Zum Inhalt der Seite

Mädchen am Fluss

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Das Mädchen am Fluss

Shikamaru hielt inne. In diesem Teil des Waldes war er noch nicht gewesen. Er schaute sich nach einem Anhaltspunkt um, doch nichts kam ihm bekannt vor. Er hatte die Orientierung verloren.

Er stieß ein Seufzen aus, schloss die Lider und horchte in die Idylle des Waldes hinein. Die verschiedensten Laute waren zu hören: Das Gezwitscher der Vögel, der Wind, der durch die Baumkronen wehte und Grillen, die an diesem wunderbaren Spätsommertag ihr Lied zirpten. In der Ferne vernahm er das Bellen eines Hundes und – kaum hörbar – das Fließen des Wassers. Er horchte, aus welcher Richtung das Geräusch kam und ging los. Wenn er Glück hatte, handelte es sich um den Fluss, der in einiger Entfernung an seiner Heimatstadt vorbeifloss.
 

---
 

Eine halbe Stunde später erreichte er das Gewässer. Der Strom war zu schmal, als dass er der richtige sein konnte, aber das entmutigte ihn nicht. Irgendwann kam er irgendwo an, darüber machte er sich in Zeiten des Friedens keine Sorgen.

Shikamaru schlenderte flussabwärts am Ufer entlang, die Augen auf den blauen Himmel gerichtet. Er beobachtete eine kleine Wolke, die langsam vorüberzog. Die Suche nach dem Andenken seines verstorbenen Großvaters, das nicht in diesem Gebiet sein konnte, gab er vorübergehend auf.

Er erreichte eine einfache Brücke aus Holz. Die Bretter unter seinen Füßen wirkten marode und knarrten und knackten bedrohlich, als er sie betrat, doch er fürchtete sich nicht davor, dass sie zusammenbrach. Der Fluss war nicht breit und die Strömung keine Gefahr, falls er ins Wasser stürzte.

Er tat einen Schritt nach dem nächsten und blieb in der Mitte stehen, um den Bereich zu überblicken. Zu seiner Rechten lag nichts weiter als der Wald, der sich in dem ansteigenden Gelände bis zu den Bergen ausbreitete und alles in einem dunklen Grün hielt. Er wandte sich nach links. Am Horizont ließ ein Schimmern das Meer erahnen und ein zweiter Fluss, der in der Ferne mit diesem zusammenfloss, sagte ihm, in welche Richtung er gehen musste.
 

Shikamaru überblickte einen Moment lang die wunderschöne Landschaft. Er fragte sich noch, wie er ohne Pferd so weit gekommen war und wollte kehrtmachen, aber seine Augen blieben an einer Gestalt an der nächsten Biegung des Flusses haften.

Eine Frau stand bis zu den Knien im Wasser. In der rechten Hand hielt sie einen dicken, spitzen Stock und starrte konzentriert in den Fluss, bereit, jederzeit mit der Waffe zuzustoßen. Dies tat sie fast in demselben Moment und kurz darauf zappelte an der Spitze ein Fisch. Sie zog ihn herunter und warf ihn neben sich in einen Korb. Als sie ihn mit einem Tuch abdeckte, trafen sich ihre Blicke.

Einen Augenblick lang musterte sie sein Gesicht, dann schien sie ihr Interesse zu verlieren und ging erneut auf Fischfang. Er wunderte sich nicht, dass sie ihn nicht als Sohn des Feudalherren erkannte. Falls sie aus dem Dorf an der Flussmündung stammte, war es unwahrscheinlich, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Das war ihm recht, denn er hatte sich mit der Unterwürfigkeit, die die Leute ihm entgegenbrachten, nie anfreunden können. Er fühlte sich nicht mehr wert als andere junge Männer in seinem Alter, auch wenn er das Glück gehabt hatte, in einer Zeit des Friedens in den Samurai-Adel hineingeboren zu werden und ein nahezu sorgenfreies Leben führen konnte.

Shikamaru wollte gehen, um sich auf den langen Heimweg zu machen, da überlegte er es sich anders. Er machte einen Ahornbaum in der Nähe aus, ließ die Brücke hinter sich und setzte sich in seinen Schatten. Aus den Augenwinkeln beobachtete er kurz die Frau, die keine zehn Meter mehr von ihm entfernt war. Er legte sich ins Gras, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schloss die Augen. Eine angenehme Brise fuhr im über das Gesicht und ein Haar, das sich aus seinem strengen Zopf gelöst hatte, kitzelte seine Schläfe.

