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Bruderkuß

1942
von

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Kapitel III


 

Kapitel III

20. - 21. November 1942
 

Auf Ivan Braginskis Lippen breitete sich ein äußerst mildes, nahezu sanftmütiges Lächeln aus, als er die Rauchschwaden im Nordosten der Stadt aufsteigen sah. Er stand auf der Kühlerhaube eines tarnfarbenen GAZ-Geländewagens, die seit Kriegsbeginn nur noch mit Camouflage-Muster hergestellt wurden; in der linken Hand hielt er ein Fernglas, in der rechten glimmte eine Zigarette. Die beiden Sterne auf seinem Schulterstück waren von einer hauchdünnen Schicht puderigem Schnee bedeckt. Er konnte spüren, wie sein Herz gegen seine Rippen schlug. Er spürte es selten und genoss jeden Ruck, den der Muskel machte, wenn er das Grollen der Sprengkörper bis in seine Magengegend spüren konnte. Die Donfront leistete ganze Arbeit. Sobald sie die nördlichen Stadtgrenzen zurückerobert hatten, würde die Stalingrader Front ihren Soll leisten können. Seine Division hatte Blut geleckt. Sie wollten kämpfen. Das war nur noch eine Frage von wenigen Tagen. Immerhin waren sie dort in der Stadt eingekesselt. Wohin sie auch blickten, aus welchem Winkel sie auch zu schlüpfen versuchen würden, um aus der Stadt zu flüchten: sie würden der Roten Armee in ihre kalten Augen sehen müssen. Sie konnten nicht fliehen.

Anfangs hatte ein massiver Luftangriff über Stalingrad zum Tod tausender Zivilisten, braver Männer, Frauen und Kinder geführt. Es war zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt, wie viele es geschafft hatten, zu überleben. Sie konnten die Stadt nicht verlassen. Sie durften nicht. Dass sie blieben, steigerte die Moral der kämpfenden, russischen Soldaten. War es nicht viel effektiver, wenn man ihnen sagte, es ginge nicht nur um eine Stadt, eine Wasserstraße, sondern um tausende von Menschenleben, die dort in ihrer Stadt, nur spärlich bewaffnet, um das nackte Überleben kämpften? Die 6. Armee der Deutschen bestand anfangs aus 250.000 Mann. Verstärkt wurde diese von einer Abteilung der 16. Panzerdivision, von der nur noch eine handvoll übrig war, und einigen Verbündeten Armeen aus Rumänien und Italien.

Wenn die Sowjetunion wollte, konnte sie auf über eine Million Infanteriesoldaten zurückgreifen.

Der Führer des Deutschen Volks hatte sich, so wie es schien, vollkommen verschätzt. Er hatte behauptet, der Roten Armee gingen die Ressourcen aus, sie sei einsturzgefährdet und schwach. Unter keinen Umständen hätten die deutschen, rumänischen und italienischen Soldaten kapitulieren oder den Rückzug antreten dürfen. Diese lächerliche Behauptung, die sich nicht bewahrheitet hatte, hatte unzähligen das Leben gekostet – und der Roten Armee einen entscheidenden Vorteil in diesem Kampf gesichert.

Stalingrad wäre wirklich gefundenes Fressen für die Faschisten gewesen. Die Stadt war für die gesamte Sowjetunion von großer Bedeutung. Strategisch war sie gut gelegen; direkt an der Wolga, die als Wasserstraße diente. Mit der zumindest neunzigprozentigen Eroberung Stalingrads durch die Deutschen war diese bedeutende Transportroute abgeschnitten worden. Außerdem, und das war vielleicht noch ausschlaggebender, hatte diese Stadt noch eine symbolische Bedeutung. Stalin selbst hatte sie während der Russischen Bürgerkriege verteidigt. Sie in den Händen der Deutschen zu sehen, die Stadt, die nun Stalins Namen trug, war für die Sowjetunion eine Schmach höchsten Ausmaßes; für die Deutschen war es ein gelungener Zug, ein Stich direkt in die Herzen der russischen Bevölkerung. Beide Seiten hatten schwere Verluste erlitten. Doch nun wendete sich das Blatt – und zwar ganz sicher nicht zu Gunsten des Faschismus. Ivan würde diesem Treiben ein Ende setzen. Er würde diese Stadt befreien.

