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Memori3s

von

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Von Sackgassen und Auswegen

Gedankenverloren strich Persephone über die glatten Erhebungen auf der Rückseite des Medikamentenstreifens. Der Wind hier oben auf dem Dach des Parkhauses zerrte kräftig an ihrer Kleidung und wehte ihr ständig die Haare ins Gesicht, wenn die Böen erneut ihre Richtung wechselten. Sie hatte ihre Beine unter der niedrigen Absperrungsstange hindurch gesteckt, welche mehr eine Stolperfalle als eine wirkliche Sicherheitsvorkehrung war, und stützte ihre Arme auf dem kalten Metall ab. Unter ihr, gute achtzig Meter tiefer, lag ein Lichtermeer aus Neonröhren und Werbetafeln, Motorengeräusche schwappten zu ihr hoch und wenn sie den Blick hob und etwas in die Ferne schaute, konnte man von hier oben die vielen fernen, mehrspurigen Straßen sehen, die Lichter der unzähligen Autos, die sich wie eine nicht enden wollende Perlenschnur zwischen den Hochhäusern hindurch ihren Weg bahnten. Obwohl das Parkhaus sicherlich nicht zu den höchsten Gebäuden im Umkreis gehörte, war die Aussicht dennoch atemberaubend.

Ihr erschien es dagegen in diesem Moment vollkommen gleichgültig, unbedeutend, belanglos.

Den ganzen Tag war sie im Bett geblieben, hatte die Decke über ihren Kopf gezogen und vor sich hingestarrt. Sie hatte versucht zu schlafen, doch obwohl sich ihr Körper so schwer und müde angefühlt hatte, hatte sie nicht den Blick von der abgeschlossenen Tür abwenden können. Sie hatte Angst gehabt, sie aus den Augen zu lassen, als befürchte sie, dass jemand diese Unachtsamkeit ausnutzen und zu ihr ins Zimmer kommen könnte. Dabei wollte sie nur alleine sein. Diese Angst fraß sich so tief und hart in ihr Herz, dass sie irgendwann einen Stuhl mit der Lehne unter der Türklinke verkeilt hatte; das hatte sie für wenige Minuten etwas beruhigen können, doch noch immer wollten ihre Augen nicht zufallen.

Hunger, Durst, selbst das Druckgefühl auf ihrer Blase hatte sie den ganzen Tag ignoriert und weiterhin auf die helle Zimmertür gestarrt, bis sich ihr Körper für die Vernachlässigung seiner Bedürfnisse zu rächen drohte, und Persephone dann doch am Abend eilig ins Bad gewankt war. Irgendwie hatte sie es geschafft, sich unter die Dusche zu stellen ohne gleich umzukippen; nach dem stundenlangen Liegen dümpelte ihr Kreislauf irgendwo auf Höhe ihrer Kniekehlen herum. Sie hatte schon letzte Nacht geduscht, direkt, nachdem sie ins Zimmer gekommen war, aber immer noch fühlte sie sich abscheulich und ekelte sich vor ihrer eigenen Haut. Heißes Wasser lief ihr über Haare und Nacken und durchnässte Shirt und Unterwäsche, welche sie nicht ausziehen wollte; etwas in ihr hatte weiterhin Angst, dass er zurück käme. Und dann wäre sie ihm nackt noch hilfloser ausgeliefert gewesen. Sie hatte versucht, mit Logik über diese Angst in ihr nachzudenken, sich einzureden, wie irrational und übertrieben sie im Grunde war, doch ihr Kopf war ein großer Hohlraum, durch den nur die verschiedensten Bilder und Szenen wie Schatten wandelten und in dem Hades‘ Stimme, zusammen mit ihren kleinen, wimmernden Ängsten, leise Echos waren, die in ihrem leeren Kopf gefangen gehalten wurden.