Auch wenn er die Frau nicht kannte, hatte er keine Angst davor, dass sie mit ihm dasselbe wie mit dem Fisch machte oder ihn ausraubte. Oder beides nacheinander.
 

In seinem Dämmerzustand vernahm er das Plätschern, als die Holzlanze ins Wasser gestoßen wurde und die Schritte, die darauf folgen, als sie ihren neuen Fang im Korb verstaute. Eine Pause folgte, ein Rascheln im Gras erklang und verstummte ebenfalls.
 

»Ich glaube nicht, dass das hier der richtige Platz für ein Schläfchen ist.«
 

Shikamaru spürte einen warmen Hauch an seiner linken Wange. Überrascht schlug er die Lider auf und blickte direkt in ein dunkelgrünes Paar Augen, das gerade mal zwei handbreit von seinen eigenen entfernt war. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Frau direkt neben ihm hocken würde.

Sie warf ihm in Anbetracht seiner erstaunten Miene ein schelmisches Lächeln entgegen und kniete sich neben ihm ins Gras.
 

»Ich weiß nicht, ob es mutig oder dumm von dir ist, unbewaffnet durch die Wälder zu streifen«, fuhr sie fort. »Zumal du mir nicht wie ein Kämpfer aussiehst.«
 

Rasch setzte er sich auf und starrte sie an. Er wusste nicht, was ihn mehr erstaunte: Ihre Stimme, die tiefer war, als er erwartet hatte oder dass sie ihn auf so respektlose Weise ansprach. Es störte ihn nicht, denn er machte sich nicht viel aus Höflichkeiten, dennoch war es ungewohnt für ihn. Vor allem aus dem Mund einer Frau.

Er betrachtete sie unauffällig von der Seite. Ihre dunkelblonden Haare fielen ihr in Naturwellen auf die Schultern. Diese wurden von einem lilafarbenen Yukata verhüllt, dessen lange Ärmel sie mit einem Band zurückgebunden hatte. Sie hatte nicht die weichsten Gesichtszüge und ihre dünnen, zusammenstehenden Augenbrauen ließen sie eher streng aussehen, doch sie war unbestreitbar hübsch.

Als sie sich zu ihm umwandte, lenkte er seine Aufmerksamkeit rasch auf den Fluss.
 

»Mal ehrlich«, setzte sie an, »wer und was bist du?«

Er runzelte die Stirn. »Wie meint Ihr das?« Er sprach es aus, bevor er sich überlegt hatte, wie er sie ansprechen sollte.

»Ich habe dich hier noch nie gesehen«, gab sie zurück, »und ich kann dein Auftreten nicht zuordnen. Du siehst weder nach einem Krieger noch nach einem Bauern oder einem Mönch aus.«

»Woran machst du das fest?«

»Keiner dieser drei würde sich allein ohne eine Waffe im Wald herumtreiben.«

»Mönche tragen keine Waffen.«

»Aber Stäbe«, erwiderte sie. »Und so einen scheinst du nicht zu besitzen, es sei denn, er ist dir in den Fluss gefallen und von der Strömung davongetragen worden.«

Er schmunzelte. Sie hatte eine gute Auffassungsgabe.

»Und weiter?«

»Für einen Bauern bist du zu ordentlich gekleidet und ein Krieger wäre außerhalb der Stadt nicht ohne seine Schwerter unterwegs.« Sie legte eine Pause ein. Da er auf weitere Argumente zu warten schien, setzte sie nach: »Und du bist zu höflich.«

»Zu höflich?«

»Wärst du ein Samurai oder ein Bauer, würdest du eine einfach aussehende Frau wie mich niemals mit Ihr ansprechen«, antwortete sie. »Also wer bist du?«
 

Seine Lippen verzogen sich zu einem amüsierten Grinsen. Sie hatte Recht, aber dieses Spiel konnte er genauso spielen.
 

»Eine einfache Frau würde einen Fremden, den sie nicht einordnen kann, niemals mit Du ansprechen«, gab Shikamaru Kontra. »Also warum sagt Ihr mir nicht zuerst, wer Ihr seid?«

»Weil es zum guten Ton gehört, dass sich der Mann zuerst vorstellt«, antwortete sie. Sie war nicht die Spur perplex. »Also mit wem habe ich die Ehre?«

Er war versucht, ihr die Wahrheit zu sagen, doch er wollte nicht, dass das Gespräch aufgrund seiner Herkunft die Richtung änderte.

»Ist das wichtig?«, fragte er.

