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Federschwingen

von

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Nathan hatte wieder einmal nicht genug Energie übrig, um einfach so von Kyries Zimmer aus in den Himmel zurückzukehren – natürlich nicht, er hatte sie schließlich gerade eben dorthin eskortiert! Direkt vom Himmel aus. Auf einen solch tiefen Punkt der Erde. Es war einfach ein Jammer, dass sogar zukünftige Todsünden einen Weg zu Fuß zurücklegen mussten! Sie luden sich im Himmel zwar schneller wieder auf als normale, schwache Engel – aber dennoch!

Er erklomm das leer stehende Gebäude, breitete seine Flügel aus und machte sich auf in den Himmel. Er suchte sich eine Stelle nahe dem Turm der Ränge aus, sodass er es hier zumindest nicht mehr allzu weit hatte.

Er hatte Kyrie noch einmal zu erklären versucht, dass das Schwert eigentlich komplett gleich zu beschwören war wie die andere Magie – nur dass es eben länger anhielt und … Na gut, es war schon ein klein wenig komplizierter, aber trotzdem!

Er flog den großen, protzigen, goldenen Turm entlang nach oben – das Fenster stand bestimmt noch offen – und sein Ziel lautete Acedia. Er würde von dem Angriff auf Kyrie erzählen – und von den Maßnahmen, die er jetzt traf. Die Todsünden – unter anderem jene vor Acedia … ob Superbia wohl damals schon dabei gewesen war? – hatten damals einstimmig beschlossen, dass der Aufwand, den Halbengeln einzeln die Schwertkunst beizubringen, erstens zu zeitfressend und zweitens zu unnütz war. Dass solch ein schwerer Übergriff auf einen Halbengel vorkam, geschah selten – war natürlich klar, dass es bei ihm passieren musste! Jetzt hatte er eine völlig verängstigte Kyrie … Das Mädchen tat ihm so leid. Auch wenn er in der Nähe war – sie hatte doch immer Angst. Angst. Im Himmel. Wer auch immer dieser Xenon und dieser Jeffrey Millians - und wie sie alle hießen - waren …! Mit Acedias Hilfe würde er sie wohl kriegen. Hoffentlich. Immerhin war sie eine Todsünde. Und solche Fälle fielen doch direkt in den Aufgabenbereich der Todsünden. … Also würde es irgendwann seine Aufgabe sein, diese Verbrecher hinzurichten. Juhu.

Gerade als er durch das Fenster einsteigen wollte, kam jemand daraus hervor. Noch eine kluge Seele! Der Assistent von Invidia. Wie war gleich sein Name? Der blonde Engel mit den blauen Augen nickte ihm kurz zu. „Schon gehört? Gestern Nacht sind gleich zwei geboren worden“, sagte der Assistent, während er sich wieder zurück in den Raum begab und wartete, bis Nathan durch das Fenster gestiegen war. Nathan seufzte. „Acedia wird sich freuen.“

„Invidia ist auch immer so begeistert“, antwortete der Engel mit der klaren Stimme, „Vor allem, weil ich schon der nächste wäre.“

„Na ja, nur noch fünf, dann bin ich schon wieder dran“ Nathan grinste und stellte sich auf den Boden. Der Engel blieb noch immer vor dem Fenster stehen. Scheinbar war der gerade in Plauderlaune.

„Du scheinst ja noch mit deiner letzten zu tun zu haben“, antwortete der Mann, wobei er kurz seine Zähne zeigte.

Sollte das ein Grinsen gewesen sein?

„Und das erinnert mich gerade an etwas“, fügte Nathan schnell hinzu, „Ich muss ja weiter an die Arbeit. Danke für die Information!“ Er grinste. An ihn selbst sandte kaum einer die Nachricht einer Neugeburt. Nathan musste immer hoffen, dass er zufällig einem Assistenten begegnete oder dass diese ihm Nachrichten hinterließen, die er dann an Acedia weiterleiten konnte, welche daraufhin ausrastete – wie immer eben!

„Kein Ding, Nathan“, sagte er und winkte ihm kurz zu, ehe er durchs Fenster verschwand.

Wie war sein Name noch gleich? Egal.

Nathan flog den Gang entlang, bis er Acedias Büro erreichte, in welches er, ohne zu klopfen, eintrat.

„Wann lernst du das mit dem Klopfen endlich?“, ertönte Acedias ungehaltene Stimme. Sie wandte sich nicht zu ihm um. Sie saß auf ihrem Stuhl und starrte auf irgendeine Arbeit auf ihrem Tisch.