Der Wind hier oben übertönte diese Stimmen ein wenig und das machte in ihr Platz für ein paar leichte Gedanken. Ihr Gehirn war schon vor einer Stunde aus seiner Selbstschutzreaktion erwacht, doch da war sie noch viel aufgewühlter gewesen. Ein, zwei Mal, hatte sie zuvor ihrem Verstand erlaubt zu denken, und immer wieder waren ihre Gedanken Amok gelaufen, dass sie sich noch mehr unter der Bettdecke zusammengekauert und am ganzen Leib gezittert hatte. Das einzige, was ging, war die Tür anzustarren und auf die Geräusche hinter ihr zu lauschen. Persephone hatte Minuten gebraucht, um sich soweit wieder zu sammeln, um den Entschluss, den Wunsch, nach einer Erlösung zu formulieren. Und dieser Wunsch war schnell zu einem innerlichen Trieb herangewachsen, der sie schlussendlich dazu gebracht hatte, sich anzuziehen, den Stuhl von der Tür wegzunehmen und diese zu öffnen. Die vielen Menschen, die ihr daraufhin auf den Gängen begegnet waren, hatten sie beinahe wieder zum Rückzug bewegt. Hatte Olymp schon immer so viele Mitglieder gehabt? Sie blieb tapfer, schöpfte Mut aus dem kleinen Gedanken – ich will nicht mehr, ich will das nicht mehr! – und hielt den Blick gesenkt, immer an der Wand entlang gehend und den Augenkontakt mit jedem vermeidend. Seht mich nicht an, bitte, beachtet mich nicht und lasst mich einfach in Ruhe, flehte die Angst in ihr stetig und ließ sie verbittert schneller laufen, sich ganz darauf verlassend, dass ihre Füße den Weg kannten.

Irgendwie hatte sie es tatsächlich bis zu Chirons Behandlungszimmer geschafft. Der Arzt hatte ihr verwundert entgegen geschaut, sie aber dann doch hereingelassen - wobei Arzt nicht der richtige Ausdruck für den alten Mann war, der stets leicht gebeugt und auf etwas kauend durch die Welt hier unten ging. Er versuche mit dem Rauchen aufzuhören, gab er stets als Rechtfertigung, er habe schon alles andere ausprobiert und Nikotinpflaster haben bei ihm noch nie gewirkt, die seien ja im Grunde ja eh nur Geldmache, er wisse schließlich, wovon er da sprach. Das Ergebnis dieses schon seit mehreren Jahren andauernden Unterfangens zeichnete sich durch einen deutlich angewachsenen Bauchumfang ab. Chiron hatte vor Jahrzehnten mit dem Medizinstudium begonnen, es aber nach ein paar Semestern wieder abgebrochen, um Apotheker zu werden.

„Aufgeschnittene Menschen sind nicht mein Ding“, hatte er ihr damals erklärt, als sie für ein paar Tage auf der Krankenstation das Bett hüten musste. „Ich kümmere mich lieber um ihre von Saufgelagen davon getragenen Kopfschmerzen und Geschlechtskrankheiten – kommt hier gar nicht so selten vor, also guck nicht so verdutzt.“, hatte er dann auf ihren entgleisten Gesichtsausdruckes hin belustigt hinzugefügt. Ihr war der Mann von Anfang an sympathisch gewesen; ihn nun so auszunutzen fiel ihr daher doppelt so schwer.

Am Ende hatte er ihr dann doch die Schmerztabletten gegeben. Er war, wie zu erwarten, misstrauisch gewesen, als sie ihn kleinlaut danach gebeten hatte. Monatliche Probleme und so. Was Besseres hatte ihr noch hinkender Verstand nicht ausgespuckt. Er hatte die Lüge dennoch geschluckt - oder vielleicht doch eher schweigend gebilligt? Bevor sie aus seinem kleinen Arbeitszimmer mit den etlichen Schränken an der Wand abhauen konnte, hatte er ihr noch etwas in die Hand gedrückt. Blinzelnd hatte sie auf das Stück Traubenzucker und dann in sein Gesicht gestarrt. Sein altes Gesicht hatte Mitleid und Sorge ausgestrahlt, trotz des gewohnt freundlichen Lächelns, als habe er sie durchschaut. Natürlich sieht er dir an, dass etwas nicht stimmt, klärte sie ihren lahmen Verstand auf. Man kann vor diesen Augen keine Geheimnisse haben…

