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Equinox

von

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Willkommen in meiner Welt

Der Weg vom Friedhof zu unserem Haus war nicht sonderlich weit. Generell lag in meinem Heimatort, dem Indianerreservat La Push, in der Nähe von Forks, Washington, alles ziemlich nah beieinander. Wir hatten eine Schule, ein kleines Krankenhaus, eine eigene Verwaltung und diverse Läden, in denen man eigentlich alles bekam, was man zum Leben brauchte. Theoretisch könnte man hier sein ganzes Leben verbringen, ohne es jemals zu verlassen. Und es würde mich nicht wundern, wenn einige der älteren Quileute – das war der Name unseres Stammes und so nannte man auch dessen Mitglieder – tatsächlich so zu leben pflegten. Aber für mich war das nichts. Ich war froh, dass ich auch mal etwas anderes sah. Dieses „Andere“ war zwar nur Forks, aber immerhin.
 

Kaum hatte ich unser Haus betreten, hörte ich schon die Stimmen meiner Geschwister aus der Küche. Ich war die Jüngste von Dreien. Meine Schwester Madeleine war gerade im Begriff meiner Mutter nachzueifern. Sie wollte Lehrerin an der Reservatsschule werden und verbrachte daher ziemlich viel Zeit mit ihr. Mein Bruder Harry dagegen hatte erst frisch seinen Abschluss gemacht. Sein Wunsch war es, eines Tages Stammesoberhaupt zu werden, aber es würde sicher noch eine Weile dauern, bis er Embry, der nach Vaters Tod diesen Platz übernommen hatte, würde ersetzen können.
 

„Hey Zwerg“, begrüßte meine Schwester mich, als ich mich ihr gegenüber auf den hölzernen Stuhl an den Esstisch setzte. Ich sah sie etwas missmutig an. Ich hasste diesen Kosenamen.

„Wie wäre es, wenn ich dich in Zukunft 'Made' nennen würde? Würde dir das gefallen?“, konterte ich.

„Unsinn“, warf Mum ein und stellte jedem von uns einen leeren Teller hin. „Schluss mit den albernen Kosenamen. Ich habe euch keine schönen Namen gegeben, damit ihr sie dann nicht benutzt oder abkürzt.“

„Madeleine, du weißt doch, dass unsere kleine Schwester jetzt mit 'Bills' angesprochen werden möchte. Das ist cool und hipp“, neckte mein Bruder und setzte sich ebenfalls hin.

Ich brummte. Mein Name war Billy-Sue. Ursprünglich sollte ich nur Sue heißen, aber mein Vater starb nur einen Tag vor meiner Geburt und so wurde die Kurzform für William Teil meines Namens. Es war die einzige Verbindung, die ich zu ihm hatte, abgesehen von meinen smaragdgrünen Augen. Ich beneidete meine Geschwister darum, dass sie ihn hatten kennenlernen dürfen. Dass sie sogar mehrere Jahre mit ihm verbracht hatten und ich nicht. Trotzdem oder gerade deswegen, versuchte ich ihm so nah wie möglich zu sein. Ich besuchte fast täglich sein Grab und trug ein Foto von ihm in meiner Brieftasche mit mir herum, während ein weiteres unter meinem Kopfkissen lag.
 

„Und wie war dein Tag, mein Schatz?“, fragte Mum, während sie mir eine Portion Nudeln auf den Teller legte.

„Gut. Ich habe ein B in der Mathematikklausur.“

„Sehr schön“, antwortete sie.

„Mum“, sagte Madeleine plötzlich. „Kann ich morgen für ein paar Stunden in deinem Unterricht sitzen?“

„Kannst du schon. Aber etwas Besonderes habe ich morgen mit meiner Klasse eigentlich nicht vor.“

„Das ist egal“, antwortete meine Schwester. „Es geht mehr um allgemeine Notizen.“

„Na dann gerne“, sagte Mum und lächelte.

Harry seufzte und meine Mutter wand sich an ihn. „Was?“

„Ach nichts.“

„Spuck‘s aus.“

„Nein, Mum. Das Thema würde dir nicht gefallen.“

„Warum nicht?“

„Weil... ach... nichts.“

„Harry“, mahnte sie. „Ihr wisst doch, ihr könnt mit mir über alles reden. Es gibt kein Thema, das mir nicht gefällt. Nun sag schon.“

Er seufzte erneut. „Embry ist seit drei Tagen unerträglich.“

Madeleine kicherte.

„Wie meinst du das?“, wollte Mum wissen.

„Er ist geprägt worden.“

Mutter flog sogleich die Nudel von der Gabel. „Was?“

Ich starrte die Nudel an, wie sie da nun im Teller lag. Währenddessen sah ich im Augenwinkel, wie sich Mums Mund zu einem Lächeln formte. „Endlich“, hauchte sie, dann stand sie plötzlich auf und schob dabei den Tisch ein Stück von sich. „Wie alt ist sie? Wo ist es passiert? Du musst mir alles sagen, was du weißt!“

Jetzt sahen wir alle perplex drein. Bisher hatten wir immer gedacht, das Thema Prägung gefiele ihr nicht, weil sie durch diese Verbindung zu unserem Vater sicherlich noch mehr hatte leiden müssen, als es ein normaler, liebender Mensch wahrscheinlich getan hätte. Vielleicht war der Unterschied aber auch gar nicht so groß? Ich wusste nicht sonderlich viel darüber...

„Er war vor drei Tagen auf irgendeinem Ausflug in Seattle. Da hat er sie dann zufällig gesehen. Sie ist dreißig und Single. Na ja, noch Single.“

„Embry ist sicher nervös, weil er nicht weiß, ob sie sich in ihn verlieben wird.“

„Hat sie denn eine Wahl?“, fragte Madeleine.

