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Memori3s

von

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Meet-and-Rebuff

„Das Mädchen, Izumi Kato, wurde in einen Auftrag von Hades und mir verwickelt, den wir trotz der anfänglichen Schwierigkeiten, zu denen sie ebenfalls beigetragen hatte, erfolgreich zu Ende bringen konnten. Wir fanden sie und die Zielpersonen in einer Gasse vor, in der einer der beiden gesuchten Männer versucht hatte sie zu missbrauchen; durch unser Eingreifen konnte dies allerdings verhindert werden. Eine weitere Person war anwesend, die schwere Verletzungen davongetragen hat – wie sich im Nachhinein herausstellte, handelte es sich dabei um Izumis Bruder. Auf ihr Bitten hin, haben wir den Mann mitgenommen. Außerdem hat sie … sich dazu entschlossen, Olymp beizutreten.“

Zeus stockte kurz in seinem Monolog und kaute auf seiner Unterlippe. Die Worte waren nicht richtig und für einen Moment dachte er darüber nach, das Tape wieder zu löschen. Doch das wäre Hades sauer aufgestoßen. Er hatte auf diese Wortwahl bestanden…

Er seufzte leise und fuhr sich durch die schwarzen Haare. „Ihr Zustand ist stabil, es gab keine Komplikationen mit Memoria. Über ihren Namen wird Hades entscheiden, da er für ihre Aufnahme bürgt.“ Er sah schweigend auf das alte Diktiergerät hinab. Dieser Teil war geschafft – fehlte nur noch die noch unangenehmere Aufgabe. Er griff nach einem Klemmbrett, das auf dem Tisch lag.

„Ihr Bruder, Toshihiko Kato, wurde von unseren Ärzten bestmöglich behandelt. Er hatte sich bei dem Versuch, seiner Schwester zu Hilfe zu kommen, in einen Kampf mit einem der beiden Zielpersonen verwickeln lassen. Dabei wurde er mit einem Taschenmesser lebensbedrohlich verletzt.“ Er überflog kurz die Seiten der Krankenblätter, ehe er sachlich fortfuhr: „Neben Prellungen an Schultern und Thorax und einer leichten Platzwunde, erlitt er eine zentimetertiefe Schnittwunde quer über den Hals, wobei die tiefste Stelle oberhalb des Kehlkopfes liegt und dort bis auf die Stimmbänder geht, sodass diese durchtrennt wurden und die Luftröhre an diesem Punkt angeschnitten worden ist. Die Wunde der Trachea konnte behandelt und verschlossen werden, die Stimmbänder werden allerdings nach jetzigem Stand nicht mehr wiederherstellbar sein. Sein Zustand ist weiterhin instabil, vor allem bedingt durch den hohen Blutverlust, den der Junge erlitten hat, sodass sein Überleben noch nicht ganz bestätigt werden kann.“ Zeus unterbrach sich für einen Moment und holte tief und lange Luft, um sich zu sammeln. Das Klemmbrett wieder weglegend fuhr er fort: „Falls Toshihiko seine Verletzungen überleben sollte, werden wir ihn ebenfalls bei Olymp aufnehmen; in diesen Fall wird er meinen Männern unterstellt werden und Äneas heißen.“ Er hatte lange über einen passenden Namen für ihn nachgedacht, immerhin wusste er nicht das Geringste über den jungen Mann, lediglich die Tatsache, dass er sich für seine Schwester in Lebensgefahr gebracht hatte. Das Bild des Mädchens tauchte vor seinem geistigen Auge wieder auf, wie sie an seinem Mantel gezerrt und ihn um Hilfe angefleht hatte. Dieser Toshihiko liebte seine Schwester und deshalb fand er den Namen des Romgründers, der ebenfalls seine Familie vor den Flammen Trojas beschützt hat, am treffendsten.

Zeus überlegte kurz, ob er etwas vergessen hatte, dann drückte er die Stopp-Taste des Memogerätes und lehnte sich seufzend in seinem Stuhl zurück. In seinem Kopf hämmerte es schon seit Stunden und er wartete nur noch auf den Moment, in dem sein Schädel einfach explodierte. Seine letzte ruhige Nacht, die man ihn hatte durchschlafen lassen, lag auch schon ein paar Tage zurück, erinnerte er sich und wie zur Bestätigung musste er gähnen. Das Geschwisterpaar raubte ihm alle Nerven. Seit drei Tagen operierten ihre Ärzte an dem Jungen herum und auch das Mädchen war, seit Hades sie in der Gasse betäubt hatte, nicht mehr ansprechbar gewesen. Ständig kamen neue Nachrichten über Toshihikos Zustand, die tendenziell schlechter als besser wurden. Und wie oft hatte er sich seit dieser Zeit schon wieder mit Hades in die Haare gekriegt? Zu oft, schloss er in Gedanken. Hades wollte sich nicht von der Idee abbringen lassen, die junge Frau bei Olymp aufzunehmen. Zeus sah das kritisch und konnte nicht wirklich den Sinn hinter dieser überstürzten Aktion entdecken. Aber nun war es eh zu spät, nun war das Gedächtnis der Kleinen gelöscht.

Er seufzte genervt und fuhr sich noch einmal durch den schwarzen dichten Schopf. Wenn das hier irgendwann mal ausgestanden war, würde er wahrscheinlich schlohweiß sein…

Die Müdigkeit umhüllte ihn mit jeder Sekunde mehr, sodass er einfach die brennenden Augen schloss und sich dieser hingeben wollte, als es auf einmal an der Tür klopfte – zum wievielten Mal an diesem Tag?

„Ja“, brummte er verstimmt und richtete sich wieder in seinem Stuhl auf. Ein Mann in weißem Kittel öffnete die langsam verhasste Bürotür und lugte ins Zimmer hinein. Anscheinend konnte man Zeus seine schlechte Laune ansehen, so vorsichtig wie der Arzt zu ihm herüberschaute.

„Verzeihen Sie“, begann er zögerlich. „Das Mädchen ist wach.“

Mit einem Schlag war seine Müdigkeit dahin.

„Wie geht es ihr?“

„Soweit gut. Memoria scheint erfolgreich gewesen zu sein. Hades ist bereits bei ihr.“

Mit einer Geschwindigkeit, die er sich selbst gar nicht mehr zugetraut hätte, kam er auf die Beine und verließ sein Büro, dass sich der junge Arzt gegen den Türrahmen pressen musste, um seinen Chef vorbei zu lassen. Mit eiligen Schritten folgte er dem Gott, nachdem er die Tür hinter sich wieder geschlossen hatte.