Der Wind zupfte an dem Metallstreifen in ihrer Hand, sodass sich ihre Finger stärker darum schlossen. Er würde ihr Ausweg aus dieser Situation, aus ihrem Alptraum, sein. Sie würde einfach schlafen. Für immer. Andere Möglichkeiten gab es für sie nicht. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, wegzurennen, zu fliehen und Hades und diesen verdammten Schuppen hinter sich zu lassen … aber Hades würde sie überall finden; er hatte die Mittel dafür, Persephone hatte sie ja selbst gesehen. Und eine Flucht war ihr schon einmal missglückt, oder? Sie hatte versucht, sich den Abend ihres ersten Ausbruchs wieder in Erinnerung zu rufen, doch es war alles verschwommen, als liege die Wahrheit in dichtem Nebel, der sich nicht lichten wollte. Inzwischen war sie sich sicher, dass damals ebenfalls etwas vorgefallen sein musste, das sie dazu veranlasst hatte, wegzulaufen. Vielleicht war damals dasselbe passiert, vielleicht hatte Hades sie schon einmal-

Sie begann am ganzen Körper zu zittern und brach den Gedanken tief einatmend ab. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie wollte nicht mehr. Es würde jedoch erklären, warum ich mich nicht an den Grund meiner Flucht erinnere, schloss sie eilig in Gedanken ab, ehe ihre Angst sich wieder zu Wort melden konnte.

Von neuem begann sie über die Tabletten zu streichen. Es gab keinen anderen Ausweg … sie würde ihn nie wieder sehen müssen. Ja, das war doch gut, oder? Ihre Mundwinkel zuckten verräterisch, als wolle sich ein Lächeln auf ihre Züge stehlen, ein letzter, verzweifelter Versuch, in diesem Leben noch einmal so etwas wie Glück und Freude zu empfinden, doch da ließ sie eine Stimme hochschrecken.

„Wenn du so nah am Rand sitzt, könnte man glatt auf den Gedanken kommen, du möchtest dich umbringen.“

Die Männerstimme war laut und deutlich, als stünde ihr Besitzer direkt hinter ihr. Alles zog sich in ihr zusammen und erschrocken drehte sie den Kopf, den Tablettenstreifen in eine sichere Faust geschlossen. Tatsächlich stand der Mann keine drei Meter weit hinter ihr. Das Lächeln, das anscheinend eine ätzende Angewohnheit von ihm war, war das letzte, was sie in diesem Moment hätte sehen wollen. Verärgert starrte sie Ares an.

„Deine Visage könnte tatsächlich einen dazu verleiten, hier runter springen zu wollen, um dir endlich zu entkommen!“, fauchte sie, stand auf und wollte an ihm vorbeigehen, doch der Blonde stellte sich ihr in den Weg, immer noch grinsend. In diesem Moment ließ etwas in ihr ihr Blut nach unten sacken und erinnerte sie wieder an den Umstand, dass sie mit diesem Typen, der sie nicht gehen lassen wollte, hier oben auf dem Dach völlig allein war. Prompt ließ ihre Angst Szenarien vor ihrem geistigen Auge abspielen, in denen sie gegen eine Wand gepresst wurde und Ares in ihrem Rücken knurrte, sie solle bloß nicht weinen und gefälligst dankbar sein.

Kurz war sie von diesen Bildern gebannt, konnte es nicht verhindern, von ihnen gefangen genommen und gefoltert zu werden, mit dem Ergebnis, dass sie wahrscheinlich im nächsten Augenblick einfach vor dem Mann zurückgewichen und über die wadenhohe Absperrung gestolpert wäre. Sie hätte noch ein paar Sekunden Angst verspürt, doch dann wäre alles vorbei gewesen; auch eine Möglichkeit oder? Was sie allerdings vor dieser Version des Sterbens rettete, war Ares‘ plötzlicher Rückzieher. Nicht sie ging auf Abstand, sondern er.

„Fahr die Krallen wieder ein“, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. „Ehrlich, bei deinem Temperament hätte man dich nach `ner Amazone benennen sollen.“, fügte er leise grummelnd hinzu, als habe er nur laut gedacht.

Ungewollt runzelte sich Persephones Stirn und abschätzend sah sie ihm ins Gesicht. Sie wurde aus dem Typen einfach nicht schlau. Der zusätzliche Meter Raum zwischen ihnen beruhigte ihr klopfendes Herz und so gab sie sich die Chance, über eine passende Abfuhr nachzudenken, damit er sie endlich in Ruhe ließe. Sie hatte absolut keine Nerven hierfür. Ihr Schweigen nutzte Ares allerdings zu Persephones Ärgernis aus, um von neuem ein Gespräch anzufangen.

