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Ich bin nicht mehr der Hobbit, der ich einst war

von

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Prolog, in dem eine Entscheidung getroffen wird.

Die Sonne stand triumphierend und hell leuchtend am Himmel. Es schien fast so, als feierte sie zusammen mit den Siegern der großen Schlacht.

Erebor gehörte wieder den Zwergen. Ihr König, Thorin Eichenschild, hatte sein Reich zurückerobert. Eine glorreiche Zukunft lag vor ihm, seinen Freunden und Untertanen.

Der Drache Smaug war tot und niemand zweifelte daran, dass der Frieden das Land überziehen würde.

Es gab also genug Grund zum Feiern. Und das taten alle. Nur einer nicht. Ein kleiner Hobbit, der viel riskiert hatte und Teil dieser gewaltigen Geschichte war, hatte keinen Grund, glücklich zu sein. Im Gegenteil. Er hatte alles verloren, was wichtig für ihn war. Seine Freunde, ein zweites Zuhause, sein Herz.
 

Er sprach kaum. Er war zu sehr in Gedanken versunken, um wirklich Teil dieser Welt zu sein. Den Blick stur nach vorn gerichtet, ritt er neben Gandalf.

Ihr Weg führte sie zurück ins Auenland. Ein ruhiger, wunderschöner Ort, den er nur allzu oft vermisst hatte. Seine Heimat.

Er drehte sich um und betrachtete schweigend den Einsamen Berg, der stolz und majestätisch in die Höhe ragte. Sobald die Nebelberge überquert waren, würde er aus Bilbos Sicht verschwinden.

Doch dort, in der Ferne, waren all die Freunde, die er so lieb gewonnen hatte. Freunde, die er nie wiedersehen konnte, weil ihn Thorin Eichenschild mit der Verbannung bestraft hatte. Nach allem, was er für die Zwerge getan hatte, wurde er fortgeschickt und durfte nie mehr zurückkommen.

Kurz schloss der Hobbit die Augen und biss sich auf die Unterlippe.

Er sollte keine Trauer empfinden. Seine Freunde hatten die Schlacht um Erebor überlebt. Thorin und seine beiden Neffen hatten zwar schwere Verletzungen davon getragen, doch Gandalf hatte Bilbo mitgeteilt, dass keine davon lebensgefährlich war und die drei bald damit beginnen konnten, ihre zurückeroberte Heimat neu aufzubauen.

Ihn schmerzte der Gedanke, dass er Erebor niemals in voller Pracht sehen durfte. Bilbo Beutlin war für die Zwerge ein Dieb, der kein Recht hatte, ihr Heim zu betreten.

Langsam öffnete er wieder die Augen.

Ja, Bilbo Beutlin konnte niemals nach Erebor.

»Gandalf?«

Die Stimme des Hobbit durchbrach die Stille, die sich schon seit Stunden über die beiden Reisenden gelegt hatte. Der alte Zauberer stoppte sein Pferd und drehte sich zu Bilbo um, bevor dieser weitersprach.

»Ich kann nicht zurück ins Auenland«, sagte er leise. »Es gibt dort nichts mehr für mich.«

Gandalf lachte. »Wovon redest du da? Ich erinnere mich noch ganz genau an einen Hobbit, der es kaum erwarten konnte, wieder in seinem weichen Sessel zu sitzen und ein gutes Buch zu lesen.«

Der Halbling lächelte matt. »Ja, aber diesen Hobbit gibt es nicht mehr, Gandalf. Du hattest recht.«

»Gewiss hatte ich das, aber womit?«

»Du sagtest, dass ich ein anderer sein werde, wenn ich dieses Abenteuer überstehe. Es stimmt. Ich bin nicht mehr Bilbo Beutlin. Er würde sich über sein gemütliches Zuhause freuen und sein Leben so weiterführen, als wäre nichts gewesen. Aber ich kann das nicht, Gandalf. Ich würde verrückt werden. Ich muss weiterziehen. Mein Abenteuer kann nicht einfach so vorbei sein. Ich habe schon viel gesehen, aber noch nicht alles.«

Der Graue musterte den Hobbit schweigend und nickte dann leicht. »Ich verstehe, mein Freund. Doch wohin soll deine Reise führen?«

Bilbo blickte in die Ferne. »Im Süden liegt Rohan, nicht wahr? Das wäre doch ein Anfang.«

»Dann hast du einen langen Weg vor dir«, merkte der Zauberer an. »Doch nach allem, was passiert ist, zweifle ich nicht daran, dass du diese Reise unbeschadet überstehen wirst. Das Glück war bislang immer auf deiner Seite.«

Der Halbling rang sich zu einem leichten Lächeln durch. »Wenn man von ein paar Ausnahmen absieht, Gandalf. Einiges lief nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte...«

Sein Blick trübte sich, als er an die letzte Begegnung mit Thorin dachte. Er konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht mehr vergessen. Verachtung und Hass hatten Bilbo mitten ins Herz getroffen. Der Zwergenkönig hatte ihm am Anfang ihrer Reise viele verletzende Worte ins Gesicht geschleudert, doch die letzten, die Thorin an ihn gerichtet hatte, schmerzten noch immer und hatten tiefe Narben hinterlassen.

Er schüttelte den Kopf, um der Erinnerung zu entkommen.

Es hatte wirklich keinen Sinn, zurückzublicken. Er musste nach vorn sehen. Die Welt wartete auf ihn und Bilbo hatte vor, von ihr zu lernen, um das neue Leben, das er für sich gewählt hatte, als stärkerer Hobbit zu bestreiten. Und wenn er genug Kraft gesammelt hatte, konnte er vielleicht ein letztes Mal dem König unter dem Berg gegenübertreten.

Gandalf bedachte ihn mit einem wissenden Blick. Der Hobbit war sich sehr sicher, dass der Zauberer wusste, dass Bilbo mehr als nur Freundschaft für Thorin empfand und er war froh, dass der Graue diese Information für sich behielt. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr. Der Zwerg hatte sich dafür entschieden, den Halbling zu hassen und es gab wohl keine Möglichkeit, seine Meinung zu ändern. Er war eben ein sturer, uneinsichtiger und herzloser Dummkopf.

Aber Bilbo war ein noch viel größerer Dummkopf, denn er hatte zugelassen, dass er sein Herz ausgerechnet an jemanden wie Thorin Eichenschild verloren hatte. Es war seine eigene Schuld, dass er nun mit diesen furchtbaren Gefühlen leben musste.

»Du bist dir auch ganz sicher, dass du das tun willst, Bilbo?«

Die Stimme des Zauberer riss den Hobbit aus seinen Gedanken.