„Bleib bei dem Jungen und berichte mir, wenn sich sein Zustand verändern sollte.“

„Ja, Sir.“

„Und bete, dass die nächste Nachricht, die du mir überbringst, die ist, dass er aufgewacht ist“, fügte er ungewollt tief knurrend hinzu, dass der junge Arzt neben ihm zusammenzuckte. „Und das sollte frühestens erst Morgen der Fall sein – haben wir uns verstanden?“

Der Mann beeilte sich zu nicken; anscheinend hatte er Zeus‘ unterschwellige Botschaft bemerkt. „Ich… denke, das ließe sich einrichten… Sir.“

„Gut.“, brummte der Gott nun etwas milder gestimmt und bog um die letzte Ecke, ehe sie den Krankentrakt erreichten.
 

Das Mädchen sah Hades aus geröteten Augen an. Ihr Irispaar leuchtete in dem unnatürlichen Licht der Neonröhren über ihren Köpfen blau wie das Meer, durch das sich tiefgrüne Fäden zogen. Ihre vollen Lippen waren rau und an einigen Stellen aufgeplatzt, doch er war sich sicher, dass das nur an der harten Zeit lag, die sie hinter sich hatte. Auch ihren langen dunkelbraunen Haaren sah man die Strapazen der letzten Tage an; ungekämmt, zerzaust und fettig klebten sie dem Mädchen am Rücken. Sie war unglaublich blass und unter ihren großen Augen lagen tiefe Ringe. Alles an ihr machte einen schwächlichen, kümmerlichen Eindruck.

Für ihn war sie eine Schönheit.

Egal, wie mitgenommen sie im Moment aussah, sie würde wieder so schön wie an dem Abend werden, an dem Hades sie das erste Mal gesehen hat. So jugendlich schön. Hades kannte ihr Alter und wusste somit, dass sie längst keine Jugendliche mehr war, aber ihre Erscheinung strafte ihn dennoch Lügen, so kam es ihm vor. So unschuldig, so zerbrechlich. Sein Blick tastete jeden Winkel ihres Gesichtes ab, blieb an ihren fragenden Lippen hängen, an ihrer zierlichen Nase, an ihren Augen, ihren wunderschönen Augen. Ihr Anblick brachte ihn zum Lächeln.

„Ich weiß, das muss alles für dich noch sehr angsteinflößend klingen“, antwortete er auf ihre stumme Frage. „aber du musst dich nicht fürchten…“ Er zögerte, wenn auch nur für einen kurzen Wimpernschlag ihrer blassen Lider, aber für ihn fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Ihr Name lag ihm schwer auf der Zunge. „…Persephone.“

Etwas veränderte sich in ihrem Blick, eine Nuance von etwas, das Hades nicht zu deuten vermochte, ihm selbst allerdings das Herz mit der Angst belegte, dass sie ihm entglitt, sie vor ihm zurückwich, langsam nur, jedoch beständig. Du hast ihr nicht ihr Allgemeinwissen genommen, sie weiß um die Bedeutung ihres Namens. Einem Reflex folgend, griff er nach ihrer Hand, vorsichtig, als nähere er sich einem wilden, scheuen Tier. Ihr Blick huschte kurz zu ihrem Handrücken, der nun unter seiner im Vergleich viel größeren Pranke verborgen lag, dann starrte sie ihn erneut an, ihr Gesicht eine einzige verwirrte Frage.

„Ich werde dich ab jetzt immer beschützen. Egal vor was, egal vor wem.“

Ihre Augen sahen ihn hypnotisch an, er spürte, wie ein Ruck durch ihre kalten Finger ging, sah sie Luftholen, als wolle sie ihm antworten und dieses Erwachen, diese kleine Bewegung ihrer wunderbaren rosa Lippen, ließ in Hades eine ungewohnte Euphorie explodieren, die ihn noch breiter grinsen ließ. Dann jedoch zuckte ihr Blick zur Seite um ihr Augenmerk auf etwas anderes zu richten und im selben Moment zog sie ihre Hand unter seinem lockeren Griff hervor. Hätte sie ein Messer gezogen und wäre damit auf ihn losgegangen, es hätte in ihm genau denselben Schock ausgelöst, den er nun mit Mühe zu unterdrücken versuchte. Er ließ sich Zeit damit, sich auf seinem Stuhl umzudrehen; er wusste auch so, wer eingetreten war. Viel Auswahl an Befugten, die diesen Trakt betreten durften, gab es nicht, und die Zahl der Leute, die es dazu auch noch wagen würden, sich einfach ohne anzuklopfen in ein Zimmer herein zu schleichen, war da noch übersichtlicher. Der Schock machte mit jedem Herzschlag einer tief verankerten Wut immer mehr Platz in seinem Inneren.

Zeus war an das Krankenbett getreten, mit einem erleichterten Lächeln auf den Lippen, als besuche er seine kleine Schwester.

„Wie mir scheint, bist du wieder wohlauf.“, begann er aufatmend und setzte sich an das Fußende des Bettes. Den säuerlichen Blick, den Hades ihm dabei zuwarf, schien ihn davon keineswegs abzuhalten. „Du hast uns allen einen ganz schönen Schrecken eingejagt.“, fügte er mit einem besorgten Stirnrunzeln hinzu, woraufhin das Mädchen verlegen den Kopf senkte.

„Hades hat mir alles erzählt.“, sagte sie leise und mit heiserer Stimme. Die schmalen Finger, die Hades vor ein paar Augenblicken noch in seiner Hand gehalten hatte, nestelten nun an dem Stoff der Bettdecke herum. Er widerstand dem Drang, noch einmal schützend und mit einer gewissen Begierde nach ihnen zu greifen; er spürte Zeus‘ bohrenden Blick und Hades wusste, dass sein Partner diese Geste sehen und falsch interpretieren würde. Das letzte, was er wollte, war das Mädchen durch ihren stummen Streit, der definitiv dann ausbrechen würde, zu belasten.