Er zog an der Zigarette, dann warf er sie in den Schnee, wo sie zischend erlosch, und sprang von der Kühlerhaube. Den Rauch stieß er durch seine Zähne aus, als er in den Himmel blickte, den Schneeflocken entgegen. Das Wetter war schlecht. Zu schlecht für die deutsche Luftwaffe und diese verdammte Luftbrücke, die ihre Gegner mit Munition und Nahrung versorgte. Väterchen Frost stand mal wieder auf ihrer Seite.
 

| … |
 

„Gilbert!“

Ludwig konnte seine eigene Stimme nicht hören. Eine enorme Explosion erschütterte den Boden. Er kniff die Augen zu und warf sich in den Schnee, ehe der italienische Soldat zu seiner rechten von der Druckwelle umgerissen und gegen seine Brust geschleudert wurde. Splitter und Schrot schossen durch die Luft, erfüllten sie mit einem todbringenden Surren wie von Bienen. Es roch nach Schwefel. Ludwig spürte einen scharfen Schmerz auf Höhe seiner Lendenwirbel und hielt schlagartig die Luft an, um nicht zu schreien. Er konnte nichts hören. Seine Ohren fühlten sich an, als seien sie mit Wasser gefüllt. Von beiden Seiten schrie ihm der Tinnitus entgegen, bohrte sich mit peristaltischen Bewegungen raupenartig immer tiefer in seinen Kopf. Staub regnete auf ihn nieder und verfing sich in seinen feuchten Wimpern. Er hustete, biss sich auf die Lippe. Das Pfeifen in seinen Ohren ließ nicht nach. Nur langsam konnte er die Kriegsgeräusche hinter dem dicken Mantel aus Watte herausfiltern. Die Schüsse. Die Schreie. Das Kreischen der Motoren.

Der Italiener, der an seiner Brust lag, rührte sich nicht. Ludwig konnte spüren, wie sein Herz verzweifelt zuckte, unregelmäßig und fest. Er brauchte Luft, doch selbst ohne bewusst einzuatmen, konnte er den Geruch von faulen Eiern wahrnehmen; er konnte ihn fast schmecken. Panik machte sich in ihm breit. Sein Körper, den er auf totale Selbstkontrolle gedrillt hatte, begann unwillkürlich zu zittern und sich anzuspannen, bis seine Waden schmerzten. Japsend, wie ein Ertrinkender, sog Ludwig schwefelschwangere Luft in seine Lunge und ballte die Hände zu Fäusten. Er musste sich aufrichten. Er musste nach Gilbert sehen. Langsam presste er die Fäuste gegen den schlaffen Körper, der vor seiner Brust lag, und schob ihn von sich weg. Dann erst öffnete er die Augen. Im Kopf des Italieners, kurz über seiner Nasenwurzel, steckte etwas, das wie ein Nagel aussah. Er schien noch nicht tot zu sein. Seine Augenlider zuckten heftig und aus seinem halb geöffneten Mund quoll rot gefärbter Speichel. Er hatte sich ein großes Stück seiner Zunge abgebissen, das hinter seiner unteren Zahnreihe im Blut schwamm.

Vorsichtig hob er seinen Blick und erkannte, dass es kein Staub war, der auf ihn niedergangen war. Es war Sand gewesen. Die Granate hatte ein gut ein Meter breites Loch in die erste Reihe Sandsäcke gesprengt. Den Jungen sah er nicht.

Aber Gilbert.

Ludwig stand auf, dachte im ersten Moment noch daran, sich zu bücken, doch schon im nächsten war es ihm egal. Mit drei, vier großen Schritten stieg er über die Leichen zweier Soldaten. Dort, wo die Granate explodiert war, hatte sie einen Krater in den Schnee gesprengt. Gilbert lag gut vier Meter davon entfernt auf dem Boden. Er hatte seine Mütze verloren. Seine Haare hatten beinahe die gleiche Farbe wie der Schnee.