»Ja, ich bin mir ganz sicher. Das ist der richtige Weg, Gandalf«, lautete seine Antwort. »Du willst mich doch nicht überreden, doch ins Auenland zurückzukehren, oder?«

Der Graue schüttelte lachend den Kopf. »Nichts läge mir ferner, mein Freund. Deine Mutter wäre sicherlich sehr stolz auf dich.«

Bilbo dachte eine Weile über diese Worte nach und blickte zum Einsamen Berg.

»Denkst du, dass er mich töten wird, wenn ich sein Königreich betrete?«

»Du kennst ihn und seinen ausgeprägten Stolz, Bilbo. Er müsste es tun.«

»Dann muss ich alles, was ich vorhabe, vor dem Treffen mit ihm erledigen«, sagte der Halbling mit einem schwachen Lächeln.

Sein Pony setzte sich langsam in Bewegung und hielt direkt neben Gandalfs Pferd an.

»Könntest du mir einen Gefallen tun, Gandalf?«

»Ich werde es versuchen.«

Bilbo zögerte kurz, bevor er seinen Wunsch äußerte, den sich der Zauberer mit gerunzelter Stirn anhörte.

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«

Der Hobbit nickte. »Falls ich es irgendwann tatsächlich zurück nach Erebor schaffe, wird es mir vieles erleichtern. Und ich denke, es ist ein perfekter Neuanfang.«

Der Graue nickte verstehend und versprach, den Wunsch seines Freundes zu erfüllen.

Nachdem sich die beiden verabschiedet hatten, setzte sich Bilbos Pony erneut in Bewegung. Der Weg, der vor ihm lag, war ihm unbekannt, doch er spürte keine Angst. Der Tuk in ihm hatte die Oberhand und füllte sein Herz mit Vorfreude und gesunder Aufregung.

Ein letztes Mal betrachtete er den Einsamen Berg.

»Irgendwann sehen wir uns wieder, mein König.«
 

---------------
 

Schweißgebadet erwachte Bilbo mitten in der Nacht.

Es war nicht das erste Mal, dass Albträume ihn terrorisierten. Bereits kurz nach Beginn der Reise hatte die Gestalt des Drachen Smaug ihn bei jeder Gelegenheit heimgesucht.

Er war diesem Wesen noch nie begegnet, doch trotzdem sah er den Feuerspucker klar und deutlich vor sich. Schlaf war ein Luxus, in dessen Genuss er nur noch selten kam.

Leise richtete er sich auf und betrachtete die Zwerge um ihn herum, die scheinbar keine Probleme mit einem Drachen hatten, der sie verfolgte.

Ein kurzer Seufzer entfuhr ihm. Die Reise war ohnehin schon kräftezehrend, doch im übermüdetem Zustand wurde alles zur reinen Qual.

Nachdem er sich aufgerichtet hatte, streckte er sich und sah hinüber zu dem einzigen Zwerg, der noch wach war.

Thorin hielt den Blick weiterhin in die Dunkelheit gerichtet, als sich ihm eine Person näherte und neben ihm platz nahm.

»Soll ich mal für eine Weile Wache halten?«, fragte der Hobbit leise.

Als keine Antwort von dem Zwerg kam, seufzte Bilbo leise und fuhr fort: »Ihr denkt immer noch, dass ich einschlafen würde, nicht wahr? Traut Ihr mir denn überhaupt nichts zu?«

»Warum freut Ihr Euch nicht einfach darüber, dass Ihr diese Aufgabe nicht übernehmen müsst, Herr Beutlin?«, kam schließlich die gemurmelte Antwort.

Der Hobbit verschränkte die Arme vor der Brust. »Weil ich mich nützlich machen will«, antwortete er. »Schließlich gehöre ich zu Euch und möchte auch die gleichen Aufgaben übernehmen wie jeder andere hier.«

Der Zwergenkönig sah den Halbling mit kalten Augen an. »Ihr mögt Teil dieser Unternehmung sein, doch glaubt nicht einmal für einen Augenblick, dass Ihr einer von uns seid, Hobbit.«

Bilbo biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick.

Man sollte meinen, dass sich Bilbo bereits an Thorins harte Worte gewöhnt hatte, doch sie trafen ihn immer wieder wie Pfeile mitten in die Brust.

»Was müsste ich tun, um zu Euch zu gehören?«, kam die zögerliche, geflüsterte Frage.

Thorin schnaubte. »Ihr müsstet ein anderer sein, Herr Beutlin. Ein vollkommen anderer Mann.«

Der Zwerg stand auf. »Und Ihr werdet Euch niemals ändern.«

Noch lange, nachdem der Zwergenkönig sich von ihm entfernt hatte, bewegte sich der Hobbit nicht von der Stelle und blickte stumm in die Nacht.
 

Es folgt: Kapitel Eins, in dem die Geschichte von Bilbo Beutlin erzählt wird.

Kapitel Eins, in dem die Geschichte von Bilbo Beutlin erzählt wird.

Die Kinder, die um ihn herum saßen, lauschten verzaubert seinen Worten und das Glänzen in ihren Augen zeigte nur zu deutlich, wie gefesselt sie von Bilbos Geschichte waren.

»Mit einem lauten Krachen brachen nacheinander alle Bäume und die Zwerge mussten auf den einzig verbliebenen springen, der gefährlich nah an einer Klippe stand. Als wäre ihre Lage nicht ohnehin schon aussichtslos gewesen, kam der bleiche Ork Azog immer näher.«

Der Hobbit machte eine kurze Pause, da er selbst gerade in seiner Erzählung gefangen war und noch einmal alle Gefühle von damals durchlebte.

Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, fuhr er fort: »Furchtlos stellte sich Thorin dem Ork, doch er unterlag und wurde von Azog und seinem weißen Warg schwer verwundet.«

Bilbos Stimme zitterte leicht. Das Bild des verletzten Zwergenkönigs hatte sich in sein Gedächtnis gebrannt.

»Azog befahl einem anderen Ork, Thorin zu enthaupten. Unfähig, etwas zu tun, mussten die anderen Zwerge mit ansehen, wie der Ork zum Schlag ausholte, doch im letzten Augenblick stürzte sich Bilbo auf ihn. Nachdem er den Ork getötet hatte, stellte er sich zwischen den verwundeten Zwerg und Azog. Der Hobbit war sich sicher, dass er diesen Kampf nicht überleben konnte, doch trotzdem wich er nicht zurück und richtete seine Waffe gegen den bleichen Ork. Bilbos Schicksal schien besiegelt zu sein, doch dann-«

Die Stimme einer Mutter, die ihr Kind zum Abendessen rief, unterbrach die Erzählung und ließ alle Zuhörer genervt aufstöhnen.