„Es ist meine Schuld, dass ich … so schwer verletzt wurde“, fügte sie zögernd hinzu und hob tapfer den Blick zu den Männern, die sie so sehr musterten. „Ich hätte nicht alleine dort raus gehen dürfen. Ich hätte … Olymp nicht verlassen dürfen, ohne ein Wort zu sagen.“ Sie verzog ihre aufgeplatzten Lippen zu einem vorsichtigen Lächeln, das, so musste Hades wütend erkennen, nur an Zeus gerichtet zu sein schien. „Hätten Sie und Hades mich nicht rechtzeitig gefunden, dann-“ Sie verstummte hilflos und zuckte nur abschließend mit den schmalen Schultern. Hades nutzte den Moment, den Zeus zu langsam war, um zu antworten, um selbst das Wort zu ergreifen. In sein Lächeln legte er alles Liebevolle, zu was er imstande war.

„Jetzt bist du ja wieder in Sicherheit. Und sobald du wieder auf den Beinen bist, werde ich dafür sorgen, dass du lernst dich verteidigen zu können. Dann brauchst du keine Angst mehr zu haben, Persephone.“

Er bemerkte den Ruck, der bei seinem letzten Wort durch Zeus‘ Haltung ging, ebenso wie seinen starrenden Blick, der fast schon körperlich schmerzte. Ich bewege mich auf den Abgrund zu… Etwas in ihm ergötzte sich an Zeus‘ Unruhe und hätte, trotz allen vernünftigen Stimmen in seinem Kopf, das Spiel gerne noch weiter fort getrieben, doch da kam der Schwarzhaarige ihm zuvor.

„Liebes, würdest du uns für einen Moment entschuldigen?“, sagte er sanft an die junge Frau gewandt, die, nach ihren nervös hin und her huschenden Augen zu urteilen, die angespannte Stimmung sehr wohl mitbekommen hatte. Ihr zaghaftes Nicken kaum abwartend, legte er Hades eine Hand von hinten auf die Schulter und die Warnung, die mit dieser Geste stumm einher ging, hätte nicht deutlicher sein können. „Ich will mit dir unter vier Augen reden.“, sagte er nun leiser und Hades konnte seinen Zorn, der unterschwellig in seiner Stimme mitschwang, beinahe wie eine Gänsehaut auf seinen Armen spüren. Er sah über die Schulter in Zeus‘ dunkle Augen, die bedrohlich funkelten, dann fiel die weiß gestrichene Tür in sein Blickfeld. Wenn er jetzt da hinaus ging, würde ein neuer Streit vom Zaun gebrochen werden. Unausweichlich.

Hades stand auf und Zeus tat es ihm augenblicklich gleich. Sein Partner neben ihm kochte vor Wut, warum, das wusste Hades ganz genau. Und es war ihm scheißegal. Er konnte von sich selbst auch nicht behaupten, vollends entspannt zu sein; nicht mehr, seit dem der blasse Nervenaufreiber diesen Raum betreten hatte. Er hatte eine Entscheidung für sich gefällt und von der ließe er sich auch nicht mehr abbringen. Das letzte, was er tun würde, wäre vor Zeus zu kriechen, nur um ihn zu beruhigen! Er sah noch einmal auf Persephone hinab. Seiner Persephone. Ein zuversichtliches Lächeln huschte über sein Gesicht, dann wandte er sich ab und ging, gefolgt von Zeus, vor die Tür.
 

Sie brauchte noch zwei weitere Tage, bis die Ärzte und Hades ihr erlaubten, das Krankenzimmer zu verlassen. Nach dem Zwischenfall an dem Tag, an dem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war, hatte Persephone Zeus kein einziges Mal mehr gesehen. Hades hatte ihn immerzu entschuldigt und die viele Arbeit als Argument für sein Fernbleiben angebracht. Persephone spürte in ihrem Inneren, dass es etwas anderes sein musste; sie hatte die Reaktion und den plötzlichen Stimmungswechsel mitbekommen, und so sehr die beiden Männer wohl auch bemüht gewesen waren sich leise zu streiten, so hatte sie dennoch ein paar undeutliche Gesprächsfetzen der Diskussion hinter der Tür gehört, die sie allerdings so gut es ging zu ignorieren versucht hatte. Dass es allerdings in dem Streit um sie ging, war nicht zu überhören gewesen, so oft wie ihr Name gefallen war.

Hades war täglich mehrmals bei ihr gewesen, hatte sich zu ihr ans Bett gesetzt und ihr von Olymp erzählt. Doch wirkliche Vorfreude, dieses triste Zimmer ohne Fenster endlich verlassen zu dürfen, stellte sich trotz der vielen Schilderungen nicht ein. Umso mulmiger war ihr zu Mute, als sie ihre bereitgelegten Sachen anzog, nachdem sie zum letzten Mal vom Arzt untersucht worden war. Dort draußen wartete Hades, das wusste sie, um sie abzuholen. Sie konnte sich nicht erklären, wovor sie eigentlich solche Bedenken hatte. Vielleicht die einfache Tatsache, dass sie wusste, welche Welt sie hinter dieser Tür erwartete, Hades hatte ihr ja ausführlich von ihr erzählt; nur, und das verunsicherte sie, hatte sie selbst keinerlei Erinnerungen an sie. Keine einzige.

Hades hatte gesagt, dass sie von Olymp weggelaufen sei, kurz nachdem sie der Organisation beigetreten war, und war nach den ersten zehn Minuten ihrer Flucht in eine Gruppe von gewalttätigen Männern gerannt. Hades hatte an dieser Stelle bedeutungsschwanger geschwiegen. Sie hatte nur dagesessen, in ihrem bequemen Krankenbett, und ihn angestarrt. Tatsächlich waren bei seinen Worten Bilder durch ihren schmerzenden Kopf gezuckt, von einem Mann, der sie zu Boden drückte und würgte. Wären Hades und Zeus nicht aufgetaucht, wäre sie wahrscheinlich nicht mehr am Leben…

Noch jetzt jagte dieser Gedanke ihr eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Und das, was hinter dieser weißen Krankenzimmertür lag, kam ihr auch nicht viel verlockender vor. Aber das war ihr Leben, oder? Ihr selbstgewähltes Leben. Wieso fühlte es sich dann nur so an, als würde sich alles in ihr umdrehen, warum zog sich ihre Kehle bei dem Gedanken zu, dort hinaus zu Hades zu treten?

Sie atmete tief ein. Ja, Hades würde bei ihr sein, ihm konnte sie vertrauen! Mutig reckte sie das Kinn vor, ballte die Hände zu Fäusten und drückte die kalte Klinke der Tür hinunter.