„Hat sie. Als ich euren Vater kennenlernte, war er noch sehr jung. Er konnte nicht sprechen und ich wusste nicht, dass er sich auch auf mich geprägt hatte. Glücklicherweise hatte er das. Wäre das nicht der Fall gewesen, wäre es mir wie Jacob gegangen. Er hat mir mal erzählt wie es war, als Renesmee sich für einen anderen Jungen interessiert hatte. Die Person auf die man geprägt ist, hat immer die Wahl. In den meisten Fällen ist es nur so, dass man dem Werben eines geprägten Wolfes kaum widerstehen kann.“

„Dann ist er deswegen so durch den Wind?“, fragte Harry.

„Er hat sein ganzes Leben auf sie gewartet. Er hat sich immer verwandelt, aus Angst irgendwann zu alt für sie zu sein.“

„Ich finde diese Prägungssache ziemlich mies“, sagte ich dann.

Mutter sah mich fragend an.

„Na ja“, suchte ich nach Worten. „Du musst dein Leben lang hoffen, dass du diese Person irgendwann triffst. Vielleicht wartest du vergebens oder triffst sie einfach nicht und sie stirbt dir weg, während du ihretwegen nicht alterst. Oder aber du triffst sie und sie mag dich nicht. Oder was ist, wenn man die Person nicht mag oder sie hässlich findet?“

Mum lachte. „Das ist nicht möglich. Die Person, auf die man geprägt ist, kann man nicht hässlich finden. Sie ist der tollste Mensch auf der Welt. Euer Vater war der tollste Mensch auf der Welt.“

Als sie über ihn sprach sah ich, wie ihr ganz warm ums Herz wurde und spürte die Wärme auch in mir. Daddy.

„Wie auch immer“, sammelte sie sich dann wieder. „Esst bevor es kalt wird.“
 

***
 

Am nächsten Tag musste ich selbst auf dem Schulweg noch an das gestrige Gespräch denken. Mums Aussagen nach, war Embry momentan der glücklichste Mensch der Welt, hatte aber gleichzeitig extreme Angst, die Liebe seines Lebens nicht für sich gewinnen zu können. Das war ganz schön kompliziert. Na ja, zum Glück betraf es mich ja nicht. Ich war kein Gestaltwandler.
 

Ich betrat das Klassenzimmer und meine beste Freundin Lizzy winkte mir fröhlich zu. Ich setzte mich neben sie und begann, meine Schreibutensilien aus meiner Tasche zu kramen.

„Hey Liz, hast du die Hausaufgaben?“

- „Nö.“

„Was?“ Ich starrte sie etwas unbeholfen an.

„Wollte sie eigentlich vor dem Unterricht von Phoebe abschreiben. Hab es aber dann vergessen. Das Unterhaltungsprogramm war einfach zu gut.“

„Wie meinst du das?“

- „Jaimie hat den Overhead-Projektor demoliert.“

„Autsch“, kommentierte ich. Seit ein paar Wochen schon, hatten wir keinen Hausmeister mehr, weswegen sich nicht funktionsfähige Lernmittel langsam anhäuften. Unsere Lehrerin schien sich daran aber nicht weiter zu stören. Vor dem letzten Gong erinnerte sie uns an unsere Pflichtreferate. Wir hatten in wenigen Tagen jeweils ein fünfminütiges Referat über ein Thema unserer Wahl zu halten. Ich hatte mir das Thema Wölfe rausgesucht. Ich hatte ja Infos aus erster Hand.

„Unser neuer Hausmeister zieht bereits morgen in die Einliegerwohnung im Erdgeschoss ein. Bis zu euren Vorträgen sollte das Gerät also gerichtet sein. Denkt nicht, ihr könntet euch davor drücken!“

Jaimie kassierte zusätzlich noch eine Woche Nachsitzen – und wenn ich meine Hausaufgaben beim nächsten Mal nicht haben sollte, so wurde mir versichert, könnte ich ihm bald für mindestens zwei Tage Gesellschaft leisten. Ich hatte es nicht so mit Hausaufgaben, obwohl ich an sich keine schlechte Schülerin war.
 

Am darauffolgenden Tag, las ich im Schulbus meine bereits gemachten Notizen für mein Wolfs-Referat durch, als mich, kaum dass der Bus am Schulgelände geparkt hatte, ein komisches Gefühl überkam. Ich wusste nicht, was genau es war. Da es jedoch kurz darauf wieder verschwunden war, vergaß ich es ziemlich schnell wieder.

Ich ging wie jeden Dienstag in die Turnhalle und begab mich zur Mädchenumkleide. Bereits vor der Tür konnte ich das Gekicher meiner Mitschülerinnen hören und öffnete sie neugierig.

„Was gibt’s denn hier zu kichern?“, fragte ich.

„Ach nichts“, winkte Liz rasch ab und band ihr langes rotes Haar zu einem Zopf zusammen.

„Nichts?“, entgegnete Phoebe, die gerade dabei war, ihre Turnschuhe zuzubinden. Mit einem geschlossenen und einem geöffneten Schuh hüpfte sie zu mir herüber und rückte an mich heran. „Liz hat sich nur in den Hausmeisterburschen verguckt“, flüsterte sie mir zu.

Ich sah erstaunt zu meiner besten Freundin. „Stehst du jetzt auf Ältere?“

„Quatsch!“, kam es dann von ihr. „Mein Mann wird mal Milliardär, ich habe meine Prioritäten nicht herunter gesetzt!“

„Prioritäten? Sind das nicht eher Voraussetzungen?“, sagte Phoebe, nun da sie sich den zweiten Schuh gebunden hat.

„Ich nenne das U.W.V. - utopische Wunschvorstellung“, gesellte sich nun die vierte im Bunde, unsere neunmalkluge Ann, hinzu und verstaute ihre Brille sorgsam im Etui.

Ich schüttelte den Kopf und begann endlich damit, meine Sportklamotten auszupacken und mich umzuziehen.

„Sollen wir vielleicht ein paar Kleiderhaken abreißen, damit er sie wieder anbringen muss? Du könntest ja hier nackt auf ihn warten und ihn dann direkt nebenan in der Dusche vernaschen.“

„Ach, hör doch auf“, antwortete Liz. „Ja, er sieht nicht schlecht aus, aber das ist ja nicht alles im Leben.“ Dann stand sie auf, ohne, wie sonst üblich, auf uns zu warten und ließ die Tür hinter sich ziemlich heftig ins Schloss fallen.