Sie stieß ein Seufzen aus. »Nein«, erwiderte sie, »allerdings ist es eine Sache der Höflichkeit, seinem Opfer wenigstens den Namen zu nennen, bevor man es umbringt.«

Ihr Gesagtes brachte ihn zum Auflachen. »Da ich das nicht vorhabe, brauche ich ihn Euch nicht zu nennen.«

Sie schürzte die Unterlippe. »Okay, du bist schon mal kein Bandit.«

»Definitiv nicht.«

Eingehend betrachtete sie ihn. »Wie ein Geist oder Dämon siehst du ebenfalls nicht aus.«

Belustigt erwiderte er ihren Blick. »Ich bin wie Ihr aus Fleisch und Blut«, pflichtete er ihr bei.

»Verstehe«, sie nickte, »du näherst dich einer Frau an, die offensichtlich allein ist und der niemand zu Hilfe kommen könnte.«

Er starrte sie an. Dass seine spontane Pause diesen Eindruck vermitteln könnte, daran hatte er nicht gedacht.

»Okay«, fuhr sie fort, als er nichts sagte, »wenn es nur um die Befriedigung deiner Lust geht« – sie begann, den Gürtel ihres Yukata zu lösen – »bringen wir es hinter uns. Ich habe heute noch was zu tun.«
 

Mit dieser Reaktion hatte er noch weniger gerechnet. Glaubte sie wirklich, dass er so etwas Entsetzliches mit ihr vorhatte?
 

»Lasst den Unsinn!«, sagte er rasch, »das möchte ich noch weniger als Euch umzubringen.«

Sie hielt inne. »Das fasse ich als Beleidigung auf«, erwiderte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Dass du mich abstoßend findest, hättest du auch netter verpacken können.«
 

Auf der Stelle wünschte er sich, er könnte die Zeit eine Viertelstunde zurückdrehen und seine Entscheidung, sich in den Schatten des Ahorns zu legen, rückgängig machen. Genau aus dem Grund hielt er sich von Frauen am liebsten fern. Sie verstanden doch nur alles falsch und das machte es kompliziert und anstrengend.
 

»Nein, Ihr seid hübsch«, warf er ein, »und irgendwie schräg.«

Sie hob belustigt eine Augenbraue. »Dann überrascht es dich sicher nicht, dass du nicht der Erste bist, der das zu mir sagt.«

»Nicht im Geringsten.«

»Aber das eben war ein Scherz«, fuhr sie fort. »Denn wenn du glaubst, dass ich mich vor für dich ausgezogen hätte, liegst du echt daneben.«
 

Ein Rotschimmer schlich sich auf seine Wangen. Er war wirklich darauf hereingefallen, allerdings wusste er nicht, ob ihn die Vorstellung, dass sie es getan hätte oder die Tatsache, dass er sich von ihr hereinlegen lassen hatte, unangenehmer war.
 

Sie warf ihm unerwartet ein schelmisches Lächeln zu. »Ich heiße übrigens Temari«, sagte sie, »also Schluss mit der Höflichkeit.«

Er nickte ihr zu. »Ich bin Shikamaru«, stellte er sich vor und hoffte, dass es beim Klang seines Namens nicht bei ihr klingelte. »Bestehst du auf das Du, weil du dir alt vorkommst?«

Sie zuckte die Achseln. »Du hast den Charme nicht gerade zum Frühstück gegessen.«

»Weil ich dir ein unglückliches Kompliment gegeben habe, anstatt mich an dir zu vergreifen?«

Sie lachte auf. »So könnte man es ausdrücken.« Temari zog die Beine an, verschränkte die Hände vor den Knien und fixierte ihren Blick auf den Fluss vor ihnen. »Und was treibt Herr Ich-verrate-nicht-womit-ich-meinen-Unterhalt-verdiene in diese verlassene Gegend?«

»Ich habe etwas verloren, das mir wichtig ist«, entgegnete Shikamaru.

»Und auf der Suche danach hast du dich verloren, stimmt’s?«

»Ich bin irgendwie vom Weg abgekommen.« Er versuchte, beiläufig zu klingen, doch das leichte Erröten seiner Wangen konnte nicht er nicht verhindern. Wie ein kleines Kind hatte er sich verlaufen … Er kam sich wie ein Vollidiot vor.