Tatsächlich wartete der große Braunhaarige dort, doch er war nicht alleine. Ein weiterer Mann stand neben ihm, schlank gebaut, dabei allerdings recht muskulös, mit längeren schwarzen Haaren, die er zu einem kurzen Pferdeschwanz im Nacken gebunden trug. Nicht unansehnlich, fuhr es ihr durch den Kopf, bis sich der Mann zu ihr umdrehte und sie mit braunen Augen abweisend musterte. Der kalte Blick ließ sie zurückweichen. Hades drehte sich in dem Moment auch zu ihr um und lächelte sie gewohnt freundlich an.

„Ah, da bist ja endlich. Bereit? Kann’s los gehen?“

Sie brauchte ein paar Sekunden um ihre Sprache wieder zu finden und den stechenden Blick des Fremden auszublenden.

„Wo ist Zeus?“

Hades‘ Lächeln brach kaum merklich ein Stück weit in sich zusammen. „Er hat leider keine Zeit, aber er muss ja auch nicht unbedingt anwesend sein, wenn ich dich den anderen vorstelle.“ Sein Lächeln nahm wieder zu, als er ihren besorgten Blick bemerkte. „Als … Ersatz sozusagen habe ich D mitgebracht.“, fügte er aufmunternd hinzu und deutete auf den Fremden. Persephone zwang sich, D aus Höflichkeit in die kalten Augen zu sehen, was diesem anscheinend recht wenig interessierte, denn kaum trafen sich ihre Blicke, wandte er sich auch schon wieder ab.

„Ich werde die Kleine noch früh genug kennen lernen müssen, lass uns diese dämliche Vorstellungsrunde einfach hinter uns bringen.“, sagte er schlecht gelaunt und ging den langgezogenen Trakt hinab. Verwirrt und eingeschüchtert zugleich sah Persephone diesem komischen Typen mit klopfenden Herzen hinterher, dann fuhr ihr Kopf zu Hades herum, der leise und gekünstelt zu Lachen begonnen hatte.

„D neigt leider zum Zynismus.“, entschuldigte er sich etwas hilflos lächelnd und bedeutete ihr, dem Schwarzhaarigen zu folgen.

Das erste, was Persephone an Olymp auffiel, war seine Tristheit; zumindest in Bezug auf die endlos verworrenen Gänge, die alle den gleichen elfenbeinfarbenen Anstrich besaßen. Wären Hades und Dark Amor – D’s vollständiger Name, den Hades ihr leise im Gehen zugeflüstert hatte – nicht bei ihr gewesen, hätte sie sich wahrscheinlich nach zwei Gängen hoffnungslos verlaufen.

Ihr Ziel lag keine drei Minuten von dem Krankentrakt entfernt und schon von weiter weg konnte sie das Stimmengewirr, das aus dem großen Gemeinschaftssaal schwappte, vernehmen. Auf dem Weg dorthin kamen ihnen nun immer häufiger Mitglieder entgegen, die, sobald sie Persephone entdeckten, sich ungläubig die Hälse im Gehen nach ihr verdrehten. Etwas verschüchtert musterte sie die in Schwarz gekleideten Männer.

„Und das sind alles … Massenmörder?“ Sie hatte sich die Frage selbst gestellt und auch so leise gesprochen, dass sie davon ausgegangen war, dass niemand anderes als sie gehört hatte, umso erschrockener fuhr sie zusammen, als D neben ihr auf einmal schulterzuckend antwortete.

„Die meisten, aber nicht alle. Viele sind noch viel zu dämlich, um jemanden umzubringen.“

Sie starrte ihn fassungslos an, doch D verzog keine Miene und sah stur geradeaus. Verzweiflung schnürte ihre Kehle zu und wimmernd fuhr sie sich durchs Gesicht.

„Das kann doch alles nicht real sein…“, wisperte sie und ein Schauer lief ihr den Rücken runter. D schnaufte genervt.

„Was willst du jetzt von mir hören?“ …dass ich gleich schweißgebadet in meinem Bett aufwache.

Sie blieben vor dem Eingang des Saals stehen, der mit an die 40 Männer gefüllt war, die an hier und da verstreuten Tischen saßen. Keiner schenkte ihr Beachtung; noch nicht, schoss es ihr durch den Kopf und erinnerte sich an die Blicke derjenigen, die sie schon gesehen hatte. Sie fuhr mit den Augen die Menge prüfend ab, nicht sicher, was sie genau suchte, dennoch kam ihr etwas an dem Bild verkehrt vor. Stirnrunzelnd sah sie zu D hinauf.

„Gibt … es eigentlich Frauen, die für Olymp arbeiteten?“ Die Worte kamen ihr nur zögerlich über die Lippen; D vermittelte immer noch den Eindruck, als habe man ihn zu einem Shoppingausflug mit seiner Freundin verdonnert. Der schon beinahe vertraute, abfällige Blick traf sie nun, als er auf sie herabblickte und eine dunkle Braue nach oben zog.

„Dich.“, sagte er nur, doch das reichte schon aus, um Persephone einen weiteren Schauer durch ihren ganzen Körper zu jagen. Man ließ ihr keine Zeit, ihre Gesichtszüge, die sich in Verwirrung, Schock und überforderter Hilflosigkeit auftrennten, wieder zu ordnen, denn im nächsten Moment trat Hades an ihre andere Seite und schob sie in den Saal.
 

Eine ansehnliche Menge von Scheinen wurde zwischen ihnen auf den Tisch gelegt und kritisch von beiden Parteien beäugt. Nach ein paar Augenblicken der Stille beugte sich Hephaistos über die Tischplatte hinweg Orpheus entgegen.

„Hektor gegen deinen Zögling.“, brummte der Ältere und grinste siegessicher, dass sich die Narben um seine Mundwinkel herum grotesk verzogen. Ein junger Mann stand hinter ihm und schaute mit versteinerter Miene auf den Braunhaarigen hinab. Seine nackten Oberarme gaben den Blick auf stählerne Muskeln frei, die durch stundenlanges, schweißtreibendes Krafttraining geformt worden sind. Orpheus‘ Miene blieb unverändert neutral und stumm wechselte das Geld den Besitzer.