„Feuriges Temperament“, sagte Phoebe.

„Rothaarige“, meinte Ann.
 

Zehn Minuten später stand ich mit dem Baseballschläger auf dem Feld hinter dem Schulgebäude und wartete darauf, dass mein Gegenüber den Ball warf. Ich war eher durchschnittlich im Sport und machte mir nicht sonderlich viel daraus. Doch an diesem Tag schien irgendwie alles seltsam zu sein. Ich sah genau, wie der Ball auf mich zu flog, kaum das der Schläger ihn berührt hatte, traf ihn punktgenau und schleuderte ihn deutlich weiter, als ich es jemals geschafft hatte. Er landete prompt auf dem Dach des Gebäudes und mein Team jubelte mir begeistert zu. Auch mit den folgenden Bällen und Runs hatte ich keine Probleme. Ich fühlte mich regelrecht aufgeputscht. Ich konnte mir das Gefühl nicht erklären. Am Ende der Stunde nahm unsere Lehrerin, Frau Aurora, mich zur Seite, um mit mir unter vier Augen zu sprechen.

„Du hast heute eine außerordentlich gute Leistung gezeigt, Billy-Sue“, lobte sie mich.

„Danke“, sagte ich.

„Wenn du so weiter machst, könntest du bald das erste A im Sportunterricht bekommen.“

„Das wäre natürlich klasse“, bekundete ich euphorisch.

Sie nickte. „Dann sehen wir uns nächste Woche.“

„Ja“, sagte ich. „Ich hol‘ nur schnell den verunglückten Ball.“

Normalerweise war ich nicht so. Ihre Worte jedoch, hatten mich derart beflügelt, dass ich nun ohne zu murren alle Etagen des Schulgebäudes empor lief, nur um diesen einen Ball zu holen. Doch oben angekommen, konnte ich das blöde Ding einfach nicht finden.

Nun doch etwas müde, strich ich mir die Haare aus dem Gesicht und ging dann deutlich langsamer wieder hinab. Auf halbem Weg traf ich im Treppenhaus jedoch plötzlich auf jemanden. Es war ein Junge mit dunkelblondem Haar und tiefblauen Augen. Ich schätzte ihn auf 16 oder 18, er konnte aber durchaus auch älter oder jünger sein. Er hatte eines jener Gesichter, bei denen das schwer zu sagen war.

„Suchst du den?“, fragte er lächelnd und hob den kleinen weißen Baseball hoch.

„Ähm ja“, nuschelte ich und nahm den Ball entgegen. Wir berührten einander nur für den Bruchteil einer Sekunde. Seine Haut war weder zu heiß, noch zu kalt, dennoch durchfuhr mich plötzlich erneut das seltsame Gefühl, dass ich auch schon bei meiner Ankunft verspürt hatte. Nur dieses Mal war es deutlich heftiger. Ich konnte es nicht einordnen. War es Schwindel? Oder Übelkeit? Mir war heiß und gleichzeitig kalt. War ich krank? Hatte ich womöglich Fieber?

Der Junge sah mich besorgt an, ich ließ ihm jedoch keine Zeit, sich nach meinem Befinden zu erkundigen, sondern rannte schnurstracks davon.

Den Ball hatte ich wohl auf halbem Weg wieder verloren. Jedenfalls hatte ich ihn nicht mehr in der Hand, als ich in der Umkleidekabine angekommen war. Außer mir war niemand mehr hier. Die Anderen waren wahrscheinlich längst in den Klassenräumen, schließlich hatte es bereits zur nächsten Stunde geläutet. Ich überlegte kurz, ob mir eine kalte Dusche vielleicht helfen würde, entschied mich jedoch stattdessen dazu, mich einfach umzuziehen. Ich war bereits viel zu spät und eine komplette Stunde zu schwänzen würde es nicht besser machen.
 

Ich betrat den Biologieunterricht nur wenige Minuten vor der großen Pause. Als die Lehrerin mich enttäuscht ansah, wäre ich am liebsten im Boden versunken. „Na, wo kommen wir denn her?“, fragte sie.

„Es tut mir leid, Mrs. Fetcher.“

Sie schüttelte den Kopf. „Setz dich. Ich notiere dein Zuspätkommen im Klassenbuch. Lass das bitte nicht zur Gewohnheit werden.“

Ich nickte und ging zu meinem Platz neben Liz.

„Hey Süße, alles okay?“, sagte sie und legte besorgt ihre Hand auf meine, nahm sie dann aber direkt wieder weg. „Wow, du bist ja ganz heiß. Hast du heimlich noch ein paar Runden um den Platz gedreht?“

Ich schüttelte verwundert den Kopf und packte meine Sachen aus. Mir war tatsächlich ziemlich warm, aber das durfte ich mir jetzt nicht anmerken lassen. Ich wollte diesen Tag einfach hinter mich bringen. Warum musste so etwas immer ausgerechnet mir passieren? Es hatte heute so gut angefangen und ich hatte mich so über das Lob gefreut. Daran war doch nur dieser Idiot schuld. Ja, ganz sicher, er hatte mich aus der Fassung gebracht, er war schuld! Plötzlich verspürte ich ausgesprochen große Lust, ihn ordentlich zu verprügeln, dabei kannte ich ihn erst seit wenigen Minuten.

Und dann hörte ich mit einem Mal ein lautes Knacken – es war das Bersten von Holz, aber nicht irgendwelchem Holz. Ich hatte, ohne es zu wollen, meine Tischplatte zerstört. Ich sah nach unten und erblickte das kleine Stück Tisch in meiner Hand und die Splitter auf meiner Hose.

„Bills!“, rief Liz aus und stand erschrocken auf.

