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Federschwingen

von

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John hatte sich Nathans Tipp zu Herzen genommen – er hatte Kyrie nicht angesprochen. Aber eigentlich eher unfreiwillig. Seine Tochter entfernte sich von ihm. Früh morgens war sie manchmal nicht anwesend, weil sie noch im Himmel war, andere Male war sie zu müde, um ein ordentliches Gespräch zu führen – ihr Gesichtsausdruck verriet ihm da immer, vorsichtig zu sein. Das hatte sie dann wohl von seiner Frau geerbt.

Nachdem sie sie bei der Universität abholten, war Ray dabei – und vor ihm konnte er dieses Thema nicht anschneiden. Und bis Ray gegen Abend ging, blieb das auch so. Kyrie brachte Ray wieder nach draußen und eilte daraufhin tagtäglich in ihr Zimmer zurück, weil sie wusste, dass alsbald Nathan auftauchen würde. Und wenn sie diese Hektik ausstrahlte, wollte er sie ebenso nicht stören.

Und wenn sie in der Nacht zurückkehrte, während John noch wach war, und er sich nach dem Himmel erkundigen wollte, folgte täglich dieselbe Antwort: „Der Himmel ist toll. Gute Nacht.“ Und daraufhin verschwand sie wieder in ihrem Zimmer und Nathan verabschiedete sich bereits an der Tür, ohne sich weiter bei ihnen bemerkbar zu machen.

Sah es so aus, wenn man seine Tochter auf eigenen Beinen stehen ließ? Dass sie an einem vorbei lebte? Dass man kaum mehr Zeit mit ihr verbrachte? Dass sie kaum mehr mit einem sprach? Als sie von Mirabelle zurückgekommen war, hatte sie sie begrüßt, ihnen bestätigt, dass es der alten Frau gut ging und dass sie zurückgeflogen waren unter dem Wolkenhimmel. Das war alles, mehr nicht. Magdalena hatte danach gefragt, wie man von dort oben sah, ob alles wunderschön wäre. Ob man sich fühlte, wie im Traum. … Kyrie hatte nur gelächelt und genickt. Sie hatte ihnen keine weitere Erklärung gegeben.

Und danach hatte es kaum mehr Zeiten gegeben, in denen sie miteinander sprechen hatten können. Damals beim gemeinsamen Essen an Magdalenas Geburtstag hatte sie den Kopf geschüttelt und sie daran erinnert, dass das ein Geheimnis bleiben solle und man es darum nicht in der Öffentlichkeit besprach.

Danach hatten sie nicht mehr gefragt.

Wenn Nathan Recht hatte, würde sie irgendwann anfangen, ihnen ihre Gedanken und Gefühle wieder mitzuteilen. Irgendwann würde sie sich daran erinnern, dass sie sie brauchte – dass sie ihnen alles sagen konnte, was sie wollte! Sie brauchte keine Geheimnisse zu haben. Sie waren ihre Eltern – sie wollten alles über sie wissen. Sie unterstützten sie doch nur!

Kyrie saß am Beifahrersitz, nachdem sie Magdalena hatten aussteigen lassen. Heute war die Sonntagsmesse ausnahmsweise im Südblock angesetzt, weil im Westblock die Tür kaputt gegangen war und es deshalb unangenehm zog. Das Schlimmste daran war, dass der Winter angekommen war. Hoffentlich würde es nicht schneien. Dann war das Autofahren umso ungemütlicher. Sie mussten sogar im Auto noch ihre Mäntel und Mützen tragen, um nicht zu frieren.

Jetzt waren sie alleine. Es war fast acht Uhr morgens. Und keiner sagte ein Wort. Wäre es da nicht gut, mit ihr darüber zu reden? Oder sollte er lieber Schweigen bewahren?

„Kyrie?“, sprach er sie an. Er widmete ihr einen kurzen Blick. Sie schaute zu ihm, wirkte aber müde. Er hatte sich entschieden: Er wollte ihr klarmachen, dass sie ihm vertrauen konnte. Er war immerhin ihr Vater!

„Ja?“, antwortete sie ruhig.