„Gerne.“, entgegnete er jetzt freundlich und zählte die Scheine kurz nach. „Sag mir wann und wo.“

Die Augen des alten Schmiedes von Olymp begannen zu leuchten und lachend erhob er sich. „Hektor wird mit Ares den Boden wischen. Morgen, um halb zwei.“

Gelassen sah Orpheus auf und nun lag auch auf seinen Lippen ein kleines Geschäftsmann-Lächeln. „Wir werden da sein.“

Damit drehte sich der breitschultrige Alte auf dem Absatz um und ging seines Weges; sein stummer Anhang stapfte hinter ihm her und wich Hephaistos keinen Meter von der Seite, als seien sie miteinander verwachsen. Mit spöttisch hochgezogener Augenbraue sah Orpheus den beiden hinterher und unweigerlich spukten Herks berühmte Worte in seinem Kopf herum:

Du glaubst nicht, du denkst nicht, du weißt!

Dass diesem aufgepumpten Kämpfer das Denken abtrainiert wurde, stand ihm regelrecht auf der Stirn tätowiert … Hephaistos gehörte, noch mehr als Herk, zum alten Schlag, der diesen „Leitspruch der Handelnden“ tatsächlich weiterhin wörtlich nahm.

Der Gedanke ließ ihn amüsiert den Kopf schütteln, dass er gar nicht richtig mitbekam, wie ihm im nächsten Moment die Geldscheine aus der Hand gepflückt wurden.

„Und, wie viel bin ich diesmal wert?“, brummte Ares mürrisch und wollte gerade nachzählen, doch da hatte sich Orpheus die Scheine schon wieder zurückgeangelt und ließ sie in seiner Mantelinnentasche verschwinden, was der Jüngere mit einem Schmollen quittierte.

„Eine Menge“, antwortete sein Partner gut gelaunt. „Und wenn du dich ein wenig konzentrierst, werden das leicht verdiente Mücken sein.“

Ares schien von dieser Vorstellung immer noch nicht sonderlich begeistert zu sein. „Ist das eigentlich normal hier, dass man seine jüngeren Partner wie Rennpferde verwettet? Falls es dich interessiert, ich fühle mich ziemlich benutzt!“

Zuerst sah ihn der Schwarzhaarige mit einem fragenden Blick an, dann begann er wieder zu grinsen und klopfte Ares auf die Schulter. „Komm schon, dir gefällt das doch.“, gab er feixend zurück. „Du kannst kämpfen und bekommst auch noch Geld dafür, dass du alle grün und blau schlägst, wo ist dein Problem?“

„Weiß nicht - vielleicht das Gefühl, dass du dich dabei manchmal wie mein Zuhälter aufführst?“

„Nun zick‘ nicht rum, Lucy.“, konterte Orpheus schmunzelnd; Ares dagegen schien den Scherz dahinter weniger zu begeistern.

„Findest du das witzig?“, knurrte er düster und augenblicklich wurde auch sein Partner wieder ernst.

„Nein, eher wichtig! Du musst gegen viele verschiedene Gegner kämpfen, sonst verbesserst du dich nie. Jeder kämpft anders, jeder hat seinen eigenen Stil. Es gibt keinen Prototyp, genauso wenig wie es den Kampfstil gibt, mit dem du alle anderen schlägst. Was glaubst du warum Herk dich damals gegen alle Mitglieder hat antreten lassen?“

Für Sekunden brodelte der stumme Kampf zwischen ihnen weiter, dann gab sich Ares schnaufend geschlagen. Immer noch verstimmt fuhr er sich durch die kurz geschnittenen Haare.

„Irgendwie schein ich aber der einzige Depp zu sein, der alle anderen verprügeln muss.“, murrte er. Orpheus fand nun wieder zu seinem altbekannten Lächeln zurück.

„Ja, aber dadurch bist du auch einer der besseren Deppen hier.“

Etwas begann wieder in Ares‘ Augen zu funkeln, doch bevor der Blonde auch nur Luft holen konnte, veränderte sich spürbar die Stimmung im Saal, der ungewöhnlich still geworden war. Immer mehr Leute sahen zum Eingang, sodass auch Ares verwirrt den Kopf drehte. Hades war eingetreten, an seiner Seite der frisch gebackene Springer aus den Reihen seiner Scharfschützen. Was die Blicke aller Anwesenden jedoch fesselte, war die dritte Person, die zwischen den beiden hochgewachsenen Männern etwas verloren wirkte. Die junge Frau war äußerst blass in Gesicht, was durch die dunklen Sachen, die sie trug, noch unterstrichen wurde, und mit unsicherem Blick starrte sie der Menge der Mitglieder entgegen. Ihre langen schwarzen Haare waren in einem lockeren Pferdeschwanz zusammengehalten, dennoch vielen ihr einige Strähnen ins Gesicht, als habe sie sich in Hektik frisiert. Ihre schmalen Hände nestelten und fuhren immer wieder über den Saum des schwarzen Tops, das sie trug, als wisse sie nicht recht, wohin mit ihnen.

Als Hades ihr in dem Moment eine Hand auf die Schulter legte, sah sie kurz zu ihm auf und ihre Nervosität schien etwas von ihr abzufallen. Vereinzelt hörte Ares gemurmelte Gespräche, die hinter vorgehaltener Hand hier und da geführt wurden, doch in dem Moment erhob der Gott der Unterwelt seine Stimme und sofort verstummte wieder jedes Geräusch.

„Das hier ist Persephone.“, begann Hades laut und ließ den Blick durch den Saal schweifen, als wolle er jeden direkt ansprechen. „Sie ist unser neustes Mitglied und wird meiner Truppe beitreten. Und somit meinem direkten Befehl unterstehen.“ Er legte eine kurze Pause ein. Die Mitglieder tauschten unsichere oder skeptische Blicke aus, auch erblickte Ares das ein oder andere fassungslose Kopfschütteln in der Menge. Orpheus neben ihm wurde immer ernster. „Behandelt sie mit Respekt und sieht sie als euresgleichen an.“, fuhr er mit dominanter Stimme fort. „Und helf ihr, sich hier zurecht zu finden.“

Hades ließ seine Worte noch ein paar Sekunden nachklingen, dann klopfte er der Frau neben sich mit einem aufmunternden Lächeln auf die Schulter und verließ schweigend den Saal. D verweilte noch kurz an ihrer Seite, dann ging er auf eine der Tische zu, an dem andere Scharfschützen saßen, und ließ das neue Mitglied somit allein in der Mitte des Raumes stehen. Überall brachen augenblicklich Gespräche aus, manche hitzig, die dann mit verstohlenen Gesten und Blicken auf Persephone unterstrichen wurden, andere von fassungsloser oder neugieriger Natur. Ares starrte die junge Frau, die etwa in seinem Alter zu sein schien, blinzelnd an, dann drehte er sich wieder zu Orpheus um.