Nach und nach waren immer mehr Frauenstimmen zu hören und Bilbo lachte kurz.

»Essenszeit, Kinder. Ihr solltet eure Eltern nicht warten lassen«, sagte er und streckte sich ausgiebig.

Nachdem sich die meisten ihrem knurrenden Magen ergeben hatten und nach Hause liefen, zupfte ein blondes Mädchen mit strahlend blauen Augen an Bilbos Jacke und sah zu ihm auf.

»Erzählst du die Geschichte morgen weiter, Bungo? Ich möchte wissen, wie es weitergeht!«

Der Hobbit lächelte das kleine Mädchen an und strich ihr über die langen Haare. »Natürlich werde ich das«, versprach er. »Aber jetzt solltest du schnell nach Hause gehen. Deine Mutter wartet sicher schon auf dich.«

Nickend verschwand das Mädchen und ließ den Halbling allein zurück. Zumindest dachte er, dass niemand sonst anwesend war, bis hinter ihm eine Stimme erklang.

»Du kannst den Kindern nich' die Wahrheit sagen, Bungo? Sie werden enttäuscht sein, wenn du morgen nich' mehr da bist«, sagte der Schmied, bei dem Bilbo Unterschlupf gefunden hatte, seitdem er in dem Dorf angekommen war, das nun schon ein paar Monate lang sein Zuhause war.

»Es ist besser so«, versicherte Bilbo. »Ich mag keine langen Abschiede. Das tut nur weh.«

Der Schmied legte dem Hobbit eine Hand auf die Schulter.

»Musst du denn wirklich gehen?«, fragte er. »Was treibt dich fort?«

Der Halbling dachte eine Weile nach und sah dann zu dem Menschen auf. »Ich habe noch etwas zu erledigen. Ich muss jemanden wiedersehen und ich kann das nicht länger aufschieben, Éoman.«

Für einen Augenblick war sein Blick von Trauer getrübt. »Ich kann einfach nicht länger warten.«

Nachdem Éoman den Hobbit eine Weile gemustert hatte, lächelte er wissend. »Du liebst sie wohl sehr, was?«

Bilbos überraschter Gesichtsausdruck brachte den Schmied zum Lachen.

»Ich bin nich' dumm, Meister Tuk.«

Mit einem geheimnisvollen Grinsen wandte sich der Hobbit ab. »Gewiss, aber du weißt auch nicht alles, mein Freund«, sagte er. »Und vielleicht ist das auch besser so.«

Ja, er hatte all den Menschen, mit denen er zusammenlebte, vieles nicht erzählt. Manchmal hatte er sie sogar angelogen. Für sie war er Bungo Tuk, ein Abenteurer und Geschichtenerzähler, der vor langer Zeit dem Auenland den Rücken zugekehrt hatte, um die Welt zu bereisen.

Die Wahrheit bekamen sie nur durch die Geschichte von Bilbo Beutlin zu hören und niemand ahnte, dass der Held dieser Erzählung direkt vor ihnen stand.

Er täuschte niemanden aus Boshaftigkeit, aber sein alter Name war eine Last, die er nicht gebrauchen konnte. Er musste sich nicht für Bilbos Taten rechtfertigen oder seine Pflichten erfüllen. Er konnte abseits von all dem leben, was er früher getan hatte. Er hatte sein früheres Dasein abgelegt.

Doch eines war ihm geblieben. Bilbos Gefühle konnte er nicht von sich drücken. Und das missfiel dem Hobbit. Sein neues Leben war großartig. Kein Heimweh plagte ihn, es fehlte ihm an nichts. Nur eines konnte er einfach nicht hinter sich lassen. Einen konnte er einfach nicht hinter sich lassen.

Dabei hatte er es mit allen Mitteln versucht. Er hatte so viele Männer und Frauen auf seiner Reise kennengelernt, doch niemand hatte in ihm Gefühle geweckt, die er für den Zwergenkönig empfand.

In seinen schönsten Stunden dachte er an ihn. In seinen schlimmsten Stunden dachte er auch an ihn. Bevor er einschlief, sah er sein Gesicht. Selbst im Traum konnte er ihm nicht entkommen.

Nichts auf der Welt ärgerte ihn mehr als das. Ganz gleich, wo er war und was er tat, der Schatten von Thorin Eichenschild verfolgte ihn und hatte sich auf sein Herz gelegt.

Er musste es beenden.

Er musste zurück nach Erebor.
 

Als sich die Nacht über das Dorf in Rohan legte, wurde ein großes Feuer entzündet und nach dem, was Bilbo sah, hatten sich fast alle Bewohner darum versammelt.

Es wurde getrunken, gelacht und gesungen.

Solche Momente gab es nicht selten, doch eigentlich hatten sie immer einen bestimmten Grund. Der Hobbit war sich allerdings nicht sicher, was es heute Nacht zu feiern gab.

Nachdem Éoman neben ihm platz genommen hatte, sah er zu dem Schmied auf. »Was feiern wir heute?«

Der Mensch reichte ihm einen Bierkrug und lächelte seinen Mitbewohner an. »Deinen Abschied.«

Der vorwurfsvolle Blick des Halblings beeindruckte Éoman nicht im Geringsten. Lachend stieß er seinen Freund mit dem Ellbogen an.

»Du bist 'n selbstsüchtiger Bastard, Bungo«, sagte der Schmied. »Wir haben ein Recht darauf, uns anständig von dir zu verabschieden. Du bist kein Dieb, der sich davon stehlen muss.«

'Wenn ihr wüsstet', dachte Bilbo und lächelte säuerlich.

Aber vielleicht hatte Éoman recht. Seine Entscheidung war selbstsüchtig gewesen. Genau wie damals, als er zusammen mit Gandalf den Erebor verlassen hatte. Von keinem hatte er sich verabschiedet. Der Schmerz hätte ihn zerrissen.

'Bilbo, du bist ein Feigling', urteilte er über sich selbst und starrte in seinen Bierkrug.

Die Stimmen von Kindern rissen ihn aus seinen Gedanken.

Selbst die kleinsten Zuhörer seiner Geschichte waren noch wach und kamen allesamt auf den Hobbit zu.

»Du bist so gemein, Bungo!«, klagte das blonde Mädchen mit den blauen Augen. »Du hast versprochen, die Geschichte von Bilbo morgen weiterzuerzählen, aber das kannst du gar nicht!«

Das Kind prügelte mit ihren kleinen Fäusten auf den Hobbit ein, der sich nicht wehrte, sondern lediglich mit einem traurigen Lächeln auf das Mädchen herabsah.