Zu seiner Erleichterung streute sie kein Salz in die Wunde und fragte stattdessen: »Woher kommst du?«

»Aus Nara«, antwortete er, dankbar für ihre Ablenkung. »Und du?«

»Ich wohne in Hirakata – das ist das kleine Dorf, das eine halbe Stunde flussabwärts von hier liegt.« Sie musste lachen. »Wenn du aus der Stadt kommst, hast du von so einem verschlafenen Nest wahrscheinlich noch nie gehört.«

»Vor ein paar Jahren war einmal ich dort«, erwiderte er. »Es schien nett zu sein.«

»Das ist es«, pflichtete sie ihm bei, »und stinklangweilig. Dass eine Kuh im Reisfeld stecken geblieben ist, ist das Aufregendste, das in den letzten zwei Jahren passiert ist.«

»Klingt aufregend«, pflichtete er ihr ironisch bei und schmunzelte. »Ich würde die Stadt gegen ein ruhiges Leben auf dem Land tauschen wollen.« Er stieß ein Seufzen aus. »Aber stattdessen ist es meine Pflicht, mir in Trainingskämpfen von meinem Onkel fast die Augen ausstechen zu lassen.«

»Kämpfst du nicht gern?«

»Nicht, wenn es nicht sein muss«, antwortete er. »Natürlich würde ich alles geben, um die Hälse meiner Kameraden und meinen eigenen im Ernstfall zu retten, aber mit der vollen Überzeugung wäre ich nicht dabei.«

Temari schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Mit der Einstellung bist du schneller tot, als du dein Schwert ziehen kannst.« Sie schaute aus den Augenwinkeln zu ihm, warf ihm ein Grinsen zu und setzte nach: »Samurai in Ausbildung.«
 

Gewissermaßen konnte man ihn so bezeichnen, doch er fühlte sich nicht wie einer. Er war kein Krieger.
 

»Ich bin kein Samurai«, gab er zurück, »und ich werde niemals einer sein – zumindest kein guter.«

Sie legte die Stirn in Falten. »Warum hast du diesen Weg eingeschlagen, wenn er dir nicht liegt?«
 

Shikamaru verschränkte die Arme hinter dem Kopf und legte sich zurück ins Gras. Seine Augen folgten einer Wolke, deren Form er keinem Lebewesen oder Gegenstand zuordnen konnte.

Wenn er ihr jetzt sagte, dass er das tat, weil es von ihm verlangt wurde, konnte er sich genauso gut zu erkennen geben.
 

»Verstehe«, sagte sie nach einer Weile. »Pflichten sind gut und schön, solange man sich mit ihnen arrangieren kann, aber wenn man es nicht kann, spricht nichts dagegen, von ihnen auszubrechen.«

Er horchte auf. »Das klingt, als würdest du aus Erfahrung sprechen.«
 

Temari ließ von ihren Knien ab und warf sich nach hinten. Mit unter der Brust gefalteten Händen betrachtete sie ebenfalls den Himmel.

Er wagte es nicht, sie zu fragen. Wenn sie etwas erzählen wollte, sollte sie es von sich aus tun und nicht, weil er sie dazu drängte. Nicht, dass diese Frau den Anschein machte, sie würde sich zu etwas nötigen lassen.

Er sah, wie sie den Mund öffnete und ihn wieder schloss. Sie schien noch mit sich zu hadern, dann erklang ihre Stimme.
 

»Geboren und aufgewachsen bin ich in Kyōto«, begann sie. »Mein Vater ist dort ein angesehener Samurai, der direkt dem Kaiser untersteht. Als ich fünfzehn war, kam er auf Idee, mich zu benutzen, um im Rang weiter aufzusteigen.«

Shikamaru blinzelte. Ihr Geschick beim Fischfangen, ihre Aufmerksamkeit und ihre Körperhaltung hatte ihn ahnen lassen, dass sie aus einer Kriegerfamilie stammte.

»Möchtest du davon erzählen?«, fragte er vorsichtig, nachdem sie einen Augenblick lang geschwiegen hatte.

Sie warf ihm ein unerwartetes Lächeln zu. »Er war scharf auf einen Posten beim Shōgunat und wollte mich vor drei Jahren mit einem amtierenden Rōjū verheiraten. Nach einem kleinen Zwischenfall mit meinem Zukünftigen bin ich abgehauen.«

»Und dein Vater hat dich gehen lassen?«

»Nein.« Eine kurze Pause. »Er war stinksauer und hat mir meine beiden Brüder hinterher geschickt, damit sie mich zurückholen – oder umbringen, falls ich mich weigern sollte.«

Er spürte, wie sich ein Stein in seinen Magen legte. »Dann haben sie dich nicht gefunden?«

»Doch«, erwiderte sie prompt, »aber sie konnten mich nicht töten.« Sie holte kurz Luft und fuhr fort: »Unsere Mutter ist früh gestorben und als die Älteste von uns dreien habe ich sie quasi ersetzt. Ich glaube, Vater war immer viel zu blind, um zu erkennen, wie tief die Bindung zwischen meinen Brüdern und mir ist. Beide wären lieber gestorben, als mir etwas anzutun.«