Ludwig spürte sein Herz nicht mehr. Eine fürchterliche Übelkeit stieg in ihm auf. Das Pfeifen in seinen Ohren vermischte sich mit den Tränen, die ihm in die Augen stiegen, und raubte ihm die Sinne, die er brauchte, um zu begreifen, was geschehen war. Mit einem lauten Heulen warf er sich auf Gilberts Körper. Hastig tastete er seinen Oberkörper ab. Sein Rücken fühlte sich feucht an. Er fühlte keine Löcher in der Kleidung. Vorsichtig rutschte er von ihm runter. Noch immer zitterte und bebte er, seine Bewegungen unkoordiniert, die Finger fahrig. Vor Kälte. Vor Angst. Die Kontrolle entglitt ihm. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, als er die Handschuhe auszog und in den Schnee fallen ließ.

„Gilbert“, wisperte er mit dünner Stimme, die sich in seinem Kopf wie das Rauschen anhörte, dem sie über das Funkgerät gelauscht hatten. Er packte ihn an der Schulter und drehte ihn, nur mit Mühe, auf den Rücken. Die Kraft schien vollkommen aus seinen Gliedern zu weichen. Mit jedem schwefelreichen Atemzug, mit jedem Herzschlag. In dem blassen Gesicht seines Bruders klebte Schnee. Seine Augen waren geschlossen. Er konnte ihn kaum erkennen. Ludwig blinzelte, ehe er seine Augen für einen Moment harsch zukniff und rabiat den Kopf schüttelte, bis der Tinnitus in seinen Ohren wie Wasser zu schwappen schien. Er durfte nicht weinen. Zehn Sekunden gab er sich, um sich zu sammeln. Dann zwang er seinen Körper, das Zittern einzustellen.

Er wischte sich heftig mit dem Ärmel durch die Augen, dann untersuchte er die dunkle Uniform seines Bruders nach Löchern, durch welche die Splitter gedrungen waren. Viel zu spät dachte er daran, seinen Puls zu fühlen. Das Chaos in seinem Kopf wollte sich nicht legen. Hinter ihm, über ihm, überall wurde einfach weiter geschossen. Konnten sie ihm nicht eine Pause, nur eine kleine, verdammte Unterbrechung gönnen? Verstanden sie denn nicht, was hier gerade passiert war? Dass ein Mensch vielleicht starb...?

Er packte an Gilberts Hals und fühlte seinen Puls. Zu seinem Erstaunen ging dieser außerordentlich schnell. Erlöst warf er den Kopf in den Nacken, den Mund offen stehend, einen unidentifizierbaren, hechelnden Laut von sich gebend. Hastig atmend fuhr er sich durchs feuchte Haar, wischte sich den kalt brennenden Schweiß von der Stirn. Dann widmete er sich eilig wieder der Untersuchung des Körpers. An seinem rechten Oberarm spürte er warmes Blut. Die Uniform war zerfetzt, das Unterhemd nur leicht beschädigt. Eine paar Splitter und Nägel waren tief in sein Fleisch eingedrungen, doch das Blut floss nur mäßig. Erleichtert stellte er fest, dass Gilbert die Granate gesehen haben musste, bevor sie explodierte. So ein verdammtes Glück, dachte er, konnte auch wirklich nur sein Bruder haben. Ein paar Splitter hatten ihn am Bauch erwischt doch die dicken Unterhemden und die Weste hatten sie zumindest davon abgehalten, in seine Organe einzudringen. Ludwig hatte gesehen, wie es aussah, wenn die Leber erwischt wurde. Das Blut war fast schwarz. Wie Teer.

Gerade wollte er sich seinen Beinen widmen, als er hörte, wie der ältere einen rauen, röchelnden Laut von sich gab. Fast hätte er ihn gar nicht mitbekommen, das Pfeifen in seinen Ohren wollte und wollte nicht schweigen, doch Gilberts Oberkörper zuckte dabei so stark, dass Ludwig beinahe erschrocken wäre. Er sammelte sich hastig, dann rutschte er neben den Kopf seines Bruders und wischte ihm das Schmelzwasser von den Wangen und die Schneeflocken aus den Augenwinkeln.