Die großen blauen Augen füllten sich mit Tränen und als die Kräfte des Kindes letztlich versagten, klammerte es sich einfach an den Geschichtenerzähler und schluchzte herzzerreißend.

Genau das hatte er vermeiden wollen. Es tat so weh.

»Wenn du deine Frau getroffen hast, kannst du doch mit ihr zurückkommen, oder?«

Bilbo runzelte die Stirn. Seine Frau?

Er blickte zu Éoman, der gerade bei einer Gruppe von Männern saß und sich scheinbar prächtig amüsierte.

Was hatte der Schmied den Kindern erzählt?

Nun, vielleicht war diese Ausrede besser als die Wahrheit. Er konnte wohl kaum jemandem erzählen, dass er eine lange Reise auf sich nahm, um sich von dem Zwerg, den er liebte, töten zu lassen.

»Das kann ich nicht versprechen«, antwortete er deshalb. Wenigstens sagte er einmal die Wahrheit, nachdem er sich so oft in Lügen geflüchtet hatte.

Ganz offensichtlich war das blonde Mädchen mit seiner Antwort nicht zufrieden, fasste sich dann jedoch bald und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Bilbos Herz wurde leichter, als das Kind endlich wieder lächelte.

»Ich hab' etwas für dich«, verkündete es und präsentierte stolz eine Kette, die ganz offensichtlich selbst gemacht war. An ihr hingen bunte Holzperlen, jede in einer anderen Größe und Form.

Der Halbling senkte den Kopf und das Mädchen legte ihm zufrieden lächelnd die Kette um den Hals und schloss sie mit einem festen Knoten.

»Vielen Dank.«

»Du musst sie immer tragen! Sie bringt Glück!«

Lächelnd nickte der Hobbit und stand auf. Ein paar Jungen, etwas älter als das Mädchen, traten nach vorn und sprachen im Chor: »Wir haben auch ein Geschenk für dich, Bungo.«

Einer der Knaben hielt eine weitere Kette in die Höhe. An ihr waren braune und schwarze Federn befestigt.

»Wir haben die schönsten genommen, die wir in unserer Schatzkiste hatten«, erklärte der kleinste der Bande.

Bilbo hatte oft gesehen, dass die Kinder es sich zur Aufgabe gemacht hatten, alles zu sammeln, das irgendwie als Schatz bezeichnet werden konnte.

Dankend ließ sich der Hobbit auch diese Kette um den Hals legen und während er sie betrachtete, dachte er daran, dass er den Kindern noch nicht von den Adlern erzählt hatte. Und sie würde nie von ihnen erfahren.

Dieser Gedanke ließ Bilbo selbst mit den Tränen kämpfen.

'Wie albern', dachte er sich und blinzelte mehrere Male.

Das blonde Mädchen griff besorgt nach seiner Hand. »Komm, Bungo. Setzen wir uns ans Feuer und dann singst du Bilbos Lied über die Zwerge«, schlug sie vor.

Irritiert sah der Halbling auf das Kind herab, das ihn näher an das Feuer führte.

»Das singst du doch immer, wenn du traurig bist. Danach lächelst du wieder.«

Sie hatte recht. Das Lied der Zwerge, dessen Text er für sich abgeändert hatte, beruhigte seinen Geist auf seltsame Art.

Nachdem sich Bilbo und die Kinder gesetzt hatten, schloss der Geschichtenerzähler die Augen und begann zu singen.
 

»Die Nebelberge erklimmen wir

und die Hoffnung erwacht in mir.

Was früher war, das wird ganz klar

auferstehen, in neuem Glanz.
 

Mondlicht lässt die Berge erglüh'n.

Es wird zur Heimat sie schon bald führ'n.

Das Lied erklingt und wird geschwind

vom Wind getragen in alle Welt.
 

Freunde vergessen sie nicht.

Feinden verzeihen sie nie.

Keine Angst in ihrem Gesicht.

Zwingen jeden in die Knie.

Eine Tür führt sie ans Ziel.

Seitdem ihre Heimat fiel,

wartet im Berg seit langer Zeit

ihr geliebtes, längst vergessenes Gold.«
 

Mit jeder Zeile wurde das Lied lauter und stärker durch die neuen Stimmen, die Bilbo und die Kinder unterstützten. Es dauerte nicht lange, bis das gesamte Dorf das Lied sang, das sonst nur von den Zwergen zu hören war.

Für einen kurzen Augenblick gab sich der Hobbit dem naiven Gedanken hin, dass der Gesang vom Wind bis nach Erebor getragen wurde.
 

»Der kalte Wind der Nebelberge tobt.

Doch wissen wir: Die Reise lohnt.

Das Gold ist nah. Der Traum wird wahr.

Wir gehen weiter, ganz gleich, was droht.
 

Für die Suche brauchen wir Glück.

Dann finden wir das schönste Stück.

Das ist allein der Arkenstein.

Gestohlenes kehrt bald zurück.
 

Das Gold ist nah. Der Tag ist da.

Das Lied erklingt. Das Herz, es singt.
 

Freunde vergessen sie nicht.

Feinden verzeihen sie nie.

Keine Angst in ihrem Gesicht.

Zwingen jeden in die Knie.

Eine Tür führt sie ans Ziel.

Seitdem ihre Heimat fiel,

wartet im Berg seit langer Zeit

ihr geliebtes, längst vergessenes Gold.

Ja, gewiss ist uns das Glück bald hold.«
 

Nachdem das Lied verklungen war, legte sich für eine Weile eine angenehme Stille über das Dorf.

Noch immer hallte die Melodie in Bilbos Innerem und er dachte an die Nacht, in der er das erste Mal den Klang des Liedes vernommen hatte.

Er schloss die Augen und hielt an der Erinnerung fest. Das erste Treffen mit Thorin. Der letzte Abend in Beutelsend. Die verbliebenen Stunden vor dem Beginn seiner Reise.

Die Vergangenheit hüllte sich wie ein Mantel um ihn. Er nahm nicht wahr, dass sich jemand zu ihm setzte.

»M-meister Tuk? S-störe ich?«, wollte eine unsichere Stimme wissen.

Die Augen des Hobbits öffneten sich rasch. »Nein, ganz und gar nicht, Fram. Was kann ich für dich tun?«

Der junge Holzfäller mit den weißblonden Haaren überreichte Bilbo ein zusammengerolltes Stück Papier.

»I-ich wollte Euch nur... ein A-abschiedsgeschenk geben«, erklärte er und vermied es, dem Halbling in die Augen zu sehen.