„Beantworte mir nur eine Frage“, bat er und musterte sie nachdenklich. „Wie viel ist an deinem Namen wirklich dran?“

Sie musste zugeben, dass sie damit nun wirklich nicht gerechnet hatte. Ihr Blick spaltete sich zusehends in Verwunderung und Skepsis auf. Ja, es schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, bei diesem Kerl so etwas wie logische Denkprozesse nachweisen zu können. Trotz dass sie fand, dass die Frage etwas sehr aus der Luft gegriffen war, musste sie ihm wohl oder übel antworten, ansonsten würde sie ihn nie loswerden…

„Worauf willst du hinaus?“, fragte sie nach und zog die Stirn noch krauser. Ares zog nur ausweichend die Schultern hoch und sah kurz zur Seite, um sie dann aus den Augenwinkeln zu mustern.

„Du und Hades – läuft da was?“

Seine Stimme hatte einen beiläufigen Tonfall, doch für Persephone hätten die Worte nicht direkter sein können. Sie rissen Wunden auf, auf denen sich gerade erst leichter Schorf bildete. Ihre Hände fingen wieder an zu zittern und schnell ballte sie diese zu Fäusten, dass der harte Tablettenstreifen unangenehm in ihre Handinnenfläche schnitt. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen, hätte ihn angeschrien, ihm die Wahrheit ins Gesicht gebrüllt. Nein! Nein, verdammt! Ich will diesen Mann nie mehr wiedersehen. Ich habe Angst vor ihm, verdammte Angst, gegen die ich nicht ankomme! Was sie daran hinderte? Eben genau dieser Mann, der ihre größte Furcht darstellte.

„Was täte das zur Sache?“, erwiderte sie stattdessen durch zusammengebissene Zähne. „Warum sollte dich das interessieren?“

Ares zwinkerte ihr frech zu und zuckte noch einmal gespielt lässig mit den Schultern. „Ich möchte nur gerne meine eigenen Chancen bei dir besser einschätzen können.“

Wütend verengte sie die Augen. Da war er wieder: der aalglatte, von sich selbst überzeugte Kotzbrocken!

„Deine ‚Chancen‘ sind nicht existent!“, fauchte sie ihn an und wollte endlich an ihm vorbei zur Tür des Treppenhauses gehen, doch da machte Ares wieder einen großen Schritt zur Seite, sodass er von neuem vor ihr stand. Augenverdrehend stoppte sie ab und sah wütend zu ihm auf. Ihre anfängliche Angst ihm gegenüber war vergessen, dafür überwog der Teil in ihr, der den Blonden partout nicht ausstehen konnte, viel zu sehr. Was willst du?, fragten ihre Augen stumm und gereizt; Ares schien sich allerdings davon wenig irritieren zu lassen.

„Weißt du eigentlich, dass Persephone noch einen zweiten Namen hatte?“, begann er von neuem und diesmal konnte Persephone ein genervtes Stöhnen nicht mehr unterdrücken. Seine hektischen Gedankensprünge bereiteten ihr Kopfschmerzen. „Ihre Mutter Demeter nannte sie immer Kore; das bedeutet Mädchen. Klingt doch viel netter als Gattin des Höllenbosses, oder?“, schloss er und lächelte frech. Ungewollt hob sich ihre Augenbraue in Richtung Haaransatz.

„Ich bin kein kleines Mädchen, verstanden?“

Ares‘ typisches Grinsen wurde noch breiter. „Beweist du mir das mal bei Zeiten?“

„Nicht mal in deinen Träumen, Idiot!“

„Oh, willst du tatsächlich wissen, was für Träume ich habe…?“

Persephone holte wütend Luft, doch dann zwang sie sich innerlich um Beherrschung, klappte den geöffneten Mund wieder zu und setzte sich kopfschüttelnd in Bewegung. Diesmal ließ Ares sie gewähren und sah ihr nur abwartend hinterher.

„Auf das Niveau lass ich mich nicht herab, das wird mir zu dumm.“, murmelte sie im Weggehen müde und rieb sich über die Schläfen. „Lass mich einfach in Frieden.“

Sie hatte schon fast die rettende Metalltür erreicht, als seine tiefe Stimme in ihrem Rücken wieder zu vernehmen war. „Ist alles in Ordnung bei dir? Du siehst, ehrlich gesagt, nicht sehr gut aus.“, rief er und eine gewisse Sorge und Unsicherheit schwang in seinem Tonfall mit. Als hätte er ihr etwas gegen den Kopf geschmissen, blieb sie abrupt stehen. Ihr Herz raste bedrohlich schnell in ihrer Brust, sodass sie tief ein und wieder ausatmete. Dann konnte sie sich nicht länger zurückhalten. Sie hasste, hasste, hasste diesen Kerl, dieses verdammte Arschloch, mit seinen verdammten Fragen!