„Gilbert, hörst du mich?“ Seine Lunge brannte, als er sprach. Gilberts Lippen bebten, doch er konnte nichts verstehen. Nur Explosionen, Schüsse und lautes Pfeifen. „Gilbert“, hauchte er noch mal. Dann legte er seine Hände auf seine eigenen Ohren, schlug auf die Ohrmuscheln, presste die Handfläche auf sie. In ein Ohr bohrte er unerbittlich mit seinem Finger, um irgendwie einen Druckausgleich zu schaffen. Das verschaffte nur geringfügig Abhilfe. Zumindest in einem Ohr wurde das Pfeifen langsam leiser. Dafür drangen nun vermehrt die Schüsse, die fielen, in sein Bewusstsein zurück.

Er gab es auf und legte eine Hand auf die Brust seines Bruders, die sich wuchtig auf und ab bewegte, als ob es ihm furchtbar schwer fiel, genügend Sauerstoff aus der Luft zu filtern. Seine Augenlider flackerten.

„Gilbert, ich bin direkt neben dir“, sagte Ludwig mit rauer Stimme. „Zeig mir, dass du mich hörst und mach die Augen auf.“

- „Nein“, krächzte Gilbert, gefolgt von einem schmerzerfüllten Röcheln. Ludwig biss die Zähne zusammen.

„Ich will dich hier weg schaffen. Aber dabei musst du mir helfen. Kannst du laufen?“

- „N-nein.“ Sein Bruder kniff die Augen zu und presste die Lippen aufeinander. Seine Nase lief und schlug Blasen, als er hastig durch diese ein- und ausatmete. Ludwigs Mund fühlte sich trocken an, trotzdem musste er schlucken.

„Wir können nicht hier bleiben.“

„Ludwig -“ Gilberts Stimme klang unglaublich schrill. Seine Hände zuckten. Als er seinen rechten Arm heben wollte, zischte er auf und ließ ihn wieder sinken. Die linke Hand bewegte er langsam seinen Oberschenkel hinauf. „Ludwig... Es... tut echt weh...“

Ludwigs Blick folgte seiner Hand. Das rechte Hosenbein hatte überall kleine Risse, das linke war an einigen Stellen vollkommen aufgefetzt. Der Reißverschluss seiner Hose war in der Mitte gerissen. Aus seinem Schenkel und Schritt quoll dunkles Blut, das sich im Schnee zwischen seinen Beinen sammelte.
 

Über einer Schulter trug er beide Waffen, seine und Gilberts. Über der anderen trug er seinen Bruder. Er hatte seine Handfeuerwaffe gezogen, die nicht halb so schwer war wie das Gewehr, und sie entsichert, um sich im Notfall verteidigen zu können. Zum ersten mal in seinem Leben hatte die Flucht erste Priorität. Dass er seinen Männern den Rückzug befohlen hatte, schmerzte ihn sehr, doch als er sah, dass nur gut die Hälfte der ursprünglichen Zahl ihnen folgte, war er beinahe erleichtert, diese Entscheidung getroffen zu haben, auch wenn er nicht wusste, ob seine Männer gefallen oder noch mitten im Dauerbeschuss waren. Noch immer schmerzte sein Rücken. Er war sich sehr sicher, dass auch er von etwas getroffen worden war. Mit jedem Schritt schien sich etwas scharfes, spitzes tiefer in sein Fleisch zu fressen.
 

Der Junge hatte drei Meter von den Sandsäcken entfernt auf dem Boden gelegen. Erst hatte er ihn nicht erkannt. Sein Gesicht war nicht mehr als ein Wulst aus Fleisch und Blut gewesen, aufgequollen, lippenlos. Zwischen seinen Zähnen hatte der Stift einer Handgranate gesteckt. Ohne nachzudenken hatte Ludwig seine Hundemarke an der Sollbruchstelle gebrochen und die eine Hälfte in die Tasche seiner Uniformjacke gesteckt. Eine Nummer, eine Blutgruppe. Kein Name.
 