Fram war im Grunde kein schüchterner Mann, doch in der Gegenwart von Bilbo benahm er sich ungewohnt unruhig.

Lächelnd nahm der Hobbit das Geschenk entgegen und rollte es auseinander.

Sprachlos betrachtete er die Zeichnung, die der Holzfäller für ihn angefertigt hatte.

Ihm blickte ein detailreiches Ebenbild entgegen, mit einem sanften Lächeln auf dem Gesicht.

»W-wenn ich schon früher... gewusst h-hätte, dass Ihr uns verlasst, d-dann wäre es vielleicht b-besser-«, setzte Fram zu einer Art Entschuldigung an, doch Bilbo unterbrach ihn.

»Es ist großartig geworden. Deine Fähigkeiten als Zeichner sind wirklich bemerkenswert«, lobte er den jungen Mann. »Vielen Dank dafür.«

Gerührt von dem Geschenk konnte sich Bilbo nicht zurückhalten und umarmte Fram.

Dieser zuckte zuerst erschrocken zusammen und blieb einen Moment regungslos, gewöhnte sich dann aber schnell an die Umarmung und erwiderte sie.

Nachdem sich die beiden wieder voneinander gelöst hatten, kicherten ein paar der Kinder, die in der Nähe saßen.

»Fram ist ganz rot geworden«, bemerkte eines der Mädchen. »Es ist schön, Bungo zu umarmen, nicht wahr? Ich mach' das auch gerne!«

Bilbo schmunzelte nur, während Fram vor lauter Verlegenheit nichts zu erwidern wusste und auf seine Hände starrte, die in seinem Schoß lagen.

»Du hättest dir nicht so eine Mühe machen müssen, Fram. Ich bin sicher, es hat viel Zeit gekostet, die Zeichnung anzufertigen.«

Der Blonde winkte mit zittrigen Händen ab. »I-ich hatte schon länger daran gearbeitet... E-es sollte eine Überraschung zu Eurem Geburtstag werden, a-aber dann habe ich erfahren, dass Ihr... abreist und m-musste mich etwas beeilen«, erwiderte er. »E-es hat so lange gedauert, w-weil ich es ja g-geheim halten musste und ich Euch deswegen nicht... ständig ansehen d-durfte. D-das ist mir manchmal etwas s-schwer gefallen.«

Die Tatsache, dass Bilbo ihn ununterbrochen ansah, machte Fram nur noch nervöser.

»A-also ich meinte, dass es... mir s-schwer gefallen ist, es geheim zu halten.«

Einer der Knaben lachte. »Du hast es nicht sehr gut gemacht, Fram! Du hast Bungo ständig angestarrt!«

Die anderen Kinder kicherten hinter vorgehaltener Hand und der junge Mann war rot bis zu den Ohren.

»I-ich...«

»Müsst ihr nicht schon längst im Bett sein, Kinder? Wenn ihr mich morgen früh noch einmal sehen wollt, solltet ihr zeitig schlafen, denn ich reite schon bei Sonnenaufgang los«, versuchte Bilbo die Kinder von Fram abzulenken und lächelte diesem aufmunternd zu.

Tatsächlich schien es zu wirken. Die Kinder verabschiedeten sich mit einem gemeinsamen »Gute Nacht« und ließen den Holzfäller und den Halbling zurück.

Bilbo klopfte dem Blonden auf die Schulter und lächelte ihn freundlich an. »Die Kinder wollen dich nur ein wenig ärgern. Sie meinen es nicht böse.«

Fram erwiderte das Lächeln und nickte leicht. »J-ja, ich weiß.«

Nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte, setzte der Holzfäller erneut zum Sprechen an. »Meister T-tuk, ich wollte fragen, o-ob es in Ordnung wäre, wenn ich m-morgen«

Er wurde von Éoman unterbrochen, der einen Arm um den Hobbit legte und scheinbar schon recht angeheitert war. Zumindest dem Geruch nach zu urteilen, der von ihm ausging.

»Fram, du kannst unseren Hobbit nicht die ganze Nacht lang für dich allein beanspruchen!«, sagte er lachend. »Schließlich werden wir ihn alle vermissen!«

Bilbo ergab sich seinem Schicksal, stand auf und blickte entschuldigend zu dem Holzfäller herab.

»Sehen wir uns morgen noch einmal?«, fragte er, bevor Éoman ihn mit sich zog.

Fram nickte und sah den beiden nach.

Mit einem resignierten Seufzen erhob auch er sich und ging nach Hause.

Er wollte morgen bereits vor Sonnenaufgang bereit sein.
 

Es folgt: Kapitel Zwei, in dem eine neue Reise beginnt.

Kapitel Zwei, in dem eine neue Reise beginnt.

Der Aufbruch fiel ihm schwerer, als er erwartet hatte. Von vielen Leuten hatte er sich zum Glück bereits in der vergangenen Nacht verabschiedet und so blieben nur noch wenige traurige Gesichter übrig, in die er blicken musste, bevor er gehen konnte.

Nachdem sein Gepäck bereit war, verließ er das Haus und machte sich auf den Weg zu seinem Pony.

Unterwegs entdeckte er eine allzu vertraute Gestalt.

Lächelnd winkte er Fram zu, der scheinbar auch vor hatte, eine längere Reise zu unternehmen. Er war ebenfalls mit größerem Gepäck unterwegs.

»Guten Morgen, Fram«, rief Bilbo dem Holzfäller zu, der den Gruß erwiderte und lächelte.

Kurz besah der Hobbit das Gepäck des anderen. »Du scheinst ebenfalls eine lange Reise vor dir zu haben.«

Unruhig biss sich der Blonde auf die Unterlippe und sah überall hin, nur nicht in Bilbos Gesicht.

»N-nun, ich... ich wollte Euch fragen, ob i-ich vielleicht... mit Euch k-kommen darf.«

Überrascht hob der Halbling die Augenbrauen und musterte den jungen Mann vor sich.

»Du weißt doch gar nicht, wohin ich reise, oder?«, fragte er irritiert. »Außerdem kann ich dich auf keinen Fall zurück nach Hause begleiten. Dies ist eine Reise, die man nicht leichtfertig auf sich nehmen sollte. Du wärst hier viel besser aufgehoben.«

»Ich habe mich e-entschieden, Meister T-tuk. Ich möchte E-euch begleiten, e-egal, wohin der Weg f-führt.«

Trotz der Tatsache, dass er stotterte, lag in seinen Worten eine ungeheure Entschlossenheit, der Bilbo nichts entgegen bringen konnte.