Shikamaru schloss einen Moment die Augen und ließ die Geschichte auf sich wirken. Dass sie mit dem Gedanken leben musste, dass ihr Vater sie umbringen wollte, musste grauenhaft sein. Er beschloss, nicht weiter darauf einzugehen und fragte: »Und wie bist du in Hirakata gelandet?«

»Ich bin unterwegs krank geworden und musste einige Wochen bleiben«, entgegnete sie. »Ich wollte weiter in den Süden ziehen, aber als ich wieder gesund war, bin ich stattdessen geblieben.«

»Ein Mann?«

Sie lachte lauthals los. »Nein«, sagte sie. »Die Kinder des Dorfes sind mir ans Herz gewachsen und ich wollte sie einfach nicht zum Weinen bringen.«

Er schmunzelte. »Und dich selbst?«

»Von mir aus«, meinte sie belustigt, da an seiner Aussage etwas dran war. »Aber nicht, dass du denkst, ich heule ständig herum.«

»Auf die Idee käme ich nie«, pflichtete er ihr amüsiert bei. »Und was ist deine Aufgabe dort?« Er schaute zu dem Korb mit den Fischen herüber. »Außer Fische fangen, meine ich?«

»Ich bringe den Kindern Lesen und Schreiben bei«, antwortete sie. »Wenn man in der Stadt unter Samurai aufgewachsen ist, ist das nichts Besonderes, aber auf dem Land gibt es nicht viele, die es können, geschweige denn Lehrer, die sich den Kindern annehmen.«

Er nickte. Es beeindruckte ihn, dass sie sich für so eine gute Sache engagierte. »Fürchtest du dich nicht davor, dass dein Vater dich irgendwann aufspürt?«, fragte er nachdenklich. »Kyōto ist nicht weit von hier.«

Sie schüttelte den Kopf. »Natürlich habe ich mir einen Fluchtplan zurechtgelegt, falls es dazu kommen sollte«, sagte sie, »aber es ist eher unwahrscheinlich, dass man ihn hierher schickt. Hin und wieder verirren sich zwar Samurai ins Dorf, aber bis auf einer stammten bisher alle aus dieser Gegend.«

»Mutig«, erwiderte er, »wenn mein Vater so einen Groll gegen mich hegen würde, wäre ich lange über alle Berge.«

»Dann leg dich besser nicht mit ihm an.«
 

Temari bemerkte, wie sich Shikamarus Blick verfinsterte und sie legte die Stirn in Falten.

»Du hast dich schon mit ihm angelegt, oder?«, fragte sie.

»Nein«, gab er zurück, »nicht richtig, meine ich.«

»Hast du ihm gesagt, dass der Weg des Samurai nicht der richtige für dich ist?«, mutmaßte sie und setzte rasch nach: »Du musst mir nicht antworten, wenn du nicht möchtest.«

Er musterte sie aus den Augenwinkeln. »Du hast mir so viel erzählt, also ist es nur fair, wenn ich es auch tue.«

»Na, dann« – sie drehte sich auf die Seite und strahlte ihn an – »ich bin ganz Ohr. So schlimm wie meine Geschichte kann deine nicht sein.«

Ein Grinsen huschte über seine Lippen, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf eine Wolke. »Es ist keine große Sache«, begann er, »aber seit einiger Zeit liegt er mir in den Ohren, dass ich langsam heiraten könnte.«

»Solange er dich nicht an eine alte, klapprige Schachtel verhökert, um mehr Einfluss zu haben, gibt es schlimmeres, oder?«, meinte Temari.

Die Wolke hatte die Form eines Knotens. »Findest du?«

»Solange man sich die Person aussuchen kann, ja«, antwortete sie. »Mich gruselt es immer noch, wenn ich daran denke, dass ich mit einem faltigen Typen hätte schlafen müssen, der fast viermal älter ist als ich.« Sie zog eine Grimasse und schüttelte sich demonstrativ.

Das konnte er sich lebhaft vorstellen, aber er schwieg sich dazu aus.

»Du hast doch die Wahl, oder?«, hakte sie nach.

Shikamaru nickte. »Momentan noch, aber ewig wird er sich das nicht ansehen.«

»Dann komm ihm lieber zuvor, bevor du dich für den Rest deines Lebens mit einer Gewitterhexe abgeben musst.«

Obwohl ihm nicht zum Lachen zumute war, brachte ihn ihre Wortwahl zum Schmunzeln. Wenn er seine Mutter betrachtete, würde es genau auf so eine Frau hinauslaufen.