Ruki vverkh!“ brüllte Ludwig und zielte mit seiner Waffe in einen Hauseingang. Die Hand, mit der er Gilbert auf seiner Schulter festhielt, fühlte sich mittlerweile schmierig und feucht an. Die russische Familie, die in der Stube des Hauses saß, in das er zielte, nahm wie befohlen die Hände hoch und rückte zusammen, die Augen angstgeweitet. „Provalivaĭ!“ rief er und schob sich, nachdem er die Ecken gesichert hatte, in den Raum. „Provalivaĭ! Vse podryad!

Die Russen reagierten nicht, sahen ihn nur stumm und entgeistert an. Der jüngste Sohn begann leise zu weinen. Schwerfällig legte er Gilbert auf dem Boden ab, der ein leises Seufzen von sich gab. Ludwigs Russisch war mehr als schlecht. Vielleicht hatte er sich falsch ausgedrückt. Sie sollten alle den Raum verlassen, geordnet. Ob sie im Haus blieben oder ganz verschwanden war ihm erst einmal egal. Er hatte kein Interesse daran, Zivilisten zu töten aber eigentlich wollte er nicht riskieren, von ihnen angegriffen zu werden.

Ein paar Mann seines Sturmbanns und zwei Wehrmachtssoldaten folgten ihm in die Stube und richteten ihre Gewehre auf die Familie.

„Wie lautet der Befehl?“ fragte einer der Älteren. Ludwig sicherte seine Waffe und spähte hinüber zum Eingang. Ein paar Straßen weiter fielen Schüsse, explodierten Granaten. Dort wurde gekämpft. So lautete der offizielle Befehl. Verluste akzeptieren. Verletzte lieber töten, als sie verrecken zu lassen. Kein Rückzug. Angriff.

„Zwei von euch suchen das Haus nach Waffen, Verbandszeug, Medizin und Essen ab! Einer sperrt die Familie im Keller ein und bewacht die Tür! Wer will, kann zurückgehen und kämpfen, aber drei von euch brauche ich erst einmal hier.“

Die Soldaten sahen sich an, dann nickten sie, gaben den Befehl nach draußen weiter und teilten die Aufgaben untereinander auf. Der greise Wehrmachtssoldat widmete sich dem Wegsperren der Familie, wobei er Ludwigs Provalivaĭ in äußerst aggressivem Tonfall immer wieder wiederholte; vermutlich ohne zu wissen, dass es raus hier bedeutete. Zwei der vergleichsweise jüngeren Soldaten, beide etwa Mitte dreißig, begannen, die Stube und die anderen Räume zu durchsuchen. Als Ludwig sich zu Gilbert hockte, merkte er, dass die anderen Soldaten zögerten. Er konnte ihnen ansehen, dass es ihnen nicht gefiel, wie er seinen Befehl formuliert hatte.

Wenn sie wollten, konnten sie zurückgehen und kämpfen.

Was bedeutete es für sie, wenn sie blieben, außer, dass sie damit wahrscheinlich ihren Tod etwas verzögern konnten? Was sagte das über ihre Motive, ihre Liebe zum Vaterland, für das sie kämpften, und ihre Zuverlässigkeit, ihr Verantwortungsgefühl, ihre Prägnanz, ihre Gehorsamkeit dem Führer gegenüber?

Ludwig knöpfte die Uniform seines Bruders auf. Solange der Obersturmbannführer außer Gefecht gesetzt war, hatte er das Kommando.

„Wer noch von meinem Sturmbann übrig ist, bleibt hier. Ich brauche noch drei Leute, die mir mit dem Herrn Obersturmbannführer helfen. Und mindestens einer muss mir Decken und Kissen holen“, sagte er mit barscher Stimme. Seine blauen Augen hatten die Soldaten an der Tür fixiert. „Drei oder vier sollten sich innen vor die Tür setzen und sie bewachen. Die Wehrmacht hat andere Befehle. Zurück an die Front. Verstanden?“

„Jawohl, Herr Sturmbannführer“, antworteten sie desolat.
 