„Ich hoffe, dass du weißt …“, begann er langsam, „… dass du mir vertrauen kannst. Dass du vor mir keine Geheimnisse zu haben brauchst.“ Er hielt kurz inne, in der Hoffnung, eine Antwort zu erhalten. Als diese ausgeblieben war, fuhr er fort: „Du kannst mir vertrauen. In jeder Hinsicht deines Lebens.“

„Verhalte ich mich so seltsam?“, wollte sie leise von ihm wissen.

„Anders“, entgegnete er lächelnd, „Du verhältst dich anders als früher.“

„Und das ist schlecht“, schlussfolgerte sie sachlich.

„Nicht unbedingt schlecht“, sagte er schnell, „Nur … nicht du.“

Er spürte ihren Blick auf sich, doch der Verkehr bannte seine Aufmerksamkeit. Er konnte doch keinen Unfall riskieren!

„Nicht … ich?“, wiederholte sie überrascht.

„Also – egal worum es geht. Rede mit mir“, schlug er ihr vor.

„Ich … habe nichts zu verbergen …“, erklärte sie kleinlaut. Auch wenn ihre Stimme vor Unsicherheit nur so strotzte. Sie log.

„Du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen“, wies er sie an, „Ich bin dein Vater. Ich bin glücklich, wenn du glücklich bist.“ Jetzt fühlte er sich stark. Er konnte mit ihr darüber reden! „Wenn du also für immer in Gottes Reich bleiben möchtest, tu das. Deine Mutter und ich wären stolz!“

Sie sog stark und hörbar die Luft ein. „Das würde …“, begann sie kaum hörbar, „Das würde …“ Sie brach ab.

Jetzt wagte er doch einen Blick zu ihr, sie schüttelte ungläubig den Kopf.

Also wollte sie das gar nicht? Hatte er ihr Verhalten falsch gedeutet? Oder … war ihr dieser Ray im Weg?

„Würde dir das nicht gefallen, für lange Zeit im Himmel zu sein?“, fragte er gerade heraus.

„Ja“, sagte sie sehr schnell, „Ja, das ist es! Ich will nicht. Der Himmel ist wunderschön und toll, aber … ich kann doch mein Studium nicht einfach abbrechen und euch alleine lassen oder Ray …“

Also wirklich Ray. Für ihn würde sie also auf der Erde bleiben.

John unterdrückte ein Seufzen. „Ich will dich nicht unglücklich sehen“, meinte er.

„Mach dir keine Sorgen“, bat sie ihn, „Ich weiß, was ich tue.“
 


 

Ray schaute sich die Gestalten an, die im Bahnhof hin und her liefen. Sie alle waren eingepackt, als hätten sie mit einem Schneesturm zu kämpfen, dabei waren nur die Grade gefallen. Diese Stadtbewohner waren auch verwöhnt. Alle trugen irgendwelche Mützen und Schals und hatten sogar schon sichtlich gefütterte Stiefel an den Füßen.

Er selbst lief noch mit seinen normalen Schuhen herum, ohne Schal, ohne Kappe – nur eine wärmere Jacke hatte er sich angelegt, um nicht ganz aus der Reihe zu tanzen. Aber von Kälte konnte wirklich noch nicht die Rede sein.

Wie viele andere wartete er am Gleis. Wenn er in diesen Zug einsteigen würde, würde der Schaffner ihn hochkantig wieder hinauswerfen, weil er kein Ticket hatte. Aber wenn er eines hätte, brächte er ihn direkt ins Rote Dorf. Direkt zu seiner Mutter.

Wenn er aber hier wartete, dann würde ihm seine blonde Freundin in die Arme laufen. Dann würde er sie nach all der langen Zeit endlich wieder sehen – sechs Monate waren sie voneinander getrennt gewesen.

Er holte sein Handy hervor. Noch keine Nachricht. Aber er rief diejenige von gestern Nacht auf: „Ich bin jetzt im Zug“, schrieb sie, „Es kann sich nur noch um Stunden handeln.“

Der Zug fuhr einfach den ganzen lieben langen Tag durch die Gegend – seit er in Betrieb genommen wurde, war er noch nie ausgefallen. Einmal am Tag kehrte er ein und leerte diejenigen ab, die aussteigen wollten, und sackte die anderen ein, die verreisen wollten. Und den meisten sah man ihren Vermögensstand gleich an. Sein Vater hätte es sich auch leisten können, ihre Mutter öfter zu besuchen. Aber er hatte es nicht getan.