Mrs. Fetchter kam mit klackenden Absätzen auf mich zu. „Billy-Sue Black-Cullen!“, schrie sie mich an. Ich stand ruckartig auf. „Du nimmst jetzt deinen Tisch – und zwar alles davon – und bringst es runter in den Keller. Allein! Und wenn du schon mal dort bist, kannst du dir direkt eine Liste mit Strafarbeiten für die nächsten zwei Wochen vom Hausmeister holen, sowie eine Rechnung für das Zerstören von Schuleigentum!“

Ich suchte nach irgendwelchen Worten oder Ausreden, fand jedoch keine. Ich konnte es mir selbst nicht erklären. War der Tisch schon angeknackst gewesen? Oder hatte womöglich ich einen Knacks?

Ich nahm meine Tasche, stopfte das abgebrochene Holzstück hinein und machte mich daran, die Schulbücher und anderen Krimskrams, den sämtliche Schüler seit den letzten Aufräumarbeiten vor den letzten Ferien in der Schublade unter der Tischplatte gebunkert hatten, herauszuräumen, dann nahm ich das klobige Teil und hob es zum Zimmer hinaus. Zum Glück befand sich der Biosaal im Erdgeschoss. Ich musste also nur eine Treppe schaffen, um in den Keller zu kommen.

Fertig mit den Nerven, stellte ich meinen kaputten Tisch vor dem Raum des Hausmeisters ab, da ging plötzlich dessen Tür auf – und heraus trat eben jener dunkelblonde Typ, der mir schon weiß Gott genug Ärger eingebracht hatte.

„Du“, knurrte ich in mich hinein und ballte die Hände derart zu Fäusten, dass sich mir die eigenen Fingernägel in die Haut bohrten.

„Hi“, sagte er freundlich. Er schien meine Anspannung noch nicht so ganz registriert zu haben.

Und dann blitzten mit einem Mal Bilder vor meinem inneren Auge auf. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich gesagt, dass ich mich eben selbst dabei gesehen hatte, wie ich diesem Kerl den Kopf abriss. Oh mein Gott, dachte ich und machte auf dem Absatz kehrt. Ich musste hier weg.

Ich hatte nur einen Fuß ins Erdgeschoss gesetzt, da bimmelte es plötzlich zur Pause. Sämtliche Türen flogen auf und ein Strom aus Schülern kam heraus. Das durfte doch nicht wahr sein.

Ich spürte, wie ein Schwall aus Hitze in mir empor kroch. War ich psychisch gestört? Woher kamen die Bilder in meinem Kopf? Und warum zitterte ich so schrecklich?

Es gab nur zwei Wege, wie das hier Enden konnte: entweder klappte ich gleich zusammen oder aber, und das entsprach eher meinem Tagessoll, ich tat etwas entsetzlich Blödes. Beides keine besonders tollen Aussichten, also trat ich erneut die Flucht an, quetschte mich durch sämtliche Schülerreihen durch, nahm prompt die falsche Richtung, ohne es zu merken und landete schließlich zum zweiten Mal an diesem Tag auf dem Dach.

Bills, du bist aber auch wirklich eine hohle Nuss.

Unter mir sah ich, wie die Schüler sich im Freien verteilten. Ich würde nicht an ihnen vorbei kommen, ohne gesehen oder gar aufgehalten zu werden. Ich wollte auch niemandem an die Gurgel springen. Hier oben zu bleiben, erschien mir aber auch keine Lösung zu sein.

All der Stress nur wegen einem blöden Jungen und einem kleinen Ball!

Was mach ich nur.

Was mach ich nur.

Was mach ich nur, wiederholte ich in Gedanken.

Und dann war da plötzlich dieser Wunsch. Dieser sehnliche Wunsch danach, einfach leicht wie eine Feder davon zu schweben. Fort von allem. Ungesehen.

Ich trat an den Rand des Daches, schloss die Lider, setzte noch einen letzten Fuß nach vorn – und noch ehe ich fallen konnte, brach die Hitze förmlich aus mir heraus. Es fühlte sich wie ein befreiender Sog an.

War ich vom Dach gestürzt und gestorben?

Ich öffnete meine Augen und sah noch immer meine Mitschüler unter mir. Zuerst ziemlich klein, dann kamen sie näher. Aber ich fiel nicht, wie ich sollte. Ich schwebte zu Boden und landete nicht annähernd so unsanft, wie ich befürchtet hatte.

Doch plötzlich waren meine Mitschüler viel zu groß. Ich sah von unten zu ihnen empor. Sie wichen alle etwas zur Seite und sahen mich verstört an.

„Was ist denn mit dem Vogel los?“, fragte ein dicklicher Junge, den ich nicht wirklich kannte, aber schon ein paar Mal in der Pause gesehen hatte.

„Ist er verletzt?“, kam es von einem anderen Jungen.

„Holt doch mal jemand den Hausmeister!“, rief ein Mädchen.

Dass sie von einem Vogel redeten und damit mich meinten, das nahm ich gar nicht war. Bei dem Wort „Hausmeister“ jedoch, läuteten meine Alarmglocken heftiger als die Schulglocke es kurz darauf tat. Eilig trat ich die Flucht an. Meine Füße fühlten sich seltsam an, trugen mich aber dann doch mehr schlecht als recht vom Schulgelände fort, in ein nahes Gebüsch, das glücklicherweise groß genug war, um sich darin vor neugierigen Blicken verstecken zu können. Ein paar Schüler machten noch Anstalten, nach mir zu suchen, gaben aber recht bald auf.

Ich blieb allein zurück. Ich wollte erleichtert seufzen, war ich doch froh, die Situation irgendwie gemeistert zu haben, doch aus meinem Mund kam nur ein komisches Geräusch, dass ich am ehesten einem Raben zugeordnet hätte. Was zum?, dachte ich, kam jedoch nicht weiter, da mich im nächsten Augenblick ein bedrohliches Fauchen erstarren ließ. Reflexartig sprang ich hoch und wedelte mit den Armen, die keine Arme mehr waren. Eine Katze, groß wie ein Bär, schlug nach mir, verfehlte mich jedoch knapp. Ich wusste nicht, wie ich es geschafft hatte, aber ich war nun zum zweiten Mal an diesem Tag in der Luft.