»Hast du keine Kindheitsfreundin, die sich dafür bereiterklären würde?«, fragte sie weiter. »Oder gibt es kein niedliches Mädchen, das dich heimlich beim Training beobachtet und sich für dich interessiert, obwohl du kein geborener Samurai bist?«

»Nein und nein.« Er stieß ein Seufzen aus.

Sie presste den Mund zusammen und atmete lautstark aus. »Hast du es schon mit einem arrangierten Treffen versucht?«

Wenn ihn das Thema nicht so belastet hätte, hätte ihre Frage ihm ein Auflachen entlockt.

»Mein Vater verpflichtet mich ständig zu solchen Treffen.«

Überrascht hob sie die Brauen. »Und da war bisher keine dabei, die in Frage kommt?«

»Nicht mal im Ansatz.«

»Dabei heißt es, dass gerade Samuraitöchter im heiratsfähigen Alter ein hervorragendes Benehmen haben« – sie lächelte schief – »mich ausgeschlossen, versteht sich.«

Er belächelte ihre Selbstironie, dann nahm seine Miene wieder einen ernsteren Ausdruck an. »Genau das ist es, was mich stört«, sagte er. »Alle Frauen sind so höflich und zuvorkommend, sagen zu alles Ja und Amen, als wäre ich der Allwissende. Diese Unterwürfigkeit, weil sie denken, dass sie sich gegenüber dem Sohn eines Daimyō so benehmen müssen, um bei ihm zu landen, widert mich an.«

Beeindruckt hob sie die Brauen. »Und ich dachte, dieses ewige Honig-ums-Maul-schmieren macht euch Männer gerade an.«

»Nicht, wenn es gespielt ist«, entgegnete er. »Ich habe jedenfalls keine Lust, mir mit einer Frau das Bett zu teilen, die mir etwas vormacht, weil es die Etikette verlangt.«

»Du bist wirklich nicht zum Samurai geboren«, schloss sie und setzte sich auf. Sie lächelte ihm zu und wechselte abrupt das Thema: »Hast du Hunger auf einen gebratenen Fisch?«
 

---
 

Shikamaru legte Äste in die kleine Flamme, die er entfacht hatte. Es dauerte nicht lange, bis das Feuer auf sie übersprang. Als es stark genug war, steckte er die Stöcke in die Erde, auf die sie die Fische aufgespießt hatten.

Temari, die ihr Messer im Fluss gewaschen hatte, gesellte sich zu ihm. Sie trocknete es an ihrem Yukata, um es zurück in den Lederbeutel zu tun, den sie mit sich trug.

Er beobachtete sie und als er den Griff genauer in Augenschein nehmen konnte, machte sein Herz einen Sprung. Das silberne Ornament, in dem ein Hirsch eingearbeitet war, kam ihm bekannt vor.

Sie bemerkte seinen Blick. »Ein toller Dolch, oder?«

Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und unterdrückte den Impuls, es ihr aus der Hand zu reißen. Beherrscht riss er seine Augen von ihm los und fragte: »Darf ich fragen, woher du ihn hast?«

»Einer der älteren Jungen hat ihn letzte Woche gefunden«, erklärte sie. »Er hat ihn mir geschenkt, als Dank für den Unterricht.«

»Du hast einen Verehrer?«, bemerkte er, bevor er darüber nachgedacht hatte.

Wie konnte das nur sein erster Gedanke sein? Wäre es nicht logischer, ihr stattdessen zu sagen, dass ihr Messer das Erbstück seines Großvaters war, das er vor Kurzem verloren hatte?

»Unsinn«, erwiderte sie amüsiert. »Der Junge ist elf.«

»Das heißt doch nichts«, scherzte er.

Ein Grinsen blitzte auf. »Bist du eifersüchtig?«

»Nein, sollte ich?«

Sie lachte und nach kurzem Zögern stimmte er mit ein.

Als das Lachen verstummt war, wendete er vorsichtig die Stöcke im Boden, damit die Fische gleichmäßig braun wurden. Er wusste immer noch nicht, ob er sein Messer von ihr zurückfordern sollte. Einerseits lag es ihm am Herzen, andererseits wollte er sich nicht verraten.
 

»Ich bin froh, dass ich heute auf Fischfang gegangen bin«, unterbrach sie seinen Gedankengang. »So viel Spaß hatte ich lange nicht mehr an einer Unterhaltung.«
 

Insgeheim stimmte er ihr zu. Es gab nur wenige Menschen, mit denen er so ungezwungen umgehen konnte – und diese kannte er im Gegensatz zu ihr seit seiner tiefsten Kindheit.
 