„Okay, das war mal `ne merkwürdige Ansprache.“, sagte er und zog verwirrt die Stirn kraus. „Veranstaltet Hades immer so ein Drama, wenn er `nen neuen Schützen aufnimmt?“ In den viereinhalb Jahren, die er nun schon bei Olymp war, hatte er den einen oder anderen Eintritt in die Organisation mitbekommen, allerdings war dabei kein einziges Mal ein Mitglied so, eskortiert von dem Chef persönlich, den anderen vorgestellt worden. Er sah sich skeptisch im Saal um. Die Situation hatte einen angespannten Unterton erhalten, der ihm nicht ganz geheuer war - anscheinend war er nicht der einzige, der sich über den Auftritt dieser Frau wunderte.

Einige sind in der Zwischenzeit auf Persephone zugegangen und versuchten sie in ein Gespräch zu verwickeln, doch sie wimmelte jeden mit einem aufgesetzten Lächeln ab und sah sich etwas hilflos wieder im Saal um. Kurzerhand steuerte sie auf den Kaffeautomaten zu, der neben dem Eingang stand, als wolle sie sich in irgendeine Tätigkeit retten. Orpheus‘ düstere Stimme ließ Ares wieder herum fahren.

„Es geht nicht um das neue Mitglied an sich, sondern um die Tatsache, dass es sich dabei um eine Frau handelt…“

Unweigerlich musste Ares schmunzeln. „Wieso, sind in unserem Klub keine Mädchen erlaubt?“, fragte er mit spöttischem Unterton, der ihn allerdings nur einen giftigen Blick des Dunkelhaarigen einbrachte, sodass er sofort wieder versuchte ernst zu wirken.

„Es wurde noch nie eine Frau aufgenommen.“, formulierte Orpheus seine Antwort neu. „Es ist kein ungeschriebenes Gesetz, aber bis jetzt haben sich Zeus und Hades immer geweigert, Frauen das anzutun.“ Ares zog fragend die Brauen zusammen, ob der merkwürdigen Formulierung seines Partners, doch Orpheus ignorierte ihn. Mehr zu sich selbst fuhr er dann, den Blick auf die unerwünschte Frau gerichtet, fort: „und dass Zeus nicht hier ist, macht mich auch stutzig…“

Ares tat dies mit einem Schulterzucken ab. „Du weißt doch, Zeus ist immer beschäftigt; grenzt schon immer an ein Wunder, wenn man ihn mal außerhalb seines Büros antrifft.“

Sein Partner machte nicht den Eindruck als hätte er ihn gehört. Immer noch sah er angespannt zu Persephone hinüber, die sich an einen einsamen Tisch gesetzt hatte und mit beiden Händen den mit Kaffee gefüllten Pappbecher umschloss, wobei ihr Blick misstrauisch auf den anderen Mitgliedern lag, die wiederum verstohlen zurückstarrten. Ares erinnerte das Bild an eine Antilope, die sich direkt neben einem Löwenrudel zum Wasserloch begeben hatte. Als Orpheus auch nach Sekunden nicht reagierte, stieß Ares ihn genervt an der Schulter an.

„Hey, jetzt werd mal wieder gelassener! Freu dich doch, dass wir hier unten endlich was zu Gucken haben.“ Er lächelte tapfer gegen Orpheus‘ von Skepsis zerfressenen Gesichtsausdruck an. „Die Kleine sieht echt niedlich aus!“

Die Andeutung verfehlte ihre Wirkung um Kilometer; statt eines prüfenden, neugierigen Blickes in Richtung der offensichtlichen Schönheit, erdolchte Orpheus seinen grinsenden Freund mit tödlicher Präzision.

„Ares, merkst du gar nichts?“, fuhr er ihn gereizt an. „Diese Stimmung?“ Er deutete in die angespannte Runde. „Sie dürfte nicht hier sein! Sie wird nur Probleme streuen - für uns und vor allem für sie selbst!“

Nun breitete sich auch in Ares die Wut aus. Abwehrend hob er die Hände.

„Alter, bleib locker, es ist nur eine Frau! Kerngesund und sie macht auf mich auch nicht den Eindruck, als könnte sie uns alle im Schlaf erdrosseln…“

Orpheus schüttelte energisch den Kopf. „Ich rede nicht von solchen Problemen. Hast du Hades‘ Worte gehört? Hast du mitbekommen, wie sie heißt?“

Ares hob ungläubig eine Augenbraue. „Persephone, und?“

„Wer ist Persephone in der Mythologie?“ Orpheus schien mit jedem Wort einer Explosion näher zu rücken.

„Was hat das mit ihr-“

„Wir erhalten unsere Namen nicht umsonst, Ares, das müsste auch dir langsam mal aufgefallen sein.“, schnitt er ihm gereizt das Wort ab und bevor Ares ihm für diese Aussage zurechtstutzen konnte – ob verbal oder mit den Fäusten, konnte er in diesem Moment nun wirklich nicht mehr entscheiden, dafür machten ihn diese dämlichen Paranoia seines Partners zu rasend - fuhr Orpheus ungeduldig fort: „Also: wer ist sie?“

Kurz spielte Ares mit dem Gedanken einfach aufzustehen um in sein Zimmer zu gehen und dem drohenden Streit so den Wind aus den Segeln zu nehmen. Sollten doch alle ruhig verrücktspielen, weil ein kleines Mädchen auf ihrem Spielplatz nun mitmischen durfte, ihm war das egal! Doch dann atmete er einmal tief durch und versuchte das ganze aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Orpheus war nicht der Mensch, der sich von einer Veränderung im Alltag so nervös machen lässt – und schon gar nicht würde er wegen so einer Veränderung, die nun unschuldig in der einen Ecke ihres Aufenthaltsraumes saß und ihren Kaffee kalt pustete, so schnell seine Gelassenheit verlieren; im Gegenteil hatte er sogar gedacht, dass der ehemalige Springer einer der Ersten wäre, der diese Chance für sich ausnutzen würde, um seinen Charme spielen zu lassen. Immerhin wusste Ares, wie Orpheus ticken konnte, wenn man ihn ließ…

Seine eigene Unruhe herunter kämpfend, dachte er einen Moment über Orpheus‘ Frage nach, ehe er schulterzuckend zur Antwort ansetzte.

„Persephone ist die Unterweltgöttin, Hades‘ Frau…“ Er unterbrach sich stockend und zog die Stirn kraus. „Moment. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass die was mit dem Alten am Laufen hat?“ Sein Blick fuhr ungläubig zu der Dunkelhaarigen herum.