„Wir haben noch ein Panzerkorps in petto.“

Ludwig hatte sich an die Wand gelehnt und lauschte den Gesprächen seiner Männer. Draußen schwiegen die Kanonen noch immer nicht. Es war mittlerweile dunkel geworden und wahrscheinlich längst nach Mitternacht. Unaufhörlich fiel der Schnee wie ein weißer Vorhang vorm Fenster, angestrahlt durch die Kerzen, die sie aufgestellt hatten, um den Generator zu schonen.

„Sie stehen hier in Scheunen bereit. Zwar tschechische Panzer aber immerhin besser als gar nichts.“

„Und sobald es zu schneien aufgehört hat, bekommen wir auch wieder Nachschub an Munition. Panzerfäuste bräuchten wir. Und Granaten.“

„Ja. Das Ding ist immer noch zu gewinnen.“

„Ja, es sah schon mal schlechter aus. Vielleicht schicken sie die Luftwaffe. Dann können unsere Leute die Arschlöcher vor der Stadt platt machen.“

Die Arschlöcher vor der Stadt. Ludwig legte sich auf die Seite und blies die Kerze aus, die an Gilberts Kopfende lag. Sie hatten ihn auf Laken gebettet, seine Wunden versorgt und mit zwei dünnen Decken vor der Kälte versucht zu schützen, die durch alle Ritzen drang. Der greise Soldat, Johan Frisch, hatte Ludwig mit einem Messer den Querschläger aus dem Muskelfleisch am Rücken geholt, der ihn getroffen hatte. Erst dann hatte es ordentlich zu bluten begonnen und pochte wild im Rhythmus seines Herzschlags, aber seine Verletzungen waren gar nichts im Vergleich zu dem, was Gilbert durchstehen musste.

Aus seinem rechten Oberarm hatten sie vier Nägel und einige Metallsplitter gezogen, die auch in seinem Bauch steckten, allerdings dort etwas oberflächlicher und leichter zu entfernen. Anfangs hatten sie ihn dauernd davon abhalten müssen, sich unbewusst am Bauch zu kratzen, während er in seiner erlösenden Ohnmacht vor sich hin dümpelte. Seine Oberschenkel waren seinem Oberarm, mit dem er sein Gesicht geschützt hatte, sehr ähnlich. Die Nägel und Splitter steckten tief im Fleisch aber Frisch, der bereits im ersten Weltkrieg gedient hatte, hatte offenbar gute Improvisations-Lazarett-Erfahrung entwickelt und neben einigen kleinen Splittern ganze acht Nägel und vier Metallstücke herausoperiert.

Von Gilberts linkem Hoden war fast nichts mehr übrig. Sie hatten ihn mit einem Stück Draht abgebunden und so die Blutung gestillt. Seine Vorhaut war an einigen Stellen so tief eingerissen, dass man bis auf das Fleisch blicken konnte.
 

„Worüber reden sie?“ Gilberts Stimme klang rauchig und unglaublich dünn. Ludwig rückte etwas näher an ihn heran und legte seinen Kopf zu ihm auf das Kissen. Sein Tinnitus war zu einem leisen Singen verkommen, trotzdem fiel es ihm schwer, seinen Bruder zu verstehen. Er bekam kaum seine Lippen auseinander.

„Darüber, dass wir gewinnen werden“, antwortete Ludwig und zog Gilberts Decke bis zu seinem Hals hoch. Die Hand ließ er auf seiner Brust liegen.

„Werden wir das?“

„Wenn du weiter kämpfst, können wir dann überhaupt verlieren?“ Ludwigs Stimme klang sarkastischer, als er es beabsichtigt hatte, doch seine Worte hatten ihren gewünschten Effekt. Gilbert öffnete langsam seine roten Augen. Seine Mundwinkel zuckten leicht in die Höhe. Dennoch wirkte seine Mimik steif vom Schmerz. Sie hatten kein Morphium mehr. Nicht einmal etwas ähnliches.