Mit einem matten Lächeln seufzte er leise. »Ich habe keine Zeit dafür, es dir auszureden und ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass ich deine Gesellschaft nicht schätzen würde. Trotz allem ist mir nicht wohl dabei, dich in-«

Es schien zur Gewohnheit zu werden, dass die beiden von Éoman unterbrochen wurden.

Der Schmied kam rasch auf die beiden zu und klopfte Bilbo auf die Schulter.

»Du bist wie immer an mir vorbei geschlichen, doch so leicht kommst du mir nicht davon, mein Lieber.«

Der Halbling schmunzelte leicht. »Wir haben uns doch bereits gestern verabschiedet, Éoman. Erinnerst du dich nicht mehr daran?«

Der Mensch lachte laut und stupste Bilbo mit dem Ellbogen an. »Ich war voll bis oben hin, Bungo!«, begann er. »Denkst du wirklich, dass ich mich da noch an irgendwas erinn're?«

»Du hast recht. Was habe ich mir nur dabei gedacht?«

Éoman tippte ihm mehrmals gegen die Stirn. »Gar nichts. Genau das war dein Fehler!«

Als er endlich Fram wahrnahm und ihn kurz musterte, runzelte er die Stirn.

»Wo willst du denn hin?«

»I-ich werde M-meister Tuk begleiten.«

Als Bilbo von einem fragenden Blick getroffen wurde, hob er abwehrend die Hände. »Es war nicht meine Idee«, versicherte der Hobbit.

Noch immer war er von Frams Entscheidung nicht angetan, doch er hatte nun wirklich keine Zeit mehr, zu diskutieren.

Nachdem er sich ein weiteres mal von Éoman verabschiedet hatte, konnte die Reise endlich beginnen. Zumindest dachte er das.

»Warte noch einen Augenblick, Bungo. Ich muss noch kurz mit Fram sprechen«, erklärte der Schmied und zog den jungen Mann mit sich.

Irritiert sah der Hobbit den beiden nach, entschied sich dann aber dafür, nicht weiter darüber nachzudenken, da ihn die Sache wohl ohnehin nichts anging.

Nachdem die beiden Männer weit genug entfernt waren, stemmte Éoman die Hände in die Hüfte.

»Was genau versprichst du dir von dieser Reise, Kleiner? Denkst du wirklich, du kannst Bungos Gunst gewinnen, wenn du ihm wie 'n Hund hinterher läufst?«

»I-ich verspreche mir ü-überhaupt nichts davon«, versicherte Fram. »I-ich möchte einfach nur mit Meister T-tuk auf Reisen gehen. I-ist das falsch?«

Der Schmied seufzte und schüttelte den Kopf. »Er verlässt uns, weil er diejenige wiedersehen will, die er liebt, Fram. Willst du dich da einmischen? Es ihm ausreden? Ihm weismachen, dass du die bess're Wahl bist?«

Der Blonde wurde rot und wandte den Blick ab. »Ich weiß n-nicht, wovon d-du sprichst, Éoman.«

Wütend packte Éoman den Jüngeren am Kragen und zog ihn näher zu sich. »Du weißt sehr genau, wovon ich spreche!«, zischte er. »Denk' nur mal einen Augenblick drüber nach, wie dumm deine Idee eigentlich is'! Du wirst ihm irgendwo hin folgen und dann mit ansehen, wie er seine Liebste in den Armen hält. Dann bist du das fünfte Rad am Wagen und irgendwo verloren, weit weg von deinem Zuhause!«

Trotzig sah Fram ihm in die Augen. »I-ich möchte einfach n-nur mit Meister T-tuk auf Reisen gehen«, wiederholte er, diesmal mit Nachdruck.

Der Schmied atmete tief ein und aus, bevor er den anderen losließ. »Du dämlicher Sturkopf«, murmelte er. »Dann lauf' doch in dein Verderben. Viel Spaß dabei.«

Für einen kurzen Augenblick herrschte Stille zwischen den beiden, die letztlich von Fram durchbrochen wurde. »I-ich weiß deine S-sorge zu schätzen. A-aber... ich muss e-es tun. V-verstehst du das?«

»Nee, tu' ich nich'.«

Seufzend wandte sich der Jüngere ab und blickte zu Bilbo, der gerade auf sein Pony stieg.

»D-danke für alles, Éoman.«
 

Noch lange hörten die beiden Reiter die Rufe der Dorfbewohner, die ihnen Glück für ihre Reise wünschten und zum Abschied winkten.

Erst, als das Dorf außer Sichtweite war, begann Fram zu sprechen: »W-wie lange wird die R-reise dauern, Meister Beutlin?«

Wie hatte er ihn gerade genannt?

Beunruhigt tat Bilbo so, als hätte er nichts gehört und ritt stumm weiter, den Blick nach vorn gerichtet.

»M-meister Beutlin?«

Da, schon wieder.

Der Hobbit biss sich auf die Unterlippe und sah seinen Begleiter an. »Können wir uns darauf einigen, dass du mich Bungo nennst?«

»I-in Ordnung, B-bilbo.«

Er seufzte schwer. »Wie lange weißt du schon davon?«

Der Holzfäller zuckte kurz mit den Schultern. »I-ich habe es ziemlich früh b-bemerkt«, erzählte er. »Wenn I-ihr Eure Geschichte erzählt h-habt, sah m-man Euch einfach a-an, dass Ihr s-sie nicht nur g-gehört, sondern auch selbst e-erlebt habt.«

Bilbo sah wieder nach vorn.

»Du bist wirklich ein kluger Bursche.«

Fram war sich nicht sicher, ob der Halbling beeindruckt oder verärgert war.

»I-ich habe es n-niemandem erzählt!«, sagte er deshalb schnell.

Zu seiner Erleichterung lächelte der Hobbit, während er antwortete: »Danke.«

Für eine halbe Ewigkeit, wie es dem Blonden erschien, herrschte Stille zwischen den beiden Reitern.

'Vielleicht ist er doch böse auf mich, weil ich ihn mit seinem richtigen Namen angesprochen habe', überlegte Fram und unterdrückte ein Seufzen. 'Hätte ich doch bloß meinen Mund gehalten.'

»I-ich... wollte Euch nicht v-verärgern...«, begann er, als ihn das Schweigen zu sehr belastete. »Es t-tut mir sehr l-leid.«

Bilbo sah ihn verwundert an. »Weswegen sollte ich verärgert sein?«

»I-ich habe Euch e-einfach mit Eurem r-richtigen Namen angesprochen, o-obwohl Ihr das wohl g-gar nicht wollt...«

Der Hobbit lächelte sanft. »Es gibt nichts, wofür du dich entschuldigen musst. Ich habe meinen richtigen Namen nur abgelegt, weil ich einen Neuanfang brauchte. Es kränkt mich nicht, mit diesem Namen angesprochen zu werden. Es ist einfach nur... Vergangenheit.«

»A-aber warum?«

»Warum was?«, wollte Bilbo wissen und runzelte die Stirn.