Ein Klingeln ertönte. Das bedeutete, dass der Zug bald ankommen würde. Als er dieses Klingeln zum ersten Mal gehört hatte, waren sein Vater und Kim am Gleis gestanden. Hatten Ausschau nach ihm gehalten. Wenn er nicht diese gewisse Ähnlichkeit mit seinem Vater gehabt hätte, hätte dieser ihn vermutlich überhaupt nicht erkannt. Das passiert wohl einfach, wenn man sein Kind fast fünfzehn Jahre lang nicht sah. Und diese gespielte Freundlichkeit damals – diese falsche Freude. Auf die konnte er verzichten.

Und das tat er mittlerweile gekonnt. Seit gut zwei Wochen lagen jeden Tag Zettel vor seinem Zimmer, in denen mit Kims Handschrift „Radiant und ich müssen mit dir reden“ stand. Seit gut zwei Wochen hob er den Zettel auf und warf ihn in den Mülleimer. Er brauchte mit ihr nicht zu reden. Und mit seinem Vater schon gar nicht. Und durch Kyries Hilfe war er ihnen auch nie begegnet – denn seine Tür war immer abgeschlossen und gut genug isoliert, um nichts zu verstehen. Und wenn seine Musik nebenbei lief, dann hatten sie keine Chance, ihn zu erreichen. Er verbarrikadierte sich – und das brauchte man auch, wenn man mit solchen Leuten unter einem Dach leben musste.

Blondes Haar riss ihn aus seinen Gedanken. Blaue Augen, die darunter hervorlugten durchdrangen ihn erwartungsvoll. Der Zopf, der vor Jahren zu ihrem Markenzeichen geworden war, hing noch immer gerade nach unten – und war um einiges länger, als der Rest ihrer eher kurzen Haare. Insgesamt wirkte sie … besonders.

Und das Lächeln, das ihre Lippen zierte, freute ihn besonders. Ihre Arme waren ausgestreckt.

Ehe er es bemerkte, umarmte er sie lächelnd und sie ihn – und das war kein besonderes Kunststück, da Kylie für ein Mädchen besonders groß war. Nur ein wenig kleiner als er.

„Hey“, begrüßte er sie ruhig, „Ich habe dich vermisst!“

„Das hast du doch schon einunddreißig Mal geschrieben.“ Sie drückte ihn. „Ich dich doch auch!“, meinte sie, „Wie ich dir einunddreißig Mal klar gemacht habe.“

„Jetzt habe ich es aber gesagt“, entgegnete er und drückte sie ein wenig weg. „Jetzt lass dich einmal anschauen.“ Er musterte sie. Sie trug eine lange, schwarze Hose, kurze Stiefel und eine Jacke. Die Kleidung erinnerte ihn an sich selbst, als er hierher gekommen war – bloß, dass es bei ihm wirklich Hochsommer war, bei ihr hingegen so gut wie Winter.

„Ich schaue immer noch gleich gut aus“, erklärte sie ihm, „Du hingegen wirkst ein bisschen bummlig. Bekommst du zu viel zu essen?“

„Nein“, beantwortete er die Frage, „Aber es kann nicht jeder so fettfrei kochen wie du.“

Sie nickte zufrieden. „Genau das, was ich hören wollte!“ Sie grinste, wodurch ihre strahlend weißen Zähne zum Vorschein kamen und im Kontrast zu ihrem Gesicht standen, das, genauso wie bei ihm, von der winterlichen Sonne gebraten war.

Dann hob sie ihre Hand an den Koffer und befahl voller Begeisterung: „Los, Ray. Zum Auto!“

„Um diese Uhrzeit müssen Menschen für gewöhnlich arbeiten“, meinte er daraufhin amüsiert, „Ich habe kein Auto zur Verfügung.“

Jetzt wirkte sie enttäuscht. Ein Seufzen verlieh ihrer Betrübtheit Ausdruck. „Also … zu Fuß?“

Er nickte grinsend. „Sind nur drei Blöcke.“

Ihre Enttäuschung verflog auf der Stelle und sie wirkte plötzlich motiviert. „Na dann, los geht es!“ Sie marschierte los.

Er lachte in sich hinein. Südblock, Westblock, Nordblock. Sie hätte in Geographie besser aufpassen sollen.