Ich versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, da Nachdenken bisher immer dafür gesorgt hatte, dass ich irgendwo herunterfiel oder anderweitige Probleme bekam. Aber wie es eben meistens der Fall war, dachte man gerade dann, wenn man nicht daran denken wollte, ganz besonders stark daran. Und so kam es, dass ich wieder an Höhe verlor, keinen blassen Schimmer hatte, wie ich das ändern konnte und schließlich in einer Art gigantischen Satellitenschüssel hängen blieb.

Ich sprang vom Empfänger und sah mich um. Offensichtlich war ich nicht allzu weit weg von Zuhause. Ich kannte dieses Haus irgendwie. Ich sah hinab in den Garten und erblickte neben der voll behangenen Wäscheleine einen kleinen Schuppen, einen Grill und eine weiße Tischgarnitur. Aber natürlich! Ich saß auf dem Dach der Lahotes! Rain Lahote, die Tochter meiner Großtante Rachel, lebte hier zusammen mit ihrer älteren Schwester Raniah. Rain war für mich so etwas wie eine ältere Schwester – zusammen mit Madeleine natürlich. Sie hatte sich um meine Geschwister und mich gekümmert, so hatte Mum es mir erzählt, als wir noch ganz klein gewesen waren und unsere Mum nach Dads Tod Hilfe brauchte. Aber auch jetzt, da Mum ihre Hilfe nicht mehr wirklich brauchte, war sie ein häufiger Gast bei uns. Sie war außerdem auch meine Patin.

Ich ließ mich vom Dach herunter segeln und huschte in das Gebüsch hinter dem Geräteschuppen.

Und während ich so an meine Kindheit mit Rain und meinen Geschwistern dachte, an die Wasserbomben-Schlachten, meine ersten zaghaften Surf-Versuche am First Beach, das Sandburgenbauen und die Verstecken-und-Suchen-Spiele, spürte ich, wie sich mein Körper entspannte. Alles fiel von mir ab. Und damit meine ich tatsächlich alles. Jede einzelne Feder. Bis ich schließlich nackt in Rain Lahotes Garten saß. Ich wusste nicht, ob ich nun in Tränen der Erleichterung ausbrechen sollte, weil ich schon befürchtet hatte, dass ich für immer so ein hässlicher, schwarzer Vogel würde bleiben müssen oder aber Tränen des Schams, weil ich splitterfasernackt im Garten meiner Patin saß.

Ich lugte hinter dem Schuppen hervor. Niemand war zu sehen. Mein Blick fiel auf die Wäscheleine. Das meiste war wahrscheinlich etwas zu groß, obwohl Rain ziemlich schlank war. Aber alles war besser als nichts. Ich stürmte nach vorn, schnappte ein paar Sachen und huschte zurück, um mich umzuziehen.

Endlich! Ich hatte wieder Klamotten an! Und Hände! Ich hatte Hände!

Ich war wahrscheinlich nur für ein paar Stunden ein Vogel gewesen, aber als ich meine zehn Finger so ansah, fühlte es sich an, als hätte ich sie seit Ewigkeiten nicht gesehen.

Moment. Warum war ich eigentlich ein Vogel gewesen? Hatte Mum nicht immer davon erzählt, dass sie und Dad sich in Wölfe verwandelt hatten?

Ich legte mir erschrocken die Hand vor den Mund. Was war nur falsch mit mir? War ich etwa von einem anderen Stamm? Einem, der Vögel, anstelle von Wölfen verehrte? War ich nur adoptiert? Waren meine Eltern etwa gar nicht meine Eltern?

Das konnte nicht sein. Mum hatte immer wieder erzählt, dass ich Dads Augen und seine Nase hatte. Sie hatte nicht gelogen, ich kannte doch die Bilder. Ich hatte seine Augen und seine Nase!

Es musste einen anderen Grund geben. Vielleicht war ich nicht würdig, ein Wolf zu sein?

Mum wäre sicher schrecklich enttäuscht, wenn sie davon erfuhr. Nein, sie durfte nichts davon erfahren. Niemals. Ich würde diese Vogel-Sache für mich behalten.
 

Kaum, dass ich Zuhause angekommen war, stopfte ich die Sachen, die ich von Rains Leine geklaut hatte, in die Waschmaschine. Es war das erste Mal, dass ich das Ding überhaupt benutzte. Normalerweise wusch Mum immer die Wäsche. Manchmal übernahm Madeleine das auch. Und genau sie war es auch, die ausgerechnet jetzt, da ich es am wenigsten gebrauchen konnte, hinunter in den Keller kam.

„Hey Zwerg“, begrüßte sie mich, hielt dann jedoch inne und sah mich verwundert an. „Bist du krank?“, fragte sie und war im Begriff mir ihre Hand auf die Stirn zu legen. Ich wich ihr aus, damit sie meine erhöhte Körpertemperatur nicht bemerkte und funkelte sie böse an.

„Lass mich!“

Jetzt sah sie noch verwirrter drein. „Wow, schon gut!“ Sie hob beschwichtigend die Hände. „Ich meine ja nur, du wäschst sonst nie freiwillig die Wäsche. Moment.“

Ich erstarrte. Hatte sie etwa was bemerkt?

„Hast du die Waschmaschine überhaupt schon mal benutzt?“

Ich atmete erleichtert aus. „Nein.“

„Na dann, warte, ich helf' dir kurz.“ Sie griff oben ins Regal und löffelte mit der Plastikkelle ein wenig vom Waschpulver aus der großen Schachtel und schüttete sie in die Trommel. „Das kommt da rein und dann drehst du das hier hin und drückst da drauf, Deckel zu und ab geht die Post.“

Und schon hörte man, wie das Wasser blubberte.

„Danke“, sagte ich.

„Nichts zu danken“, antwortete meine Schwester. „Wäre toll, wenn du das öfter mal machen würdest. Wobei du beim nächsten Mal ruhig auch etwas Wäsche mit rein tun könntest, die nicht von dir ist. Ist sonst nämlich eine ziemliche Wasserverschwendung.“ Sie zwinkerte und ging.

Ich war froh, dass sie nicht weiter nachfragte oder nachgesehen hatte, was für Wäsche ich da wusch.