»W-warum wolltet Ihr e-einen Neuanfang?«

Er blickte in die Ferne, während er antwortete: »Weil Bilbos Taten, Fehler und Entscheidungen nicht länger meine sein sollten. Und ich hatte gehofft, dass seine Gefühle ebenfalls verschwinden würden.«

Fram verstand es nicht ganz.

»A-aber nach allem, w-was ich gehört habe, habt I-ihr so viel Gutes g-getan, Bilbo. Warum s-solltet Ihr das w-wegwerfen wollen?«

Traurigkeit war in den Augen des Halblings zu sehen. »Du kennst nicht die ganze Geschichte, Fram.«

»D-dann erzählt sie m-mir. Erzählt mir E-eure Geschichte.«

Bilbos Mund öffnete und schloss sich mehrere Male. Er wusste nicht genau, was er sagen sollte.

»Es... geht nicht, Fram. Es ist nicht mehr meine Geschichte«, erwiderte er leise und ließ den Kopf hängen.

Erneut herrschte eine erdrückende Stille zwischen den beiden, mit der der Blonde nicht zurecht kam.

»Dann erzählt mir seine Geschichte. Noch einmal von vorne.«

Der Hobbit sah zögerlich zu seinem Begleiter und wandte den Blick wieder ab, als dieser ein »Bitte« hinzufügte.

Bilbo brauchte eine Weile, um die richtigen Worte zu finden.

»In einer Höhle in der Erde, da lebte ein Hobbit.«*
 

---------------
 

Er konnte nicht einschlafen. Das beständige Knurren seines Magens ließ ihn keine Ruhe finden.

Nachdem sich nun die ganze Aufregung des Abends gelegt hatte und endlich Stille in Beutelsend eingekehrt war, musste sich Bilbo daran erinnern, dass er im Gegensatz zu seinen unerwarteten Gästen kaum etwas Essbares in die Finger bekommen hatte.

Er stieß einen Fluch aus und schwang sich aus seinem Bett.

Leise, wie es nur ein Hobbit sein konnte, bewegte er sich durch seine Höhle und schlich zur Speisekammer, die beängstigend leer war. Doch nicht alles war den Zwergen zum Opfer gefallen. Ein paar Reste hatten sie dem hungrigen Hobbit gelassen, die er auf einen Teller packte, um ein verspätetes Abendessen in seinem Schlafzimmer einzunehmen.

Auf dem Rückweg hielt er inne, als er ein bekanntes Lied vernahm, das er erst vor ein paar Stunden gehört hatte.

Er folgte dem Klang, musste dabei auf schlafende Zwerge achten, die im ganzen Haus verteilt waren und fand Thorin in einem der wenigen Räume, die nicht als Schlafplatz dienten.

Er versuchte sich ihm unauffällig zu nähern, war allerdings so sehr auf das Lied konzentriert, dass er gegen einen Stuhl stieß.

Das Geräusch reichte aus, um Thorins Aufmerksamkeit zu erregen und ihn verstummen zu lassen.

»Verzeihung, ich wollte nicht stören«, sagte Bilbo leise und ging einen Schritt auf den Zwerg zu, der sich nicht von der Stelle bewegte und aus dem Fenster sah.

Als er keine Erwiderung bekam, sprach der Hobbit weiter: »Ihr... seid erst nach dem Abendessen angekommen und habt nur eine Suppe bekommen, nicht wahr?«

Wieder keine Antwort.

Bilbo atmete tief durch und stellte den Teller mit dem Essen auf den Tisch, der sich neben Thorin befand.

»Bedient Euch doch bitte.«

'Bilbo Beutlin, was tust du da? Du hast doch selbst Hunger!', kritisierte er sich selbst, doch was getan war, ließ sich jetzt nicht mehr ändern.

Da dem Zwerg die dunkle Nacht außerhalb der Höhle scheinbar wichtiger als der Halbling war, nutzte Bilbo die Gelegenheit und schnappte sich wenigstens ein Stück Brot, um nicht vollkommen leer auszugehen.

Er blieb noch einen Moment stehen, um auf eine Erwiderung Thorins zu warten, doch die blieb erneut aus.

Bilbo runzelte leicht verärgert die Stirn.

»Darf ich noch auf ein 'Danke' hoffen?«, fragte er provokant.

»Ich habe Euch nicht darum gebeten, mich zu bedienen, Herr Beutlin«, kam die gemurmelte Antwort.

Der Hobbit stemmte die Hände in die Hüfte.

»Sind alle Zwerge so?«

»Wie bitte?«

»Sind alle Zwerge so undankbar?«

Thorin wandte sich nun vom Fenster ab und musterte den Halbling.

»Was genau ist Euer Problem?«, wollte er wissen.

Bilbo hielt seinem kalten Blick stand und atmete tief durch.

»Mein Problem ist, dass ich den ganzen Abend den Gastgeber für Eure Freunde gespielt habe und von Euch nicht ein Wort der Dankbarkeit zu hören war!«

»Danke.«

Es klang nicht einmal ansatzweise dankbar, aber Bilbo hatte keine Geduld, um weiterhin mit diesem sturen Zwerg zu diskutieren.

Also drehte er sich um und blieb erst wieder im Türrahmen stehen.

»Daran solltet Ihr noch arbeiten«, sagte er, bevor er in sein Schlafzimmer zurückkehrte.
 

Es folgt: Kapitel Drei, in dem Freunde zum Greifen nah sind.
 