»Und dabei hab ich dich erst für einen perversen Spanner gehalten«, fuhr sie fort.

Argwöhnisch blickte er sie an.

»Das war ein Scherz.« Sie grinste. »Aber ein bisschen suspekt warst du mir schon.«

Er rieb sich die Wange. »Das kann ich dir schlecht verübeln.«

»Was soll eine Frau auch denken, wenn sich ein fremder Mann einfach in der Nähe ins Gras legt?«, entgegnete sie schulterzuckend. »Hattest du keine Angst, dass ich dich ausraube?«

»Nein, höchstens, dass du mich mit deiner selbstgebastelten Lanze aufspießt.«

»Damit hätte ich dir maximal ein Auge ausstechen können«, ergänzte sie belustigt. »Aber wenn du mich angegriffen hättest, hättest du nichts zu lachen gehabt.«

»Du wusstest zu dem Zeitpunkt nicht, dass ich als Kämpfer eher mittelmäßig begabt bin.«

»Du warst unbewaffnet«, erinnerte sie ihn mit einem Lächeln.

»Du glaubst, dass ich mich ohne Waffe nicht einmal gegen eine Frau wehren kann?«

»Generell nicht«, sagte sie, »aber mit meiner Kampfkunst hätte ich dich spielend aufs Kreuz gelegt.«

Shikamaru zog die Stirn kraus. »Darauf würde ich nicht wetten.«

Temari hob die Augenbrauen. »Ich würde dich ja auffordern, mir das Gegenteil zu beweisen«, meinte sie langsam und setzte ein schiefes Lächeln auf, »aber die Fische brennen an.«

»Wie schade.« Er tat enttäuscht, obwohl ihn die Vorstellung, gegen eine Frau anzutreten, nicht reizte.

Sie lachte wieder und verblüfft stellte er fest, wie sehr er ihr Lachen mochte.

Sie zog einen Spieß aus der Erde und hielt ihn ihm entgegen. »Das Essen ist fertig, Träumer!« Ihrer Stimme klang in seinen Ohren ein amüsierter Singsang bei und er vertrieb sein Starren mit einem Kopfschütteln.

»Danke.« Er nahm ihn und biss ab. Der einfache Fisch stand dem, was er gewohnt war, in nichts nach.
 

»Vermisst du manchmal das Essen aus der Stadt?«, fragte er, als die ersten Gräten neben ihm lagen.

Sie schluckte den Bissen herunter und antwortete: »Überhaupt nicht. Klar, auf dem Land hat man nicht so eine Auswahl, aber Muscheln und dieses exotische Zeug mag ich sowieso nicht.« Sie zog eine Grimasse. »Wenn ich was Schleimiges essen möchte, kann ich genauso gut in den Wald gehen und Schnecken sammeln.«

Über ihre Wortwahl lachte er los. »Du hast wirklich nichts von der Tochter eines Samurai.«

Sie zog die Brauen hoch. »Hast du ein Problem damit?«, fragte sie streng, schaffte es aber nicht, ihre gespielte Ernsthaftigkeit aufrechtzuerhalten und musste ebenfalls lachen.

Bevor er etwas sagen konnte, um das Gespräch fortzuführen, richtete sie sich auf.

»Ich muss los«, sagte sie.

»Zeit zum Unterrichten?«, fragte er und versuchte, sich seine aufkeimende Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Sie nickte. »Falls wir uns noch mal über den Weg laufen sollten, holen wir den Trainingskampf nach.«

»Danke, verzichte. Ich kämpfe nicht gegen Frauen.«

»Besser für dich.« Sie zwinkerte ihm zu und drehte sich um, hielt aber mitten in der Bewegung inne. »Hast du was dagegen, wenn ich dein Messer noch eine Weile behalte?«

Überrascht starrte er sie mit halbgeöffnetem Mund an.

»Das fasse ich mal als ein Nein auf.« Sie schmunzelte und hob den Korb mit den Fischen auf. »Falls du es brauchst, weißt du ja, wo du mich findest.« Ihre Augen lagen kurz auf seinen, ihre Lippen umspielte ein Lächeln und sie schloss: »Auf Wiedersehen, Nara Shikamaru, Sohn des Daimyō.«

Perplex setzte er zum Sprechen an, doch seine Worte verloren sich auf dem Weg zu seinem Mund.

