedoch nicht weniger schmerzend.

„… du lügst schon wieder.“, sagte er anklagend. Hilflos sah Hitomi auf und versuchte durch die kalte Fassade, in die sich seine Augen verwandelt hatten, durchzudringen.

„Das ist nicht wahr!“, rief sie flehend und stemmte sich gegen seinen eisernen Griff, doch Hideki schüttelte nur den Kopf und drehte den Blick zur Seite, als könne er ihr nicht mehr in die heuchelnden Augen sehen.

„Du kannst nichts dafür.“, entgegnete er seufzend. „Zeus versteht es, Leute zu manipulieren und sie das tun und denken zu lassen, was er will.“, schloss er, wobei sich sein Ausdruck bei der Erwähnung seines Freundes fast unmerklich verfinsterte.

„Hideki-“, versuchte Hitomi noch einmal zu ihm durchzuringen, doch auch dieser letzte Akt, der aus ihrer Verzweiflung und der Angst, die beiden wichtigsten Personen in ihrem Leben zu verlieren, resultierte, prallte an dem Braunhaarigen gnadenlos ab.

„Schon gut. Ich gebe dir keine Schuld daran- im Gegenteil: ich will dir helfen.“ Endlich sah er Hitomi wieder in die Augen, doch das, was sie nun in dem hellen Irispaar erblickte, ließ all ihre verbleibenden Hoffnungen zerspringen, als seien sie nie mehr gewesen, als filigranes, hauchdünnes Glas. Sie spürte ihre Beine kraftlos nachgeben, allein Hidekis Griff verhinderte, dass sie zu Boden ging, und mit geweiteten, tränenden Augen starrte sie in seine.

„Ich werde dich wieder glücklich machen.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Thuja
2012-11-08T09:28:30+00:00 08.11.2012 10:28
Woah
WTF O_o
Wenn Zeus das erfährt, wird er das aber gar nicht lustig finden.
Da macht Hideki seinem Götternamen aller Ehre. Das ist wirklich böse.
Ich weiß jetzt auch nicht mehr was ich über diese Geschichte und deinen Stil sagen soll. Mir gehen die Worte aus. Er ist einfach zu grandios. Mit Abstand kenne ich kaum jemanden der so gut schreibt. Für mich bist du ein Profi. Schluss aus Basta
Der Anfang war auch toll
Du hast dich wunderbar in die Charaktere hineinversetzt. Das zu beenden fiel Zeus bestimmt auch nicht leicht. Irgendwie waren die beiden trotzdem süß miteinander. Wäre da nur nicht Hideki….
Schon wo er mit ihr da hinfährt, standen mir die Nackenhaare zu Berge. Das war sehr spannend, weil ich mir die ganze Zeit gedacht habe: STEIG AUS! FLIEH! MACH IRGEDETWAS!
Hidekis Entwicklung ist wirklich krass, aber sehr authenthisch dargstellt. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob man da wirklich von Entwicklung sprechen kann oder ob das nicht schon immer in ihm war



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