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Signs and Symptoms

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Nicht, dass ich nicht auch noch ewig viele andere Projekte hätte, aber das hier musste anscheinend einfach raus. Kleiner Oneshot, jaja, fast 9000 Wörter später war's dann endlich fertig. Ist mal ein bisschen was anderes und um wen es geht, erfahrt ihr am Ende, also nicht spoilern - aber raten dürft ihr beim Lesen natürlich gern ;)
Als Grundlage des Ganzen dient "Arsonist's Lullaby" von Hozier Komplett anzeigen

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Signs and Symptoms

ICD-10-CM F63.1

 

 

Sie sah auf, als die Tür sich öffnete, setzte ganz automatisch das professionelle Lächeln auf, mit dem sie alle ihre Patienten begrüßte und betrachtete den Mann vor sich, der es unsicher, fast ein wenig scheu erwiderte. Mit einer kleinen Geste deutete sie auf den bequemen Sessel, der ihrem gegenüberstand.
 

„Nehmen Sie Platz.“

 

Er deutete eine Verbeugung an, folgte der Anweisung dann und sah sich flüchtig in ihrem Behandlungszimmer um. Wie so oft fragte sie sich kurz, was die Leute dachten, wenn sie ihre Praxis zum ersten Mal betraten und was ihre Gedanken wohl über sie aussagen mochten.
 

„Bitte entschuldigen Sie die Verspätung, der Verkehr war schlimmer, als ich gehofft hatte.“
 

„Machen Sie sich keine Gedanken. Sie sind hier, das ist das Wichtigste. Da kommt es auf ein paar Minuten nicht an.“ Sie griff nach dem Notizbuch, das neben ihr auf einem kleinen Beistelltisch lag und öffnete es auf einer leeren Seite, trug oben das Datum und den Namen ihres neuen Patienten ein. Dann hob sie ihren Blick wieder und musterte den Mann, der ihr gegenübersaß und es entweder nicht schaffte sein Unwohlsein zu verstecken, oder es nicht einmal versuchte. Ein wenig hoffte sie auf zweiteres, denn im Moment fiel es ihr tatsächlich schwer das Bild, das sie vor sich sah, mit dem in Übereinstimmung zu bringen, das sie sich aus seinen Unterlagen gemacht hatte. Obwohl es vielleicht für ihn sprach, dass er ihr die Diagnosen und Unterlagen seiner früheren Ärzte so bereitwillig überlassen hatte, noch bevor sie sich das erste Mal gesehen hatten.

 

Mit ein wenig hochgezogenen Augenbrauen erwiderte er ihren Blick, verspannte sich unbewusst, als wäre ihm die Musterung unangenehm.
 

„Erzählen Sie mir doch einfach kurz, warum Sie hier sind“, schlug sie schließlich vor, nachdem er keinerlei Anstalten machte, die anhaltende Stille zu unterbrechen.
 

„Sie haben meine Akten doch bekommen?“
 

„Sicher. Aber Papier ist das eine, das, was Sie denken, etwas anderes. Und ich behandle definitiv lieber Menschen als Diagnosen.“
 

Er seufzte deutlich hörbar, fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und wich ihrem Blick aus, auch wenn ein kleines Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfte. Sie konnte sehen, dass seine Hände zitterten.
 

„Wir müssen heute noch nicht zu sehr in die Tiefe gehen“, beruhigte sie ihn deswegen, fing seinen Blick auf und nickte kaum merklich. „Ich würde nur gern einen Eindruck davon haben, was Sie dazu bewegt hat zu mir zu kommen.“
 

Ihr Gegenüber ließ sich noch etwas tiefer in den Sessel sinken, verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper und legte schließlich den Kopf in den Nacken, sodass sie die Anspannung in seinen Schultern deutlich sehen konnte.
 

„Ganz offensichtlich brauche ich Hilfe“, gab er dann zu, klang dabei aber so abgeklärt, dass ihr klar war, dass diese Erkenntnis keineswegs etwas Neues für ihn war.
 

„Ich werde gern versuchen Ihnen zu helfen.“
 

„Haben andere auch schon.“
 

„Und anscheinend waren sie zumindest eine ganze Zeit lang erfolgreich, oder?“ Sie dachte zurück an die Unterlagen, die in ihrem Büro lagen. „Ihre letzten Therapiestunden sind doch schon über zehn Jahre her?“
 

Nun hob er den Kopf wieder, sah sie nachdenklich an, ganz so als wäre diese Tatsache etwas, das er so noch nicht bedacht hatte, auch wenn sie ihn als jemanden einschätzte, der mit stillem Nachdenken viel Zeit verbringen konnte.
 

„Da haben Sie wohl recht.“ Mit einem weiteren Seufzen richtete er sich wieder etwas auf, warf ihr erneut einen nachdenklichen Blick zu und auch wenn dies vielleicht nicht der Fall sein sollte, hatte sie das Gefühl gerade irgendeine Art von Test bestanden zu haben. „Soll ich ganz vorn im Urschleim anfangen?“, wollte er dann in einer Art und Weise wissen, die definitiv davon sprach, dass er mit dieser ganzen Sache hier bereits Erfahrung hatte. Sie erwiderte sein schwaches Lächeln und zückte ihren Stift, um sich gegebenenfalls Notizen machen zu können.
 