Augenblicklich drehte sie sich herum und rief zornig: „Blitzmerker, mir geht’s nicht gut. Wenn du’s unbedingt genau wissen willst: es geht mir beschissen!“ Ihre Stimme überschlug sich vor Wut und grimmig hielt sie ihre rechte Hand flach über ihren Kopf. „Mir steht dieser scheiß Laden mit seinen verdammten Haufen an Kerlen bis hier oben, und du hast nichts besseres zu tun, als deine scheiß Sprüche an mir auszutesten, die so klingen, als seien sie aus einem Klatschblatt, das vor dreißig Jahren mal aktuell gewesen war! Ich will nur meine Ruhe - deshalb war ich hier oben, kapiert? Also halt endlich die Klappe und latsch mir nicht ewig hinterher!“ Ihrem restlichen Ärger gab sie durch ein tiefes, schnaubendes Ausatmen den nötigen Freiraum.

Zum ersten Mal war Ares‘ Grinsen verschwunden und er sah sie mit einer hochgezogenen Augenbraue an; in Anbetracht ihres Wutausbruchs war das eine verhältnismäßig nüchterne Gefühlsreaktion seinerseits, doch immerhin hatte sie sein ätzendes Zähneblecken ausradiert bekommen. Was sollte dieses Dauergrinsen überhaupt? Es erinnerte sie an einen Hengst, der ständig flehmen musste, wenn eine Stute, egal ob potentiell willige Kandidatin oder nicht, den Fehler beging und sich in sein Gesichtsfeld verirrte.

„Glaubst du, dass man dich deshalb ab jetzt mit Samthandschuhen anfassen wird?“

Seine Frage riss sie aus ihren Gedanken. „Wie bitte?“

„Das, was du gerade beschrieben hast … das Gefühl hatte jeder hier, als er bei Olymp anfing.“, sagte Ares und kam wie beiläufig ein paar Schritte näher. Er schaute immer noch verändert; kein Funken Belustigung oder übertrieben gespielter Charme war in seinen Zügen mehr zu erkennen. „Meine ersten Wochen, ach was, Monate waren die reinste Höllenqual. Herk hat mich zum Aufwärmen halb totgeprügelt, jeden verdammten Tag. Und? Hab ich deshalb mit meiner schlechten Laune um mich geschmissen?“ Er hielt plötzlich inne und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf, als müsse er sich selbst noch einmal die Tatsachen ins Gedächtnis rufen. „Nein, um ehrlich zu sein bin ich irgendwann wütend auf Herk losgegangen und wollte ihm die Zähne ausschlagen…“ Ares‘ Gesicht wurde noch nachdenklicher und sein Blick glitt zur Seite. „Als Dank hat er mir mit einem Tritt die Rippen geprellt, sodass ich theoretisch eine Woche lang hätte aussetzen müssen. In der Praxis hat mich dieser verdammte Leutnant dann Treppen auf Zeit laufen lassen.“ Mit einem Mal hellte sein Blick wieder auf und ein kleines, stolzes Schmunzeln kehrte in seine Mundwinkel zurück. „Ich war gar nicht so schlecht, mein Rekord liegt bei anderthalb Minuten von ganz unten bis hier rauf.“

Persephone zog es vor zu schweigen und verzog nur ungläubig und skeptisch das Gesicht. Ares zuckte wieder mit den Schultern, als wolle er die Erinnerung somit abstreifen.

„Was ich sagen will“, fuhr er fort, „der Anfang hier unten ist niemandem leicht gemacht worden. Jeder kommt früher oder später an den Punkt, an dem er denkt, dass er das alles nicht mehr packt. Wenn man hier etwas in den ersten Wochen lernt, dann, dass das Leben niemals vorhersehbar ist; es kommt nie, wie man es sich vorstellt, meistens wird es nämlich nur schlimmer.“

Unwillkürlich zuckte Persephone zusammen und sah schnell zu Boden, ehe ihr Gegenüber ihre aufeinander gepressten Lippen bemerken konnte. Nein, wollte sie sagen, nein, das scheiß Leben macht nie das, was man erwartet. Aber das, was du erlebt hast, ist nichts gegen mein Leben. Du hast keine Ahnung davon, was ich durchmachen musste. Wenn du es wüsstest, würdest du mir eine so dumme Floskel nicht an den Kopf werfen! Aus den Augenwinkeln sah sie Ares zuversichtlich grinsen.