Nachdem die Wäsche sauber war, stopfte ich sie direkt in den Trockner. Den hatte ich vor ein paar Wochen schon mal benutzt, weil ich es eilig hatte. Und dieses Mal war es nicht anders. Ich wollte die Sachen wieder an die Leine hängen, bevor Rain ihr verschwinden überhaupt bemerkten konnte.

Als ich sie dann aber aus dem Trockner holte, waren sie viel zu zerknautscht. Vorher war das nicht so gewesen. Wahrscheinlich hatte der viele Wind sie geglättet. Wind hatte ich zwar keinen da, aber ein Bügeleisen tat es auch. Ich ging also in Mums Bügelzimmer und tat mein Bestes, die fremde Wäsche möglichst glatt zu kriegen. Als ich halbwegs damit zufrieden war, prüfte ich nach, ob ich alles ausgesteckt hatte. Wenn ich jetzt noch unser Haus abfackelte, wäre das das i-Tüpfelchen.
 

Ich wollte gerade zur Tür hinaus, da hörte ich Mums Rufen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie nach Hause gekommen war. „Billy, bist du das?“, kam es aus der Küche. Ich überlegte kurz, ob ich so tun sollte, als hätte ich sie nicht gehört, aber Mum war schneller. Sie streckte schon ihren Kopf aus dem Türrahmen und sah mich im Flur stehen. „Wo willst du denn hin?“, wollte sie wissen und ging auf mich zu. „Hast du deine Hausaufgaben schon gemacht?“

„Nein, noch nicht“, gab ich zu. Dass meine Schultasche noch in der Schule auf dem Dach lag, verschwieg ich.

„Was hast du denn damit vor?“, fragte sie dann und deutete auf die Klamotten, die ich auf dem Arm trug.

„Nichts, ich äh...“

Denk nach, denk nach, denk nach...

„Ich wollte nach der Schule bei Rain vorbei schauen. Sie war aber nicht da, stattdessen hab ich eine Katze in ihrem Garten gesehen und wollte sie streicheln. Sie ist aber weggelaufen und als ich hinterher wollte, bin ich gegen ihre Wäscheleine gekommen und die Klamotten fielen runter. Ich hab sie für sie gewaschen und gebügelt und wollte sie jetzt zurückbringen.“

Oh man, ich wusste gar nicht, dass ich so gut lügen konnte...

Mum sah mich misstrauisch an. Ahnte sie vielleicht etwas?

Ich sah wartend zu ihr empor.

„Da stimmt aber etwas nicht“, sagte sie dann.

Mein Herz glitt allmählich von seinem angestammten Platz. „Was meinst du?“

„Na, wenn du das richtig machen möchtest, musst du die Sachen schon schön zusammenlegen.“

Zum gefühlten hundertsten Mal an diesem Tag atmete ich erleichtert auf. Mum nahm die Kleider und zeigte mir, wie man sie richtig zusammenlegte: „So, das hier legst du so hin, den Ärmel schlägst du dann so hier rüber und dann klappst du das hier runter. Fertig ist der Pullover.“

„Danke, Mum“, bedankte ich mich und ging mit den frisch zusammengelegten Klamotten einige Häuser weiter zu Rain. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, dass ich alle Personen, die mir am wichtigsten waren, anlog, aber ich hielt es dennoch für das Beste, auch wenn es weh tat. Rain ahnte genauso wenig etwas wie meine Mum und kaufte mir die Geschichte mit der Katze ab.
 

Nachdem ich das also nun erledigt hatte, hätte ich eigentlich heimgehen können, mir war aber so gar nicht danach. Ich entschloss mich, stattdessen ein bisschen in den Wald zu gehen. Das war eigentlich gar nicht meine Art. In meiner Freizeit war ich sonst lieber mit Freunden einkaufen oder zum Filmabend gegangen.

Ich kletterte mehr oder weniger geschickt auf einen Baum, setzte mich auf einen Ast, von dem ich glaubte, dass er mich tragen würde und schlang die Arme um die angewinkelten Knie. Nun da ich meine Ruhe hatte, begann ich mich zu fragen, wie sich wohl Mum bei ihrer ersten Verwandlung angestellt hatte. Ob sie direkt damit klar gekommen war? Na ja, sie hatte ja auch nur mit viel Fell und vier Beinen zu kämpfen gehabt, nicht mit Federn und Flügeln. Ich seufzte. Warum war ich nur so anders? Warum ausgerechnet ich?

Plötzlich begann der Ast unter mir zu knacken und ich machte mich erschrocken daran, von diesem Baum runter zu kommen. Blöderweise war ich etwas zu ungeschickt und schrammte mir beim Abstieg den kompletten Unterarm auf. „Verdammt“, zischte ich. Als ich jedoch die Wunde betrachtete, sah ich bereits, wie die ersten Schrammen verblassten. Fasziniert und ungläubig zugleich starrte ich auf meinen wenige Sekunden später bereits wieder gesunden Arm. „Wow“, hauchte ich. Gehörte das etwa auch dazu?
 

Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf. Ich wollte mit dem ersten Bus zur Schule fahren, um meine Tasche zu holen, noch bevor Mum mich zum Frühstück rufen würde. Ich wusste, dass die Putzfrau um diese Uhrzeit schon unterwegs war. Das Licht, das in diesen frühen Stunden bereits durch die Fenster der Klassenräume schien, bestätigte mir das. Ich betrat das Schulgebäude wie gewohnt durch den Haupteingang, schlich mich dann aber mehr oder weniger weiter.

Auf dem Dach angekommen, suchten meine Augen nervös nach meiner Schultasche. Zu meiner Erleichterung lag sie noch immer hier, zusammen mit einer beachtlichen Menge an Kleidungsfetzen. Ich las alle zusammen und stopfte sie in meine Schultasche, wo auch noch immer das Stückchen Tisch drin lag und trat die Heimreise mit dem nächstmöglichen Bus an.
 

Als Mum mich zum Frühstück wecken wollte, lag ich wie immer in meinem Bett. Alles hatte reibungslos funktioniert. Jetzt musste ich nur noch den Rest des Tages überstehen.