Er ging ihr hinterher, ohne sie über ihr fehlerhaftes Denken aufzuklären. Das würde sie schon früh genug merken – und das Meckern würde sowieso am Ende der Straße schon losgehen.

„Soll ich den Koffer nehmen?“, bot er ihr freundlich an, als er neben ihr her schritt.

Sie musterte ihn scharf. „Sehe ich so schwach aus?“ In dem Moment reichte sie ihm den Koffer. „Aber wenn du schon so fragst! Danke!“

Er nahm ihn entgegen und zog ihn hinter sich her. Zum Glück hatte er Rollen. Aber er war dennoch schwer. Zu schwer. Klar, sie blieb eine Woche, aber … „Was hast du da eigentlich drinnen?“ Er zog weiter. „Steine?“

Sie kicherte hinterlistig. „Vielleicht!“ In dem Moment griff sie zum Koffer und sie zogen ihn gemeinsam. „So besser?“

Er nickte. „Viel!“ Dann lachte er. „Mann, ich habe dich vermisst. Du glaubst echt nicht wie sehr.“

„Ja …“, stimmte sie verträumt zu, „Dir muss in deinem Leben echt ein ganzes Maß and Coolness und Brillanz abgegangen sein!“

Als er zu ihr schaute, zierte ein freundliches Grinsen ihr Gesicht. „Verfolgst du immernoch die Vermeidungsstrategie, du kleiner Angsthase?“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe ja sowieso keine Wahl. Ich will sie nicht in meinem Leben haben.“ Seine Stimme verbarg jegliche Emotion.

„Ich will dir da ja nicht reinreden“, antwortete Kylie unbesonnen, „Aber deine Mutter macht sich schon ziemliche Sorgen, dass du vereinsamst.“

Er nickte. Das war typisch für sie. Immer besorgt um andere – ob sie im Sterben lag oder nicht. „Ich weiß das zu schätzen, aber ich bin nicht- …“

„… einsam“, unterbrach Kylie, um seinen Satz zu beenden. Plötzlich blieb sie stehen, ließ den Koffer los und faltete ihre Hände, als ob sie beten wollte. Dann fuhr sie mit verstellter Stimme fort: „Ich habe da dieses nette Mauerblümchen kennen gelernt, um das ich mich jetzt kümmern kann!“ Äffte sie ihn mal wieder nach?

„Das Mauerblümchen hat auch einen Namen“, wies er sie unbeeindruckt hin.

Sie machte voller Inbrunst weiter: „Kyrie Kingston, die Theologiestudentin, zwanzig Jahre alt, ihre Haare sind so schwarz wie Ebenholz, ihre Augen so dunkel, wie zwei tiefe Erdlöcher und insgesamt ist sie sehr schwer zu durchforsten!“ Plötzlich wechselte sie ihren Tonfall wieder – sie klang wieder wie immer: „Ihr edler Vater holt sie jeden Tag mit dem Auto ab und mittlerweile esst ihr auch zusammen!“ Sie stieß ihn an. Dann nahm sie den Koffer wieder und stellte sich an den Straßenrand. Er eilte ihr hinterher, um den Koffer wieder mit ihr zu teilen.

„Hör auf damit“, schalt er sie, „Das ist unhöflich.“ Er sah sie an.

Sie grinste keck zurück und starrte dann wieder auf die Straße, um weiterzumachen, ohne ihn anzusehen: „Das kleine Autochen und der gutmütige Pfarrer und die Hobbygärtnerin! Eine tolle Familie! Du wirst sie lieben, Kylie.“

„Hey, das ist …“, wollte er sie gerade zum Schweigen bringen, aber sie hob ihre Hand an seinen Mund und meinte bestimmt: „Sind die drei Blocks nicht schon seit zwei Blocks vorbei?“

Er lächelte voller Genugtuung. „Ich meinte Stadtblocks.“

Sie zog eine Grimasse des Unglaubens. „Was? Du hast … mich ausgetrickst?“ Sie verschränkte beleidigt die Arme. „Jetzt kannst du dir den selbst tragen!“

„Das ist deiner“, erinnerte er sie trocken.

„Das weiß ich“, meinte sie ungehalten, „Und darum trägst du ihn.“

Er lachte laut los und nahm den Koffer, während sie die Straße überquerten.

„Wenn du so lachst, hält man dich für verrückt“, wies sie ihn hin.