* aus Der Hobbit oder Hin und zurück (englischer Originaltitel: The Hobbit or There and Back Again) von J. R. R. Tolkien


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich begrüße euch zu meiner ersten Geschichte zu „Der Hobbit“. Wie immer, wenn ich mich in neue Gebiete wage, fühle ich mich erst einmal unsicher. Kann ich die Charaktere richtig darstellen? Ist mein Schreibstil passend? Kann der Plot überzeugen? Kenne ich mich gut genug aus?
Ich habe immer das ungute Gefühl, dass man meine Unsicherheit am Anfang der Geschichte bemerkt. Die Worte kommen nur in Bruchstücken und alles wirkt erzwungen und unecht.
Glücklicherweise vergeht das nach einer Weile und ich hoffe, dass ich während dieser Fanfiktion dazulerne, um für kommende Projekte gerüstet zu sein.
Ich habe es bisher nicht geschafft, „Der Herr der Ringe“ zu lesen und kenne mich nur ansatzweise mit Mittelerde aus. Ich habe zwar „Der (kleine) Hobbit“ mehrmals gelesen, doch qualifiziert mich das wohl kaum als Experte. Sollten irgendwie Unwahrheiten oder irgendwelche Fehler in meiner Geschichte auftauchen, könnt ihr mich gerne darauf hinweisen und korrigieren.
Es ist schwer für mich, die Geschichte einem Genre zuzuordnen. Ja, natürlich geht es um die Beziehung zwischen Bilbo und Thorin, allerdings ist das nur einer der Bestandsteile der Geschichte. Das Projekt nur als Romanze zu bezeichnen, wäre wohl falsch. Es geht vor allem um Bilbo und seinen Werdegang. Ich bin sehr daran interessiert, in die Seele meiner Hauptcharaktere zu schauen und ich hoffe, dass ich bei Bilbo zumindest an der Oberfläche kratzen kann.
Auch wenn ich immer etwas skeptisch bin, was eigene Charaktere in Fanfiktions angeht, habe ich selbst zwei davon eingebracht. Es ließ sich, egal wie ich es auch anging, nicht vermeiden und ich hoffe, ihr könnt mir verzeihen, dass ich ein paar unbekannte Gesichter in das Projekt gebracht habe. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe nichts über Bilbos Reise nach Rohan geschrieben, weil ich Charaktere ungern allein lasse. Der arme Hobbit hätte mit niemandem reden können. Natürlich hätte ich seitenlange Gedankengänge niederschreiben können, aber auf Dauer wäre das langweilig geworden.
In diesem Kapitel kommen gleich zwei eigene Charaktere vor und ich hoffe, ihr könnt mir das verzeihen. Ich bin, wie ich ja bereits geschrieben habe, kein Freund davon, eigene Charaktere in Fanfiktions einzubringen, aber ich brauchte die beiden. D: Ich hoffe, ihr könnt die beiden akzeptieren.
Und ja, Bilbos neuer Name ist nicht besonders kreativ, wenn man bedenkt, wie viel Zeit er gehabt haben muss, um ihn sich auszudenken, aber es ist auch eine Möglichkeit, seine Eltern weiterleben zu lassen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Man könnte diesen Teil wohl als eine Art Übergangskapitel bezeichnen. Es tut mir wirklich leid, dass diesmal recht wenig passiert, aber es musste einfach sein.
Ich möchte bezüglich Fram eigentlich nichts mehr sagen, denn eigene Charaktere in Fanfiktions sind für mich immer noch... ungern gesehen. Ich will nur noch einmal anmerken, dass er für die Geschichte notwendig ist. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (4)

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Von:  Legoory
2014-06-24T23:17:18+00:00 25.06.2014 01:17
Sehr beeindruckende FF
flüssige Schreibweise, spannend und macht Spaß zu lesen
bin gespannt wie´s weitergeht

PS: Fram ist ein ganz putziger ^^
Von: abgemeldet
2014-04-05T15:12:39+00:00 05.04.2014 17:12
endlich habe ich dieses Kapitel lesen können

mich hat es nicht gelangweilt
und Fram stört mich auch nicht bis jetzt jedenfalls gar nicht^^

ich bin gespannt was du noch mit ihm anstellen wirst


die kurzen Rückblicke mit Thorin halten mich bei Laune =)
Von: abgemeldet
2014-03-18T19:48:56+00:00 18.03.2014 20:48
das erste Kapitel! =D

oh, anfangs wusste ich nicht was los war XD Bungo? hä? wo spielt sich das jetzt ab und welches Zeitalter XDDD

also geht es auch schon weg aus Rohan
wird es wohl laaaaaaange dauern bis Bilbo wieder zurück zu den Zwergen kommt? *neugier*

das bisschen von Rohan hat mir aber gefallen, schönes Abschiedsfest

was ist das mit Fram? XDDD ich musste voll lachen, aber er kommt ja voll süß rüber XD

ich freue mich schon auf die Reise, kann ja nur schön unterhaltsam werden

Bilbo wird wohl nicht den Rückweg alleine machen?

du hast dir sicher schon voll die tollen Sachen ausgedacht *g
Von: abgemeldet
2014-03-12T19:54:19+00:00 12.03.2014 20:54
oh, ich war neugierig und ich wurde nicht enttäuscht *gg*

die Geschichte gefällt mir schon jetzt!

nach Rohan geht es also
argh! was für einen Gefallen sollte Gandalf ihm erfüllen?

Thorin, wie nett er doch immer zu den kleinen Hobbit ist =/

also ich bin ja jetzt auch kein Fanficexpertenleser oder so
aber mir persönlich hat der Prolog schon sehr zugesagt
es liest sich gut und vom Inhalt her war mir auch nie langweilig

du hast zwar der Herr der ringe nicht gelesen, aber wohl die Filme dazu gesehen?
es geht ja jetzt nach Rohan, hmn bin ja schon wirklich gespannt darauf was du mit den Herrn Bilbo so alles vorhast *gg*

mach dir keine Sorgen, ach wenn vielleicht im Verlauf der Geschichte nicht alles so ist wie es vielleicht sein sollte, ich meine, es ist ja doch fanfiction

zwei eigene Charaktere kommen noch dazu?
ja, kann ich jetzt noch nicht sagen, wie die mir schmecken werden
sollten sie aber einfach super gut in die Story passen, dann wird es wohl keine Probleme geben

mir hat es hier spaß gemacht und ich werde wieder da sein, wenn es weiter geht!
Antwort von:  Rausgepickt
13.03.2014 07:42
Heyho!

Vielen lieben Dank für deinen Kommentar. :)
Es freut mich sehr, dass dir der Prolog gefallen hat.

Ich hab' die Filme zu "Der Herr der Ringe" gesehen und habe mir für diese Fanfiktion auch nochmal die Szenen in Rohan angesehen, damit ich zumindest ansatzweise weiß, worüber ich schreibe. :'D
Weil ich recht selten zum Lesen komme, habe ich mir auch das Hörbuch gekauft, aber damit bin ich leider auch noch nicht sonderlich weit gekommen. :/

Die zwei eigenen Charaktere sind hoffentlich nicht zu störend, aber einer von den beiden kommt auch nur in zwei Kapiteln vor. Der andere muss (leider) in allen folgenden Kapiteln dabei sein, weil Bilbo sonst 2/3 der Geschichte allein wäre und nur Blödsinn anstellt, wenn ihn keiner davon abhält. *g*

Nochmals vielen Dank für deinen Kommentar! :D



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