„Du bist ja hier“, stellte Nathan überrascht fest – ihre Frage ignorierend, „Heute Nacht gibt es wieder Arbeit für dich. Im Doppelpack.“

Sie seufzte. „Ich versuche, pünktlich zu kommen“, versprach sie ihm. Noch immer ohne aufzusehen. Sie musste ja wirklich wichtige Dokumente vor sich haben.

„Wie sieht es mit Luxuria aus?“, wollte sie nach wenigen Momenten von ihm wissen – sie wandte sich zu ihm und schaute ihn fragend an.

„Ich bin noch auf der Suche nach Indizien“, erklärte er ihr, wobei er durch das Büro schritt und sich dann auf seinem Platz fallen ließ, „Hilfreiches ist noch nicht dabei.“ Er war noch immer nicht sehr weit gekommen. Je weiter er in der Zeit zurückging, desto weniger oft waren Leute verschwunden. Die meisten in den letzten hundert Jahren.

„Verstehe …“ Sie seufzte.

„Aber ich habe dafür etwas anderes für dich!“, sagte er mit fester Stimme, „Es geht um den Halbengel – Kyrie. Sie …“

Acedia unterbrach ihn barsch. „Habe ich dir nicht gesagt, dass es mich nicht interessiert?“ Erneut entrann ihr ein Seufzen. „Ich habe Besseres zu tun, als mich um eine Einzelne zu kümmern. Ich kümmere mich tagtäglich um das Wohl des gesamten Himmels.“

„Aber sie wurde …“, versuchte er fortzusetzen.

„Das ist nicht wichtig“, fuhr sie ihn an, „Eine Todsünde ist verschwunden und taucht einfach nicht mehr auf. Sie hat keinen Nachfolger und uns fehlt eine Stimme, um eine neue Todsünde wählen zu lassen. Das sind wahre Probleme.“ Sie schnaubte. „Du wirst irgendwann zu einer Todsünde. Lerne, mit Problemen umzugehen. Deshalb hast du einen Halbengel – er zählt für dich als Himmel. Dein Praktikum. Mach etwas daraus – einige andere sind nie in den Genuss einer solchen Übung gekommen.“

Aufgrund ihres barschen, genervten und vor allem schnappenden Tons war es Nathan nicht möglich zu reagieren. So etwas war er von ihr einfach nicht gewohnt. Es war schlichtweg … seltsam. Sie wirkte beinahe … überfordert. Verzweifelt. Als brauchte sie nicht noch ein Problem mehr zu all ihren Problemen. Aber worin lagen ihre Probleme?

„Ist etwas geschehen?“, fragte Nathan betroffen. Vielleicht konnte er ja helfen? Auch wenn sie sich weigerte, ihm zu helfen … aber sie hatte Recht. Kyrie stand unter seinem Schutz. Also würde er sie beschützen. Auch wenn so ein Übergriff mit Erinnerungsklau dennoch in den Bereich der amtierenden Todsünden fallen würde! Aber … wie dem auch sei …

Acedia schüttelte den Kopf. „Vergiss es einfach und gehe jetzt.“

„Aber ich sehe doch, dass …“

„Die Konferenz ist beendet.“ Sie erhob sich, ordnete die Zettel, die sie vor sich verteilt hatte, und flog dann aus dem Büro, wobei sie die Tür hinter sich zufallen ließ.

Nathan starrte ihr perplex nach. Okay? Hatte sie schlecht geschlafen?

Er ging zu den Zetteln, die sie gerade noch bearbeitet hatte und überblätterte sie.

Sie schienen gar nicht so wichtig, als dass sie sie so mitnehmen würden. Nur einige Anklagen wegen Erinnerungsraubes der letzten Jahrhunderte, Listen über Verschwundene und noch einige Listen von Halbengelgeburten. Einige viele Listen davon. Sie hatten sie alle festgehalten. All jene ermordeten und nicht ermordeten Halbdämonen …

Nathan verstand den Sinn dahinter wirklich. Ernsthaft. Aber … er verstand auch, weshalb man all seine Gefühle für diese Arbeit ablegen musste. Ob es Acedia wirklich gelungen war, ihre Gefühle abzulegen? Immerhin hatte sie nie einen Halbengel gehabt. Entsprechend hatte sie nie die zwanzig Jahre Pause von allem erlebt, das ihr wichtig war. Zwanzig Jahre der Trennung … in dieser Zeit begann man zu verstehen, was es bedeutete, eine Todsünde zu sein. Opfer zu bringen.