Ich saß gerade in der Küche und verputzte mein letztes Brötchen, da bimmelte das Telefon. Mum ging wie gewohnt an den Apparat.

„Black-Cullen?“, meldete sie sich.

„Ja?“, kam es dann. „Ja... ja, natürlich.“

Ihre Stimmlage wurde langsam weniger freundlich.

„Was? Nein... in Ordnung. Ja, selbstverständlich. Ja, danke. Vielen Dank.“

Dann legte sie auf.

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch schluckte ich mein letztes Stück. Mum hielt kurz inne, nachdem sie aufgelegt hatte, dann erst drehte sie sich zu mir um.

„Was ist?“, fragte ich nun etwas nervös.

„Du hast einen Tisch kaputt gemacht?! Und was noch viel schlimmer ist, du hast gestern den halben Unterricht geschwänzt?!“

„Ich kann alles erklären“, stammelte ich.

„Nur zu, ich bin ganz Ohr“, antwortete sie und wartete auf meine Erklärung.

Zum zweiten Mal musste ich ihr nun wegen der ganzen Sache eine Lüge auftischen.

„Ich weiß nicht, wie das mit dem Tisch passieren konnte. Er war wohl einfach alt und morsch. Ich meine, die sind teuer, die Schulen haben doch so wenig Geld, du weißt sicher am besten, wie das mit den Geldern ist. Aber die waren dann alle so sauer und dann war ich unten beim Hausmeister und ich war so überfordert, ich meine, ich musste doch noch nie Strafarbeiten machen. Und da bin ich dann einfach ausgebüxt und war den Rest des Tages im Wald spazieren.“

Ihr misstrauischer Blick verflüchtigte sich nach und nach, bis sie letztlich wieder einen freundlichen, jedoch besorgten Gesichtsausdruck hatte. „Aber mein Schatz“, sagte sie. „Du hättest mich doch anrufen können. Ich bin doch immer für dich da. Ich dachte das wüsstest du.“

„Ja, ich weiß, aber...“

„Ach Billy“, sagte sie dann und legte ihre Hand an meine Wange.

Ich reagierte zu langsam, um es zu verhindern. „Du bist ja ganz heiß, hast du Fieber, Schatz?“

Ich nahm ihre Hand von meiner Wange und wich zurück. „Nein, Mum. Ich muss jetzt aber wirklich los!“ Ich drehte mich um und trat vor die Tür. Wie so häufig in dieser Gegend, regnete es nun. Mum folgte mir, griff auf dem Treppenvorsatz nach meiner Tasche und hielt mich fest.

„Du kannst doch in dem Zustand nicht zur Schule gehen!“, rief sie mir nach.

„Mum, bitte lass mich los!“, rief ich zurück.

„Billy-Sue!“, schrie sie mich dann an.

Dann rutschte ich plötzlich auf der ersten Stufe aus und fiel vorn über. Normalerweise wäre ich mit dem Gesicht voraus auf dem Boden aufgeschlagen, stattdessen zitterte wieder jede einzelne meiner Fasern und die Hitze durchströmte mich. Nur einen Wimpernschlag später flatterte ich unbeholfen im matschigen Boden vor unserem Haus herum.

Mum stand, zur Salzsäule erstarrt, so schien es, am oberen Ende der Treppe, doch dann übersprang sie plötzlich alle Stufen und umschloss mich komplett mit ihren Armen. „Billy!“, rief sie verzweifelt. Sie hielt mich fest in dem Versuch, mein Gezappel zu unterbinden. Ich hingegen konnte nicht anders, als immer weiter zu flattern. Trotz allem ließ meine Mutter mich nicht los, wahrscheinlich aus Angst, dass ich davon fliegen würde. Sie hatte ja keine Ahnung, dass ich nicht wusste, wie das ging.

Mum brachte mich zurück ins Haus, ging mit mir in ihr Schlafzimmer im ersten Stock und schloss die Tür hinter sich, dann erst ließ sich mich los. Ziemlich aufgeplustert saß ich nun auf ihrem Teppichboden. Sie sah mich müde an, versuchte dann jedoch zu lächeln und setzte sich aufs Bett.

„Beruhig dich, mein Schatz. Es ist alles in Ordnung, niemand tut dir etwas und ich bin dir auch nicht böse.“

Ihre Worte waren tatsächlich wie Balsam für meine Seele. Ich spürte, wie ich mich nach und nach entspannte und auch Mum wurde ruhiger. Schließlich war da wieder dieser Sog und die Federn verschwanden. Meine Flügel wurden zu Händen, mein Schnabel wieder ein Mund. Beschämt, dass ich nun ohne Kleidung und voller Matsch in Mums Schlafzimmer saß, kauerte ich mich auf dem Fußboden förmlich zusammen und schlang die Arme um mich selbst.

„Billy...“, flüsterte Mum sanft. „Komm her, mein Schatz.“

Ich sah traurig zu ihr hinüber und spürte, wie meine Augen sich allmählich mit Tränen füllten.

„Komm“, wiederholte sie leise und breitete die Arme auf. Ich lief langsam zu ihr hinüber und kuschelte mich hinein. Sie schlang beschützend ihre Arme um mich, drückte mich an sich und wog mich sanft hin und her. Jetzt konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

„Es tut mir so leid, Mum“, wimmerte ich.

„Aber nicht doch, mein Schatz“, flüsterte sie. „Du kannst doch nichts dafür.“

Jetzt wimmerte ich leise vor mich hin.

„Seit wann kannst du dich verwandeln?“, fragte sie.

„Seit... seit gestern“, schluchzte ich.

„Hast du deswegen die Schule geschwänzt?“

Ich nickte. „Da war diese Hitze und ich musste so zittern. Ich wusste nicht was es war. Ich war total verwirrt und bin aufs Dach geflüchtet und dann ist es auf einmal passiert, als ich fiel.“

„Und als du dich zurückverwandelt hattest, hast du dir die Kleider von Rains Wäscheleine genommen?“

Wieder nickte ich.