„Aber das ist noch lange kein Grund verzweifelt aufzugeben, hörst du? Es gibt immer einen Ausweg und weglaufen ist garantiert der Falsche.“

Halt endlich deinen verdammten Mund! Ihre Hände zitterten, egal wie sehr sie sich zu beherrschen versuchte. Sie hätte Ares so gern die Wahrheit gesagt, so gern, nur um ihn sein Grinsen damit wieder aus dem Gesicht zu wischen. Doch dann würde er es erfahren, dass ich geredet habe…

„…bist du endlich fertig?“ Sie war erstaunt darüber, wie ruhig ihre Stimme auf einmal klang, obwohl in ihr ein Sturm tobte. Dieselbe Gleichgültigkeit schaffte sie nun auch in ihren Blick zu legen, als sie zu Ares hinaufschaute. „Du langweilst mich mit deinen verstaubten Reden. Was kommt als nächstes - `ne Ansprache über Freundschaft und gemeinsam gibt es kein Hindernis im Leben?“ Sie lachte hart auf und wollte sich zum Gehen abwenden, als Ares sie blitzschnell am Arm packte und zurückhielt. Etwas erschrocken über den plötzlichen Körperkontakt, starrte sie aus geweiteten Augen in sein verändertes Gesicht. Leichte Wut zeichnete sich um seinen hart gewordenen Mund und den zusammengezogenen Augenbrauen ab.

„Wo liegt eigentlich dein Problem?“, zischte er verstimmt und zog sie etwas zu sich heran, was sie kurzzeitig aus dem Konzept brachte und ihre Gesichtszüge noch mehr zum Entgleisen brachte. Ares hatte hellblaue Augen, das fiel ihr erst jetzt zum ersten Mal richtig auf. Kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus und floss unter der Kleidung ihren Rücken herunter. „Ich wollte dir lediglich helfen und du versprühst als Dank Gift und Galle!“

Sie fasste sich ein paar Augenblicke später, überwand irgendwie ihre erneut aufkeimende Angst vor diesen eisblauen Augen, die Hades‘ Iriden gar nicht so unähnlich waren, und riss sich los.

„Ich habe dich um keine Hilfe gebeten!“, schrie sie ihn an und stolperte weiter rückwärts, immer näher an die rettende Tür heran. Zorn packte sie wieder und hektisch einatmend tastete sie nach der Türklinke. Ares blieb da stehen, wo er war, musterte sie nur. Seine ebenfalls wütenden Augen hatten sie noch zu sehr gefesselt, als dass sie den Blick hätte abwenden können. Erleichterung durchströmte sie, als ihre schweißnassen Finger die kalte Metallklinke umschlossen.

„Wach aus deiner rosaroten Traumwelt auf!“, rief sie zu Ares herüber und schluckte gegen das zuschnürende Gefühl in ihrer Kehle an. „In der Realität ist jeder auf sich allein gestellt.“ Ohne auf eine Erwiderung zu warten, wandte sich Persephone ab, öffnete die Tür und ließ Ares auf dem Dach allein zurück.
 

Es war erstaunlich, wie gut sich abgeschlossene, stille Räume, in denen man sich nur allein aufhielt, dazu eigneten, das eigene Denken anzukurbeln. Erstaunlich und absolut lästig.

Kaum hatte Persephone, noch immer wutschnaubend, ihre Zimmertür hinter sich zugeworfen und den Schlüssel im Schloss gedreht, kam der Strudel, in den sich ihre Emotionen entwickelt hatten, vermischt mit ihrem Verstand, zum erliegen und hinterließ eine klare, ruhige Oberfläche, in der der Medikamentenstreifen deutlich oben auf schwamm.

Ihre Erlösung.

Sich gegen ihre Tür lehnend, betrachtete sie das Stück Aluminium in ihrer Faust. Sie hatte so fest zugedrückt, dass es zerknittert und aus seiner ursprünglich glatten Form gekommen war. Nachdenklich fuhr der Zeigefinger ihrer freien, linken Hand wieder über jede einzelne Kammer, in der jeweils eine weiße Perle steckte. Eine wäre nicht tödlich. Achtzehn dagegen wären eine Dosis, die ihr Körper nicht bewältigen könnte. Ich würde einschlafen. Und dann wäre es vorbei.