Nathan rollte seine Schultern. Na ja – er sollte arbeiten. Er musste heute immerhin noch Kyrie abholen und dann seinen besten Freund anfeuern!
 

Nachdem sie bereits ihre Mutter zum Weinen gebracht hatte – vor Glück natürlich – und ihr Vater ein so erleichtertes Seufzen ausgestoßen hatte, dass sie darüber beinahe hätte lächeln müssen, ging es sogar im Studium weiter: Derjenige Student, von dem sie sich zuvor die verpassten Unterlagen ausgeliehen hatte, hatte sie auf ihren Arm, der plötzlich wieder ganz normal und problemlos funktionierte, angesprochen!

Bei ihren Eltern fiel ihr die Erklärung denkbar einfach: Nathan hatte ihr bewiesen, dass der Himmel jede Art von Verletzung heilen konnte – sogar unheilbare. Ihre Eltern hatten daraufhin natürlich wieder ein Gotteslob ausgesprochen und versprachen ihr, in der Kirche heute doppelt so kräftig – war das überhaupt noch möglich? – zu beten.

Bei ihrem Mitstudent war es etwas anderes – sie konnte ihm nichts vom Himmel erzählen. Und wenn es einem unwichtigen Nebencharakter ihres Lebens auffiel … wie könnte es Ray dann ignorieren? Sie brauchte dringend eine Ausrede! Also hatte sie dem Mitstudenten Folgendes aufgetischt: Sie hatte die letzten Tage Tabletten eingenommen, welche allerdings erst in Testphase gewesen wären, was also an sich ein Risiko dargestellt hätte, und dadurch hätten sich ihre Nervenbahnen wieder beruhigt. Sogar die Ärzte wären von dem Ergebnis überrascht gewesen!

Jener Kollege hatte keine andere Wahl gehabt, als ihr Glauben zu schenken. Ray würde es hinterfragen. Vielleicht sogar selbst ausprobieren wollen … Was sollte sie ihm sagen?

Kyrie packte gemächlich ihre Unterlagen ein, während sie sich gedanklich dem Problem stellte. Aber sie kam einfach zu keiner adäquaten Lösung!

Sie verließ das Universitätsgebäude und schlenderte den Weg entlang. Den vielen Menschen hier war es gar nie aufgefallen, dass ihr Arm sich nicht mehr geregt hatte – und so fiel es ihnen vermutlich auch nicht auf, dass sie genau jenen Arm gerade abbog und damit ihre Tasche am Rücken behielt, während sie den anderen Arm locker umher schwang. Nein, all diesen Leuten wäre es auch komplett egal, wenn sie gar keinen Arm mehr besitzen würde.

Je näher sie Ray kam, desto nervöser wurde sie – allerdings war es ihr nicht möglich, langsamer zu werden, da sie dadurch wertvolle Zeit verlieren würde. Und sie musste sowieso noch Zeit nachholen! Also … vielleicht … Keine Ahnung!

„Kyrie!“, rief er erfreut, während er dort auf dieser Mauer saß, seine Tasche unten am Boden lagernd und mit seiner unbeschädigten Hand winkend.

Sie eilte zu ihm, legte ihre Tasche ab und platzierte sich neben ihm. Sie lächelte. „Wie geht es dir?“

„Moment“, unterbrach er sie und begutachtete sie von oben bis unten, „Du … wirkst verändert“, bemerkte er kühl, „Wieso funktioniert dein Arm wieder?“ Plötzlich weiteten sich seine Augen. „Wieso funktioniert dein Arm wieder?!“, wiederholte er hocherfreut, „Dein Arm funktioniert wieder!“ Er grinste. „Hey! Die Therapien scheinen es gebracht zu haben? Toll!“

Erleichterung überkam sie. Die Therapien! Wieso war sie nicht auf so etwas Einfaches gekommen? „Es war doch nicht so schlimm, wie sie am Anfang geglaubt haben“, log sie ihn eiskalt an. Nein – nein. Es war eine Beruhigung! Eine plausible Bestätigung – eine … eine Lüge … Wie sollten sie je wahre Freunde werden, wenn sie ihn doch nur die ganze Zeit belügen musste?