„Es hat einen Grund, warum sie diesen Namen trägt.“, hörte er Orpheus düster sagen, was ihn wieder skeptisch zurückschauen ließ.

„Meinst du nicht, dass du die Flöhe husten hörst, Orpheus?“

Der Angesprochene schüttelte den Kopf und verschränkte die Arme vor der Brust. „Es hätte noch dutzende von anderen Namen für sie gegeben…“

„Ach ja? Und welche?“, fragte er und musterte sie von neuem nachdenklich. „Hera?“, fragte er sich selber und fing amüsiert an zu schmunzeln. „Nun, hier unten wird sie wohl kaum auf eine Rivalin treffen, auf die sie eifersüchtig sein könnte. Aphrodite vielleicht? Obwohl, nein; Aphrodite könnte ich mir nicht mit einer Waffe in der Hand vorstellen - und irgendwie würde der Name auch nicht hierher passen … hm, Artemis…?“, murmelte er leise und seufzte sehnsüchtig. „Oh, ich bete darum, dass sie nicht so wie Artemis tickt-“

Orpheus neben ihm verdrehte nur genervt die Augen. „Okay, Ares, tu mir den Gefallen und fang wieder an, mit deinem Verstand zu denken…“

Der Blonde, so aus seinen verträumten Gedanken gerissen, funkelte ihn verstimmt an.

„Willst du irgendetwas andeuten?“, brummte er lauernd, worauf Orpheus lediglich mit den Schultern zuckte.

„Ich will dich nur daran erinnern, was sie ist: ein Mitglied und als solches solltest du sie auch behandeln. Sie ist keine der Frauen da draußen, denen du einfach Geld zusteckst und sie dir dann gefügig hinterher dackeln.“ Ares‘ Farbwechsel im Gesicht ignorierte er und seufzte nur geschlagen. „In dem Sinne muss ich Hades wohl oder übel Recht geben; wir sollten sie mit Respekt behandeln.“

„Du glaubst also, dass ich nicht mit Frauen vernünftig umgehen kann?“

Ares‘ eingeschnappter Ton ließ ihn versöhnlich lächeln und abwehrend hob er die Hände.

„Das habe ich nicht gesagt, ich meinte nur-“

„Oh doch, das meintest du!“, fuhr ihn Ares sichtlich beleidigt dazwischen. Natürlich war er nicht abgeneigt von Persephones Erscheinung, aber ihm zu unterstellen, er könnte sie nicht mit Respekt behandeln, war eine bodenlose Frechheit; besonders aus seinem Mund. Nach der richtigen Dosis Alkohol verhielt sich Orpheus Frauen gegenüber auch nicht mehr wie ein frommer Priester. Selbstsicher stand er auf und sah auf den leicht verdutzt blickenden Braunhaarigen herab. „Ich werde dich vom Gegenteil überzeugen.“ Und dabei warf er Persephone einen entschlossenen Blick über die Schulter zu. Orpheus verfolgte seinen Blick und fuhr sich stöhnend übers Gesicht.

„Ares, komm schon…“

Doch dieser unterbrach ihn nur mit einer abschneidenden Handbewegung und begann zu grinsen – ein deutliches Zeichen dafür, dass Ares‘ Dickschädel nicht mehr umzustimmen sei. „Sieh zu und lerne.“
 

„Persephone?“

Sie zuckte leicht zusammen, als er sie so aus dem Nichts ansprach und blinzelnd sah sie zu ihm hoch.

„…ja?“, fragte sie zögernd. Er lächelte aufmunternd.

„Hi, ich bin Ares.“, grüßte er und reichte ihr die Hand. „Ich bin einer von Zeus‘ Leuten.“

Kurz starrte Persephone auf die dargebotene Rechte, als hielte er ihr etwas Abscheuliches unter die Nase. Dann brachte sie ihre Züge schnell wieder unter Kontrolle und ergriff seine Hand zaghaft. Durch den Kaffee, den sie zuvor umschlossen gehalten hatte, waren ihre Finger angewärmt, dennoch spürte Ares die Kälte, die darunter in ihren Knochen festsaß.

„Aha… ähm, hi.“, erwiderte sie flüchtig lächelnd, blickte kurz in Ares‘ Augen, um dann den Blick wieder auf etwas anderes zu lenken. Davon ließ Ares sich aber nicht beirren. Sie ist nervös, aber wer war das nicht am Anfang?

„Du bist noch nicht allzu lange hier in Olymp, oder?“, plauderte er weiter und zog sich beiläufig einen Stuhl heran, auf den er sich kurzerhand setzte. Persephone beäugte diese Bewegung mit einem Blick, der zwischen Unwohlsein und Verwirrung hin und her schwankte und immer wieder fixierten ihre Augen einen der Anwesenden, die entweder mit unverhüllter Abneigung an ihr vorbei gingen, um den Saal zu verlassen, oder sie von weiter weg kritisch musterten. Selbst auf Ares lagen vereinzelte Blicke, die er allerdings zu ignorieren versuchte. „Diese Gänge sind riesig und total unübersichtlich, ich hab mich am Anfang hier nur verlaufen.“, setzte er das Gespräch selbst fort, als von ihr keine Antwort kam, und fing unbeschwert zu lachen an. Persephone dagegen zog nur skeptisch die Braue hoch und musterte ihn.

„Das kann ich mir vorstellen…“, entgegnete sie nüchtern, von Ares‘ heiterem Anblick vollkommen unbeeindruckt. Er spürte, dass sie in beginnender Verärgerung über seine Hartnäckigkeit die Stirn kraus zog und wie er langsam ihr Interesse verlor; genauso bröckelte zusehends sein positives Auftreten, dennoch bemühte er sich um ein authentisch aufmunterndes Lächeln.

„Ich weiß, zu Beginn kommt einem alles düster und angsteinflößend vor, aber du wirst sehen: so schlimm ist es hier unten gar nicht. Aber zuerst ist es wirklich sehr hilfreich, wenn man jemanden hat, an den man sich wenden kann, wenn man Probleme hat.“ Er zog alle Register und grinste sein liebevollstes Jungenlächeln. „Also, wenn du mal Hilfe brauchst, dann denk an mich, ja?“, schloss er mit einer Wärme in der Stimme, für die er sich selbst innerlich loben musste. Er war sich sicher, jede andere Frau wäre bei diesem Tonfall errötend und dankbar in seine Arme gesunken; doch statt einem schüchternen Augenniederschlag oder rosa Wangen, schenkte ihm diese Frau nur eine in Unglauben hochgezogene Augenbraue.