Die letzte Nacht war die schlimmste in ihrem Leben gewesen; soweit sie sich erinnern kann, verstand sich. Sie wusste immer noch nicht hundertprozentig, was damals, vor ein paar Wochen, passiert war, aber das spielte hierfür keine große Rolle. Denn auch wenn ihr Verstand noch damit beschäftigt war, seine Wunden zu lecken und ihr als Ersatz für ihn, quasi als Aushilfe, diese animalische Angst dagelassen hatte, die nun seit einem Tag ihr ewiger Begleiter war, so wusste sie doch eines ganz genau: sie wollte keine Angst mehr vor Hades haben müssen. Sie wollte nicht mehr, dass seine heisere, und dennoch drohende Stimme sie am ganzen Körper erzittern ließ, wenn sie nur an deren Klang dachte; sie wollte ihn nie wieder spüren, kein Zurückhalten am Arm, keine wohlgemeinte Hand auf ihrer Schulter – bei der Erinnerung an die ersten Tage mit ihm, wie er sich um sie gekümmert hatte, wie er ihr mit seiner bloßen Anwesenheit Mut gegeben hatte, musste sie hart auflachen; sie hatte Vertrauen zu einer Lüge gefasst – keine fordernde Berührung seiner Lippen, gar nichts!

Und je mehr sich dieser Wille, dieses Wollen, in ihr einbrannte, umso deutlicher kristallisierte sich die Unmöglichkeit dieses Unterfangen dabei heraus. Sie war wehrlos gegen ihn. Punkt. Wieso sich etwas vormachen? Nein, das hatte sie schon die letzten Wochen zu genüge getan, schoss es ihr durch den Kopf und verbittert verzogen sich ihre Mundwinkel zu einer Fratze, die im weitesten Sinne einem zynischen Grinsen ähnlich sah. Das sich aufstauende Gefühl kroch ihre Kehle hinauf und schnürte ihr diese zu, ehe sie schluchzend Luft holte und die Tränen flossen.
 

Sie beruhigte sich nur langsam. Irgendwann - nach gefühlten Stunden, aber wahrscheinlich waren es nur Minuten gewesen, so, wie das ja immer der Fall war in solchen Momenten – waren ihre Tränen versiegt und sie hatte sich zum Bett hinüber geschleppt. Dort saß sie nun, auf der Bettkante, die Arme auf die Knie gestützt, den schweren Kopf gegen die gefalteten Hände gelehnt, welche das Schmerzmittel weiterhin umklammert hielten. Es war merkwürdig, aber sie fühlte sich nicht in der Lage, die Tabletten zu schlucken und so ihrem beschlossenen Vorhaben endgültig nachzugehen. Ihr Leben bot ihr nichts mehr, wofür es sich gelohnt hätte weiterzumachen und dennoch konnte sie sich nicht dazu überwinden, es zu beenden. Zynisch verzog sie einen Mundwinkel. Ich bin sogar im sich selbst umbringen eine Niete…

Sie sah noch einmal auf die Medikamente und diesmal zwang sie sich, eine der Tabletten herauszulösen. Klein und unscheinbar lag die weiße Perle in ihrer Handfläche. Bevor sich ihr Unmut wieder einschalten konnte, hob sie die Hand zum Mund.

Es war nicht die Stimme der Vernunft, die sie im nächsten Moment zurückhielt. Aus irgendeinem Grund, den sich Persephone bis heute nicht wirklich erklären kann, echoten Ares‘ Worte auf einmal in ihrem Kopf: Weglaufen ist garantiert der falsche Ausweg.

Sie hätte schwören können, dass er nun in ihren Erinnerungen vorwurfsvoller klang als vor einer halben Stunde und als hätte ihr verdammter, verräterischer Verstand nur darauf gewartet, schlug er sich sofort auf Ares‘ Seite: Genau, du bist feige! Das, was du vorhast, ist nichts anderes als flüchten. Du rennst weg, gibst auf, du bist schwach und feige, feige, feigefeigefeigefei-

Einen Schrei unterdrückend warf sie die Tablette durch den Raum und den Metallstreifen gleich hinterher. Wutschnaubend stand sie auf und hätte am liebsten ihre eigenen Gedanken aus sich heraus geprügelt; dass es allerdings ein schwieriges Unterfangen ist, sein Innerstes zum Schweigen zu bringen, hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden ja schon zu genüge ausprobiert.