Er klopfte ihr anerkennend auf die Schulter. „Toll! Funktioniert er wieder komplett? Das ist ja schnell … Wow“ Er strahlte sie an. „Ich freue mich so für dich!“

Sie lächelte zurück. „Danke, Ray …“ Wieso konnte sie ihm nicht dieselbe Heilmethode schenken? Sie wollte ihn so gerne mit in den Himmel nehmen … Ehrlich zu ihm sein …

„Du wirkst bedrückt“, stellte er plötzlich fest.

„Ich … mir tut es leid …“, begann sie zu murmeln, stoppte sich aber. War das nicht dumm? Dumm zu glauben, dass sie ihm helfen könne? Müsse? „… Ich wollte so gerne, dass es deinem Arm auch wieder besser ginge.“

Mit dem unverletzten Arm machte er eine abwinkende Bewegung. „Ich bin es gewöhnt. Das ist bereits ein Teil von mir.“ Er schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln. „Es ist einfach schön zu sehen, dass sich das Medizinstudium doch bringen wird. Irgendwann werde ich jedem helfen können.“ Sein Blick richtete sich gen Himmel. „Beispiele wie ich lassen mich zweifeln. Du hingegen.“ Er widmete ihr einen fröhlichen Seitenblick, „Du lässt mich hoffen und träumen. Und vor allem bestätigst du mir, dass Sinn hinter dem steckt, was ich tue.“

Sie starrte ihn verwirrt blinzelnd an. So sah er das also … Auch er zweifelte an seinem Tun. An seinem verrückten Tun! Doch er zeigte es nicht. Und damit überzeugte er sich selbst. Bis zu jenem Moment hatte sie nie an seinem Plan, die Welt zu verändern, gezweifelt. Er wirkte einfach, als könne er Großes vollbringen.

Plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Er runzelte die Stirn. „War das komisch, was ich gerade gesagt habe?“

Sie lachte laut los. Und er stimmte mit ein.
 

Als Kyrie in ihrem Zimmer saß, überkam sie wieder dieses seltsame, bedrückende Gefühl. Was würde sie tun, wenn sie Xenon oder einen der anderen treffen würde? Oder schlimmer: Wenn diese sie treffen würden? Nathan war bei ihr … aber … sie könnten sie auch verfolgen! Sie könnten sie bei sich zuhause umbringen … Oder all ihre Erinnerungen aufsaugen. Und sie? Sie schaffte es noch nicht einmal, ihr Schwert hervorzurufen! … Sie hoffte einfach, dass diese Leute ihr niemals wieder begegnen würden! Sie würde ihnen sowieso nicht ihre Erinnerungen nehmen wollen. Das wäre doch … grausam. In das Intimste des Menschen einzudringen … das war … pervers, abartig …

Und doch musste sie es lernen, wenn sie leben wollte. Es war die einzige Chance, sich zu verteidigen. Und wenn sie sich verteidigen konnte, dann konnte sie alt werden und irgendwann auf ihr Leben zurückblicken und davon überzeugt sein, dass sie alles richtig gemacht hatte.

Sie durfte das Schwert nicht so als … als Feind betrachten. Natürlich überschritt es sämtliche ihrer Prinzipien und war das Zeichen des Krieges, aber … es war in einigen Fällen auch ihr Freund und Helfer. Und als solchen wollte sie es auch benutzen. Als Freund.

Plötzlich erschien eine Lichtgestalt vor ihr und ihr Herz begann, wild zu schlagen. Nathan. Also würde es bald wieder in den Himmel gehen.

„Gegen deine Nervosität müssen wir dringend etwas unternehmen“, erklärte Nathan als Begrüßung, während er seine Flügel einzog, „Ich denke, sie hemmt dich.“ Er verschränkte die Arme vor ihr und seine blauen Augen durchbohrten sie. „Willst du wirklich und tatsächlich aus tiefsten Herzen wieder in den Himmel?“

Ohne lange zu überlegen, nickte sie. „Ich will in den Himmel. Ich will leben – ich will keine Angst haben“, sagte sie ihm, „Aber … ich habe Angst. Furchtbare Angst.“ Ihr Blick ging zu Boden.

Nathan seufzte. „Wir werden schon eine Lösung finden. Wenn du Xenon oder so findest, dann sagst du es mir – und ich kümmere mich um seine ganze Meute! Ich bin immerhin dein Beschützer.“ Er grinste. „Und jetzt bin ich gerade dein Begleiter zu deinem ersten Spiel!“


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo! Fast pünktlich! Aber besser als die letzten XD

Danke fürs Lesen! *^* Ich freue mich noch immer, wenn es euch gefällt *^*

Liebe Grüße
Geni Komplett anzeigen

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