»Du hast dich verplappert«, klärte sie auf und blinzelte ihm zu. »und die Familienähnlichkeit deines Clans spricht für sich.«

Temari wartete nicht, dass er etwas erwiderte, sondern lief mit einem »Bis dann« davon.
 

Shikamaru sah ihr noch nach, als sie lange hinter der Flussbiegung verschwunden war.

Sie hatte es gewusst … Sie hatte es die ganze Zeit über gewusst, wer er war und trotzdem hatte sie sich ihm gegenüber normal, beinahe unverschämt, verhalten.

Er richtete sich auf, scharrte mit dem Fuß Erde auf das Feuer und löschte es. Sein Blick ging flussabwärts. Die Sonne war ein ganzes Stück weiter gewandert und es dauerte noch eine ganze Weile, bis sie den Horizont berührte. Genug Zeit, um vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen.

Mit den Bäumen zu seiner Rechten und dem fließendem Wasser zu seiner Linken setzte er sich in Bewegung.

Ein Lächeln schlich sich auf sein Gesicht.

Als er sich am Morgen auf den Weg gemacht hatte, hatte er sich keine großen Hoffnungen gemacht, dass er sein Erbstück finden würde. Und nun hatte er es nicht nur wiedergefunden, sondern an seiner Stelle etwas viel Wichtigeres verloren:

Sein Herz.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich bin ganz zufrieden mit diesem Oneshot und ich hätte liebend gern eine längere Fanfic daraus gemacht, aber momentan habe ich so viele offene Baustellen, dass ich den Gedanken erst mal verworfen habe. Lust habe ich nach wie vor auf das Setting und eine Fortführung der Geschichte, aber gut Ding will ja bekanntlich Weile haben. :D
Für die Lage der Städte habe ich ziemlich viel recherchiert. Zuerst musste ich gucken, was überhaupt in Frage kommt, da ich einen Fluss brauchte, der so verläuft, wie ich ihn beschreiben wollte. Dass ich dann tatsächlich die Stadt Nara nehmen konnte (die zu dem Zeitpunkt, an dem diese Geschichte spielt, wie Kyōto schon existiert hat), kam mir natürlich gelegen. Und ich habe mich lang und breit über die Machtverteilung des Tokugawa-Shōgunats belesen. Wenn ich etwas mache, muss es auch richtig sein. Ganz oder gar nicht ist meine Devise. :D
Alles in allem hoffe ich, dass dir, liebe Vany, deine Wichtelgeschichte gefällt und dass natürlich auch alle anderen Leser ihren Spaß hatten. Ich hatte ihn auf jeden Fall. =)
Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (3)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Eismann
2015-11-29T18:46:33+00:00 29.11.2015 19:46
Hiho, Das ist mal ein echt schöner OS, einige Male könnte ich ein Grinsen tatsächlich nicht mehr unterdrücken ;) Bei Shikas Versprecher saß ich erstmal so da, „whut!? Versappelt er sich hier einfach :D!" Auf jeden Fall gefällt mir für Geschichte sehr gut, ich bin nur leider etwas unkreativ, was Kommentare angeht :/

Lg Eismann

Antwort von:  Rabenkralle
07.12.2015 10:55
Ich danke dir für deinen Kommentar! :)
Schön, dass dich mein Oneshot amüsieren konnte. Und solange ein Kommentar einen Bezug zur Geschichte aufweist (und das tut deines auf jeden Fall), ist die Länge doch gar nicht so wichtig.

Liebe Grüße,
Rabenkralle
Von:  Tinebine
2015-11-29T16:19:12+00:00 29.11.2015 17:19
Wie immer sehr gut! Ich lese gerne deine FFs, Über eine längere Ausführung würde ich mich auch iwann freuen, aber lass dir ruhig Zeit ;-) Ich finde auch super wie du dich informiert hast, so Genau machen es auch nicht alle ;-)

immer weiter so!

LG Tinebine
Antwort von:  Rabenkralle
07.12.2015 10:53
Vielen Dank, es freut mich, dass dir der Oneshot gefallen hat. :)
Ein kleines Plothole ist mir zwar doch auf den Leim gegangen (das Händeschütteln, das mehr als unüblich ist), aber ich gebe mir Mühe.^^

Liebe Grüße,
Rabenkralle
Von:  Majaaaa
2015-11-29T13:30:22+00:00 29.11.2015 14:30
Diese Geschichte war soooo süß und das mit dem offenen Ende war ein super Einfall. Du hast die beiden Charaktere genauso beschrieben wie im Anime. Mach weiter so

Antwort von:  Rabenkralle
07.12.2015 10:51
Dankeschön, das freut mich doch zu hören. =)


Zurück