„Wie steht's um mich, Doktor?“

„Nicht schlecht“, murmelte Ludwig und drückte seine Stirn gegen die seines Bruders. Sie fühlte sich feucht und kalt an. „Du überlebst es. Wirst jetzt weniger Probleme haben, wenn du deine Beine übereinander schlagen willst.“

Gilbert lachte schnaubend. Er sah traurig aus. Ludwig konnte sehen, wie seine Hand unter der Decke in seinen Schritt wanderte.

„Scheiße... Scheiße, Ludwig...“

„Ja“, antwortete er. „Scheiße.“

„Die Frauen werden es lieben, hm?“

Gilbert kniff die Augen zu. Dann drehte er langsam seinen Kopf weg. Ludwig schob seine Hand zu dem Kinn seines Bruders. Es fühlte sich rau und unrasiert an. Vorsichtig legte er eine Hand auf seine Wange.

„Wenn wir hier raus kommen, wird das alles richtig behandelt. Dann wirst du wahrscheinlich beschnitten, sagt der Alte. Aber das ist nicht selten, aus medizinischen Gründen. Das heißt nicht, dass du irgendwie... eingeschränkt wirst.“

Er lehnte sich an ihn, als er spürte, wie seine Brust zu beben begann. Ludwig schluckte schwer und presste die Lippen aufeinander. Er fühlte, wie die Traurigkeit wieder von ihm Besitz ergriff. Es war mehr als ungewohnt, seinen Bruder so zu sehen. Zu spüren, wie sein Körper sich gegen die Tränen wehrte, die sich aus ihm heraus kämpfen wollten.

„Dann sehe ich nackt aus wie ein Jude, hm?“ brummte er leise.

„Du hattest nie was gegen Juden, Gilbert.“

„Ja“, sagte er. „Ja. Ich hatte nie was gegen Juden...“
 

[tbc]



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von: abgemeldet
2012-05-26T14:13:44+00:00 26.05.2012 16:13
Wahnsinns FF. Hätte nie gedacht, dass man so etwas Mal auf Deutsch zu lesen muss und nicht dafür auf Englischen Seiten rumsuchen muss. Die Kriegsdarstellung ist gerade zu perfekt und genauso grob und chaotisch wie es sein sollte.
Ich bin kein sonderlich bewanderter Kommentarschreiber und wollte daher eigentlich nur mein Lob ausdrücken und sagen, dass ich die Geschichte definitiv gerne weiter verfolgen werde (:
Von:  Romano
2012-04-28T17:59:55+00:00 28.04.2012 19:59
Ich meine mich eigentlich daran zu erinnern dir gesagt zu haben was ich über das Kapitel denke, aber ich glaube ich war einfach müde und habe es nur geträumt oder es war wieder so eine Situation a lá ich rede mit mir selbst xD
Wie auch immer, es geht um das Kapitel!
Erst mal - Yeah, Ivan~ Endlich taucht er mal auf und ist NICHT der Bösewicht, oder zumindest nicht so wirklich weil, im Krieg gibt's die ja nicht. Aber ich freu mich natürlich trotzdem das er schon jetzt erscheint auch wenn er hauptsächlich nur da steht und einfach viel zu sehr damit beschäftigt ist unglaublich köstlich zu sein ;)
Oder auch nicht xD
Und Gilberts und Ludwigs Lage spitzt sich ja nun immer weiter zu~ Spannend, also wirklich und nicht so spannend~ wie in Deutscher Welle Polen. Gilberts Verletzungen sind ja ziemlich heftig, der kann wirklich froh sein das er nichts in die Fresse bekommen hat obwohl vermutlich niemand mit ihm tauschen vollen würde.
Gut finde ich natürlich auf, das du am Ende des Kapitels noch einmal darauf hinweist das beide nicht im Krieg sind, weil sie den Hass auf die Juden teilen sondern wegen ihres Landes kämpfen, weniger hinter den Politikern.
Das war mir persönlich sehr wichtig *nodnod*
Außerdem finde ich es gut wie du auf ihre enge Bruderbeziehung eingehst sie aber nicht verweichlichst - ich mag es wenn beide mal nicht die ganze Zeit die harten Kerle sind aber auch nicht die heulenden Weicheier...
Ich freu mich schon auf das nächste Kapitel ;)


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