„Ach, Schatz“, sagte Mum und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Warum bin ich nur so komisch?“, fragte ich weinend.

„Das ist das Gen, mein Schatz. Es schlummert in uns allen und in manchen bricht es unter bestimmten Voraussetzungen aus. Es tut mir Leid, dass dir das passiert ist. Das habe ich für dich nie gewollt, aber ich trug es in mir und dein Vater ebenso.“

„Das meine ich nicht“, jammerte ich. „Ihr wart doch beide Wölfe. Ich bin ein Vogel. Jetzt bist du sicher furchtbar enttäuscht.“

„Enttäuscht?“, fragte sie und lächelte dabei leicht. „Ach, Unsinn.“ Sie nahm ein Tuch und wusch mir etwas Dreck vom Oberarm und aus dem Gesicht. „Stell dir vor, du wärst kein Vogel gewesen, als du vom Dach gefallen bist. Du hättest tot sein können.“

„K-kannst du auch ein Vogel werden?“, fragte ich verwundert.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

„U-und Daddy?“

- „Nein.“ Jetzt sah sie nachdenklich drein, aber auch irgendwie traurig.

„Schatz, wie wäre es, wenn du dich kurz abduschst, während ich in der Reservatsschule Bescheid gebe, dass ich heute nicht kommen kann?“

„O-okay“, antwortete ich. Mum legte mir ihren Morgenmantel um und ließ mich dann ins Bad gehen.
 

Gut eine Viertelstunde später, kam ich frisch geduscht und in sauberen Klamotten wieder hinunter in die Küche, wo Mum mir ein paar Kekse und Milch bereitgestellt hatte.

„Setz dich, mein Schatz“, sagte sie und deutete mir den Platz am Kopfende an. Sie setzte sich auf den Stuhl links von mir.

„Ich kann nicht mal fliegen“, sagte ich dann.

Sie musste kurz lächeln. „Das wirst du bestimmt noch lernen, aber nicht von mir. Ich kann dir da leider nicht helfen.“

„Ich weiß, Mum. Ich übe einfach fleißig, dann klappt das bestimmt.“

„Und in der Zwischenzeit?“, meinte Mum dann. „Verwandelst du dich unkontrolliert und wirst möglicherweise überfahren oder von einem Hund zerrissen? Nein, mein Schatz, das geht so nicht.“

- „Du kannst mir aber doch bestimmt beibringen, wie man die Verwandlungen kontrolliert, oder etwa nicht?“

„Schon, aber das wird Wochen dauern. Es kann so schrecklich viel passieren bis dahin und selbst wenn du gelernt hast, deine Verwandlungen zu kontrollieren, es hat noch so vieles mehr, was du lernen musst. Das Fliegen, das Landen. Wie du dich in der Luft verhalten musst. Der Umgang mit anderen Tieren. Ich war ein pferdegroßer Wolf, ich weiß nichts von diesen Dingen.“

„Aber wer soll mir das denn beibringen können, wenn nicht du? Ihr wart doch alle Wölfe?“

Zu meiner Überraschung schüttelte sie nun den Kopf. „Nicht alle.“

Ich sah sie fragend an.

„Dein Onkel konnte sich in fast jedes Tier verwandeln. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er im Gegensatz zu mir nie damit aufgehört hat, sich zu verwandeln.“

„Du willst mich fortschicken?“, fragte ich empört.

„Ich will, dass du lernst, mit deinen Fähigkeiten umzugehen. Dazu brauchst du einen entsprechenden Lehrer und einen Ort, an dem du in Ruhe üben kannst, ohne Menschen.“

- „Wie lange?“

„Das weiß ich nicht.“

- „Aber meine Freunde. Die Schule. Mein Referat!“

„Du hättest wahrscheinlich nicht im Traum daran gedacht, dass ich das jemals sagen würde, aber die Schule ist jetzt erstmal egal.“

Ich sah sie traurig an.

Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände. „Billy, wenn ich könnte, würde ich dir das alles ersparen, aber ich kann es nicht ändern. Das ist unsere Natur. Es tut mir Leid, mein Kind.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ich schüttelte den Kopf.
 

Noch am selben Abend weihten wir meine Geschwister ein. Sie nahmen es relativ mit Fassung. Ich sah ihnen jedoch an, dass sie sich Sorgen um mich machten.

„Versprich uns, dass du heil wiederkommst, Zwerg“, bat Madeleine.

„Und halt die Ohren steif – oder die Flügel“, sagte mein Bruder Harry und zwinkerte mir zu.

Während ich meine Sachen packte, organisierte meine Mutter meinen Flug und meldete mich für eine unbestimmte Zeit von der Schule ab. Ich hätte mich gern bei meinen Freundinnen verabschiedet, aber Mum hielt den Kontakt mit Menschen momentan für zu riskant. Ich würde wohl warten müssen, bis ich meine Verwandlungen unter Kontrolle hatte. Wie lange das dauern würde, das konnte mir niemand sagen.
 

„Bist du dir ganz sicher, dass du allein fliegen möchtest, mein Schatz?“, fragte Mum am nächsten Morgen am Flughafen. Sie schien nervöser zu sein als ich es war. Ich nickte. Ich hatte Angst, dass ich nicht bei den Cullens bleiben würde, wenn sie mit mir dort war und wieder Heim flog. Der Abschied dort würde wahrscheinlich noch viel schwerer sein, als es dieser hier nun war. Ein möglichst glatter Schnitt schien mir das Beste zu sein.

„Ich hab dich lieb, Mum“, flüsterte ich ihr zu, als sie mich ein letztes Mal am Terminal umarmte.

„Ich dich auch, mein Schatz. Gib Bescheid wenn du angekommen bist und melde dich ab und an bei mir, ja?“ Ihre Stimme zitterte leicht. Sie würde sicher bald weinen und wenn sie weinte, das wusste ich, würde ich meine Tränen sicher auch nicht mehr zurückhalten können.

„Versprochen“, antwortete ich. „Wiedersehen.“ Dann drehte ich mich um und machte mich auf den Weg zum Flugzeug.



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