Er schüttelte den Kopf. „Die Anwesenheit einer Verrückten steckt einfach an!“

Sie grinste. „Idiot.“

Das war es, was er all die Zeit vermisst hatte. Ihre spontanen Antworten, diese bemerkenswerte Idiotie, die sie an den Tag legte – diese inhaltsleeren Gespräche ohne Sinn und Zweck, die sie einfach führten, weil sie Freunde waren. Das gemeinsame Lachen. Das Veralbern. Die Art, wie sie einfach jede Nachricht, die er ihr je geschickt hatte, zitieren konnte … Das Mädchen konnte sich einfach alles merken!

Kyrie hatte zwar sehr viel decken können, was er vermisst hatte, aber … Sie war nicht Kylie. Kylie hatte eine andere Ausstrahlung. Sie ähnelten sich, aber sie waren nicht gleich. Und genau deshalb … hätte er für Kylie nie das fühlen können, was er für Kyrie empfand.
 

Die Enttäuschung, die von ihren Eltern ausging, hatte sie schon eine ganze Weile lang bemerkt. Aber was sollte sie tun? Lügen? Nicht lügen? Die Wahrheit sagen? Sie noch weiter enttäuschen? Sogar zerbrechen? Das durfte sie ihnen nicht antun! Niemals! Sie hätte es besser verstecken sollen – sie hätte besser lügen müssen … Aber … sie wollte nicht lügen. Sie wollte ehrlich sein. Sie wollte friedlich sein. Und stattdessen kämpfte sie mit einer Waffe gegen einen Feind, den sie nie besiegen konnte. Hätte sie das Waffentraining nicht absolviert, um gegen ihre Angst anzukommen, im Himmel alleine zu sein? Doch nützen tat es nichts. Ihre Angst saß tief. Tief in ihren Knochen, nicht bereit, besiegt zu werden. Sie war zu stark. Und alles war ihr genommen worden, das früher ihre Ängste besiegt hatte. Früher, als sie ein Kind war, war sie immer zu ihren Eltern gelaufen, wenn sie einen Alptraum gehabt hatte. Und diese hatten sie immer damit beruhigt, dass Gott sie vor Alpträumen schützte – sie musste nur genug an ihn glauben.

Jetzt kämpfte sie mit einer Waffe, die ihr Engelsdasein ihr anbot. Und jeden Tag steckte sie sämtliche Kraft und Konzentration in diesen Kampf. Und immer lobte Nathan sie, wie gut sie doch sei … Und immer fühlte sie sich geschmeichelt, versuchte die Hoffnung in sich aufzubauen, wirklich nicht ganz so schlecht zu sein … Und dann drehte Nathan ihr kurz den Rücken zu … Und die Panik ergriff sie wieder. Wieder und wieder wiederholte sich dieses Schauspiel. Wenn Xenon in diesen Moment kam – wenn Jeff oder Drake oder Milli kamen … Wenn Nathan nicht schnell genug war? Nicht stark genug war? Wie sollte sie sich alleine verteidigen?

Sie müsste ihr Schwert rufen. Im Himmel wäre es ganz einfach, da hatte sie ihre Flügel schon ausgestreckt – auf der Erde müsste sie erst noch ihre Flügel ausfahren, doch das erschwerte das Kunststück auch nicht wirklich. Mit Nathan vor ihren Augen und mit voller Konzentration nach einem schönen Tag mit Ray. Da war es ganz einfach diese Waffe zu rufen und sich einzureden, dass es etwas brachte. Aber im Endeffekt … würde sie einfach versteinern, sobald Nathan nicht da war. Sie würde warten, bis sie exekutiert wurde. Sie würde hoffen, dass es schnell vorbei war. Sie war kein mutiger, heldenhafter Engel, der sein Schwert der Gerechtigkeit schwang. Sie war ein kleiner, mickriger Halbengel, mit dem Gewissen eines Dämons. Einer von denen, der ständig log, andere vor schickte und sich feige versteckte. Einer von denen, der vorgab, glücklich und zufrieden zu sein … und sich damit selbst belog …

Sie starrte auf die Malereien in der Kirche. Wunderschön. All diese Flügel, die sie umgaben, die freundlichen, gutmütigen Gesichter, die ihr entgegen lächelten … Sie waren einfach gelogen. Ihr Leben war eine Lüge. Das hatte ihr Vater ihr heute Morgen klar gemacht.