„Warum, damit ich weiß, wen ich genau nicht frage?“ Sie stand auf, sodass nun Ares verdutzt zu ihr aufsehen musste. „Danke für die Warnung.“

Sie griff nach ihren noch halb vollen Kaffeebecher und warf diesen in einen Abfalleimer, der neben dem Automaten stand, dann drehte sie sich wortlos um und verschwand.

Es verlangte Ares verdammt viel Selbstbeherrschung ab, um nicht einfach die Kinnlade fallen zu lassen und ihr dumm hinterher zu glotzen; einen verwirrten Blick zum Ausgang konnte er dennoch nicht unterdrücken. Hatte ihn diese Frau gerade tatsächlich so kalt abblitzen lassen?

Von irgendwoher hörte er prustendes Gelächter und erst da wurde ihm wieder bewusst, wo er sich gerade befand. Nein, sie hatte ihn nicht nur einfach in den Wind geschlagen, sie hatte es vor der versammelten Mannschaft getan…

Mit beginnender Zornesröte sah er sich zu den Geräuschen um, konnte allerdings den Verantwortlichen nicht ausfindig machen. So gelassen und gleichgültig wie nur eben möglich, stand er dann im nächsten Moment auf und ging an seinen Tisch zurück, an dem Orpheus ihn schon mit vielsagendem Blick erwartete. Bereits von weitem erkannte er die verkrampft aufeinander gepressten Lippen des Älteren, die nur wenig erfolgreich das amüsierte Grinsen vertuschen konnten. Nun brannten Ares‘ Wangen doch und warnend deutete er auf seinen Freund.

„Sag jetzt einfach gar nichts.“, grollte Ares bedrohlich und setzte sich Orpheus gegenüber, der das Lachen nicht länger zurückhalten konnte.

„Du hast’s echt drauf, Casanova.“, gab er in sarkastischer Bewunderung zu, dann platzte ein atemloses Kichern aus ihm heraus, das Ares mit einem zornigen Blick quittierte.

„Halt die Klappe!“, fauchte er ihn und sah schmollend zum Ausgang zurück, als er merkte, dass seine Drohung für den Moment nicht den geringsten Effekt auf seinen Partner hatte. „Blöde Ziege.“, knurrte er leise zu sich selbst. „So macht die sich hier sicherlich keine Freunde.“

Nach ein paar Sekunden hatte sich Orpheus wieder halbwegs gefangen und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Komm schon, vergiss sie.“, sagte er versöhnlich, aber immer noch grinsend. „Viel wichtiger als diese Frau ist der Kampf gegen Hephaistos‘ Anabolikahaustier morgen Mittag. Bis dahin sollten wir uns eine Strategie ausgedacht haben. Nicht, dass es noch so einen ruhmlosen Auftritt gibt - hinterher fällt das noch alles auf mich zurück.“

Zumindest das schien Ares wieder auf andere Gedanken zu bringen. Mit übertrieben hoch gezogenen Augenbrauen, zog er die Luft ein und starrte den Braunhaarigen an.

„Dein Ansehen würde in den Keller rutschen!“, machte er entsetzt. „Nein, sowas kann ich meinem geliebten Zuhälter doch nicht antun.“

Kurzerhand entschied Orpheus, das begonnene Spiel mitzuspielen, und sah Ares tief und mit gespieltem Ernst in die Augen. „Ganz recht, Lucy. Und nun hopphopp an die Arbeit, Papa will sich nächsten Monat was gönnen!“

Zuerst blieb der Blick seines Gegenübers eine Mischung aus Unglauben und Wut, dann jedoch rollte Ares mit den Augen und konnte ein breites Grinsen nicht länger unterdrücken. „Vergiss nicht, dass der Löwenanteil immer noch an mich geht.“

Nun ließ auch Orpheus seine ernste Fassade fallen und lachend verließen sie zusammen den Aufenthaltsraum. Er wusste, dass man den Jüngeren schnell auf Hundertachtzig bringen konnte, allerdings brauchte es nur ein paar richtig gesetzte Worte, um diesen Hitzkopf wieder abzukühlen. Zwar ließ Ares weiterhin vereinzelt das ein oder andere schlechte Wort über die Neue fallen, aber das hielt ihn nicht von einem konzentrierten Training ab. So viel hatte Orpheus in den vergangenen dreieinhalb Jahren über Ares gelernt: hatte der junge Mann ein Ziel vor Augen, dann verfolgte er es mit einer zumeist nützlichen Verbissenheit; man musste ihm nur den richtigen Ansporn geben.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Thuja
2013-07-18T13:51:43+00:00 18.07.2013 15:51

Uwaaah
Ich weiß doch auch nicht mehr, was ich schreiben soll. Es ist jedes Mal auf Neue sooooooooooooo endlos genial
Zeus, Ares, Herk, Persephone, bei so vielen tollen Charakteren platzt mir glatt der Kopf.
Ich finde sie alle einzigartig und fantastisch

O_o
Persephone ist die EINZIGE Frau in Olymp. Na schönen Dank auch. Das ist bestimmt irgendwie komisch und es macht sie außerdem zu etwas sehr besonderen.
Auch wenn es mir jetzt schon Sorgen macht, wie Hades über sie denkt: so besitzergreifend. Erinnert mich im Ansatz an damals bei Hitomi
Und irgendwie glaube ich, dass Orpheus recht hat. Ihr Auftauchen wird bestimmt eine sehr wichtige Bedeutung für Olymp haben

Sehr interessant finde ich ja, dass man hier erfährt, wieso und weshalb die einzelnen Mitglieder die jeweiligen Namen bekommen haben.
Ganz besonders im Fall von Persephone fand ich das interessant

*bis über beide Ohren grins*
lol
Ist schon lustig, wie Orpheus Wetten über seinen Schüler abschließt. Kein Wunder, dass er sich da ein wenig benutzt vorkommt. Aber in einer Sache hat Orpheus ja recht: es ist Training und Ares mag es ja zu kämpfen

Genial und begeisternd finde ich übrigens auch deine Vergleiche. Der hier zum Beispiel war der Hammer!!!
„Ares erinnerte das Bild an eine Antilope, die sich direkt neben einem Löwenrudel zum Wasserloch begeben hatte.“
Echt sehr kreativ und passend.



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