Also lenkte sie ihre Wut auf Ares und seine verdammte Predigt und wünschte ihm jede erdenkliche Krankheit an den Hals dafür, dass er ihre Vernunft aus dem Koma wachgeküsst hatte. Warum hörte sie überhaupt darauf, was er in seinen schwulstigen Reden von sich gab? Es sollte sie eigentlich überhaupt nicht jucken! Er war ihr vollkommen egal, er war nebensächlich, uninteressant für sie, genauso wie die dutzend anderen Spinner in Olymp; hätte jemand von denen ihr so etwas vorgetragen, hätte sie gleich auf dem Absatz kehrt gemacht und ihn im Regen stehen gelassen, da war sie sich sicher!

Neben der Tür lag der Metallstreifen auf dem Boden, die Tablette war mit Sicherheit irgendwo hin gekullert und für immer aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden. Zähneknirschend hob sie ihn wieder auf. Schön, unterbrach sie ihre innere Stimme in Gedanken fauchend, die wie ein Kleinkind sein feige-Lied weitergesungen hatte, ich gebe nicht auf! Ich renne nicht davon! Zufrieden?, fragte sie sich selbst, als sitze tatsächlich ein kleines Kind in ihrem Kopf, das aufmüpfig seinen Willen bekommen wollte, und nun anfing von einem Ohr zum anderen ein Grinsen zu zeigen, als hielte es den begehrten Dauerlutscher endlich in den kleinen, speckigen Händen.

Genervt raufte sie sich die Haare und warf die Schmerzmittel in den Mülleimer. Da geht meine Erlösung dahin…

Feige.

Klappe!

Über sich selbst den Kopf schüttelnd stieg sie wieder ins Bett zurück, zog die Decke über den Kopf und kauerte sich zusammen.

Sie war wieder am Anfang.

Aber diesmal fühlte sie sich … auf irgendeine Art besser. Sie fühlte sich nicht wohl und schon gar nicht sicher, aber ihre Angst war zu einer ertragbaren Besorgnis zusammengeschrumpft, ein Gefühl, als habe man einen Unfall beim Sport gehabt und man müsse sich am nächsten Tag dieser Situation zum ersten Mal nach der Genesung wieder stellen. Man fühlt sich unwohl, man möchte am liebsten gar nicht mehr hingehen, aber deshalb gleich Selbstmordgedanken zu haben, war übertrieben.

Es gibt ja schließlich immer einen Ausweg.

„Herrgott, Ares, raus aus meinem Kopf!“, knurrte sie düster und verkroch sich ganz unter der dicken Daunendecke. Den Rest der Zeit, den sie noch wach lag, verbrachte sie damit, sich neue Beschimpfungen für diesen verdammten Blondie mit dem eingerasteten Zähneblecken auszudenken, ehe sich ihr langsam entspannender Körper den fehlenden Schlaf der letzten Nacht zurückholte.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsch euch allen einen schönen Nikolaus und eine tolle Adventszeit ^^ Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Thuja
2013-12-23T13:05:26+00:00 23.12.2013 14:05
*grins*
Ich würde Ares nicht aus meinem Kopf schicken. Im Gegenteil. Er dürfte es sich ruhig dort drin bequem machen und mir viele schöne Gedanken bescheren ^________^
Schätze mal, der Weihnachtsmann wird morgen wirklich viele Geschenke für dich haben. Du hast dieses Jahr so viele gigantisch tolle Kapitel geschrieben, du hättest es verdient!!!
Hab gerade die letzten Kapitel noch mal quer gelesen und die Geschichte ist so genial.
Ich beneide dich um deine Charakter und dein Stil.
Und die Szene auf dem Dach war auch mal wieder einmalig und fabelhaft.
Wirklich großartig, wie toll du dich in Persephone hineinversetzt und wie klar, realistisch und lebendig du ihre Gedanken und Gefühle werden lässt. Du schaffst es wirklich, den berühmten Funken springen zu lassen, so dass der Leser einfach mit ihr fühlen muss.
Und auch Ares war mal wieder klasse (♥♥) und genau das, was sie jetzt gebraucht hat :-)


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