Wie er dort vorne stand und seinen Glauben, seine Geschichten Kund tat, ohne zu ahnen, wie falsch sie doch waren. Wie er keine Ahnung hatte, dass Dämonen sich in der Gegend befanden, dass es eine Antigöttin gegeben hatte und dass Gott keine Zeit hatte, sich um jeden Einzelnen zu kümmern. Dass er nicht einmal Zeit hatte … diejenigen zu bestrafen, die bestraft werden sollten … Und Sin tat es auch nicht. Und den Todsünden war es auch egal. Und die darunter hatten nicht genug Macht, Zeit oder Lust, sich darum zu kümmern … Jeder Engel war auf sich selbst und seine Freunde angewiesen. Aber was … wenn diese Freunde weder Macht, Zeit noch Lust hatten, sich um einen zu kümmern? Wenn man ganz alleine war … War das dann der Moment, in dem es einen egal wäre, wenn man getötet würde?

„Und aus unserer tiefsten Not wird er uns befreien“, predigte John mit lauter, fester und bestimmter Stimme, aus der man seine Überzeugung nur so heraushörte, „und uns zurück auf den Pfad des Lichtes führen.“

Auf den Pfad des Lichtes … Das war der ehrliche Weg, den sie wählen wollte, den sie aber durch den Himmel und allen voran Xenons Leute nicht mehr beschreiten konnte. Von dem sie Ray niemals erzählen konnte … Wegen dem sie auch ihn anlog … Doch konnte sie etwas für diese Lügen? Natürlich hätte sie durchaus die Möglichkeit, ihr Geheimnis in die Welt zu posaunen – doch Nathan hatte Recht. Je weniger die Menschen von der Wahrheit wussten, desto eher blieb der Frieden gewahrt.

Sie seufzte. Wenn sie doch nur weiter wüsste … Sie belastete Nathan mit ihrem Training. Mehr als ihr alles zu zeigen, was er wusste, konnte er auch nicht tun! Mittlerweile hatte er ihr gefühlte hundert verschiedene Kampftechniken beigebracht, ihre Abwehr verschärft und ihre Rufgeschwindigkeit des Schwertes zu einer Bestzeit entwickelt … Und trotzdem schaffte er es nicht, ihre Angst zu stillen. Sie schaffte es nicht ihre Angst zu bezwingen – warum erwartete sie das dann von ihm?

„Seien Sie unbesorgt“, meinte plötzlich eine Stimme neben ihr, „Egal wie dunkel der Weg auch erscheinen mag – irgendwann geht er immer aufs Licht zu.“ Sie starrte in Rays gealtertes Gesicht. Nein … nicht Ray … Radiant. Das war Rays Vater. War er extra hierher gekommen?

Sie nickte. „Ja … Danke!“ … Irgendwann ging der Weg aufs Licht zu? Jeden Tag führte ihr Weg ins Licht des Himmels. Aber dieses Licht war nicht mehr erstrebenswert für sie. Es war zu dunkel. Sie … wollte zu ihrem neuen Licht … Zu Ray. Und der würde sich im Laufe der Woche melden. Das hatte er ihr versprochen – er würde ihr Bescheid geben, wenn er mit Kylie vorbei kommen würde.

Sie hatte ihm vorenthalten, dass sie ihn diese ganze Woche lang sehr vermissen würde. Es würde ungewohnt sein, wieder alleine auf der Mauer zu sitzen. Immerhin wäre das seit vier Monaten das erste Mal, dass sie wieder alleine war.

Radiant lächelte sie an, wandte sich dann aber wieder ihrem Vater zu.

… Radiant Sonicson … Er war ein guter Mann. Ray konnte das unmöglich ignorieren. Aber er wollte es nicht wahr haben. … Wie sie es Maria versprochen hatte – sie würde ihn irgendwann überzeugen. Aber zuerst … musste sie sich selbst davon überzeugen, dass Ray nicht im Recht war.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Huh! Das letzte Kapitel für Juni >.<
Die Zeit drängt!! Wenn ich noch Wecker übrig hätte, würde ich sie ja stellen!!

Liebe Grüße
Bibi

Ich hoffe, es hat euch gefallen >w< Komplett anzeigen

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