„Fangen Sie einfach mit den Dingen an, die Ihnen wichtig erscheinen. Das Gute ist, dass wir beide wissen, wieso Sie hier sind. Wir suchen also keine Diagnose, sondern können uns ganz darauf konzentrieren herauszufinden, warum es Ihnen nach so langer Zeit wieder schlechter geht und was wir tun können, um das zu ändern.“

 

 
 

When I was a child, I heard voices

Some would sing and some would scream

You soon find you have few choices

I learned the voices died with me

 

 

Für einen Moment schloss er die Augen, konzentrierte sich nur darauf nicht noch ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten zu seufzen und versuchte stattdessen irgendwie seinen Puls zu beruhigen. Was diese Therapeutin ihm anbot, klang gut und er wusste, dass er jede Hilfe annehmen sollte, die er im Moment bekommen konnte. Aber auch dieses Wissen machte es nicht einfacher, sein ganzes Leben, oder zumindest dessen relevanten Teile, vor einer vollkommen Fremden auszubreiten, ärztliche Schweigepflicht hin oder her.
 

„Ich weiß nicht mehr genau wann, aber es fing definitiv an, als ich noch ein Kind war, im Grundschulalter oder so. Meine Großeltern hatten noch einen dieser alten Öfen, der mit Holz befeuert werden musste. Ich durfte natürlich nie auch nur in seine Nähe, wenn er benutzt wurde, weil meine Eltern Angst hatten, dass ich mir wehtun würde, aber ich hatte immer das Gefühl, dass mich irgendetwas in die Küche locken würde. Als wäre da eine Stimme, die mir zuflüsterte, dass ich den Ofen und das Feuer unbedingt von Nahem sehen müsste und dass mir nichts passieren konnte…“ Er sah auf, als er das Geräusch eines Kugelschreibers hörte, der über Papier kratzte. Es machte ihn unruhig, dass sie sich Notizen machte, aber das war bei früheren Ärzten auch nicht anders gewesen. Ihn machten viele Dinge unruhig. Leider. Wäre dem nicht so, hätte er zumindest ein Problem weniger. „Ich meine, ich weiß, dass da nicht wirklich jemand war, der mir das gesagt hat-“ Er hielt inne, biss sich auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf. „An der Verlockung hat es nichts geändert.“
 

„Konnten Sie widerstehen?“ Es lag ein wissender Ausdruck in ihren Augen und als er den Kopf schüttelte, machte sie erneut einige Notizen.
 

„Eine Zeit lang. Aber irgendwann war ich länger bei meinen Großeltern, im Winter, als Ferien waren. Es hat nicht wirklich viel gebraucht, um meine Großeltern dazu zu bringen, mir zu zeigen, wie der Ofen funktioniert und wie man das Holz schlichten muss, um möglichst schnell ein gutes Feuer zu bekommen.“
 

„Hat das ihr Verlangen verringert?“
 

„Nicht wirklich, glaube ich…“ Mit einer Hand fuhr er sich übers Gesicht, verbarg für ein paar Sekunden seine Augen dahinter, fühlte sich schon jetzt vollkommen ausgelaugt, wenn er ehrlich war, obwohl sie noch nicht einmal wirklich begonnen hatten. „Ich kann mich nicht mehr an alles furchtbar klar erinnern, wenn ich ehrlich bin. Also, was meine gesamte Kindheit angeht. Nicht nur dieses eine Thema.“
 

Für einen Moment sah sie ihn forschend an, als wollte sie abschätzen, ob er die Wahrheit sagte oder über das nachdenken, was sie in seiner Akte gelesen hatte. Lang schien sie nicht zu brauchen, um zu einem Ergebnis zu kommen.
 

„Das ist in Ordnung. Wie gesagt, wir müssen heute noch nicht unbedingt zu sehr in die Tiefe gehen. Es muss Ihnen schwerfallen, das überhaupt noch einmal aufzurollen, oder?“
 

Die Frage überraschte ihn tatsächlich, sodass er sich nicht davon abhalten konnte, zuzustimmen.
 

„Es ist … schwierig. Wenn man dachte, man hätte das alles hinter sich und es ginge einem besser und dann holt es einen doch wieder ein. Vor allem … weil ich die Statistiken kenne.“ Und er hatte lange damit gerungen, das hier alles noch einmal zu machen. Zu lange, wenn er ehrlich war.
 

„Sie sind hier, das ist das Wichtigste.“ Wiederholte seine vielleicht bald neue Therapeutin ihre Worte vom Anfang und sah ihn dann abwartend an. „Und Statistiken sind nicht alles, vor allem in einem Fall wie Ihrem. Es ist also in der Zeit bei Ihren Großeltern etwas passiert?“
 

„Ich hätte beinahe ihr Haus abbrennen lassen.“ Das Geständnis hing einen Moment in der Luft, umgeben von der Stille des Raumes, während er darauf wartete, dass ihn die allgegenwärtige Schuld einhüllte, die er mit diesem Ereignis verband. So wenig er dieses Problem bei anderen Instanzen hatte, in denen er seiner zerstörerischen Faszination nachgegangen war – dieser erste Vorfall belastete ihn noch heute. „Meinen Großeltern ist nichts passiert, zum Glück. Es ist glimpflich ausgegangen und sie dachten, dass es ein Unfall war. Aber ich wollte einfach nur sehen, was passieren würde, wenn ich so viel Brennmaterial wie möglich in den Ofen packe. Ein glühendes Stück Holz ist herausgefallen und als ich es mit einem Handtuch ersticken wollte, fing der Stoff Feuer.“ Ihm war bewusst, dass er an ihr vorbei ins Nichts starrte, aber er konnte nicht anders. Denn wie jedes Mal, wenn er an diesen Tag dachte, kamen mit den Erinnerungen auch die Gefühle von damals zurück. Seine Faszination darüber, wie schnell sich die Flammen durch den Stoff gefressen hatten. Er hatte nur dagesessen und still zugesehen, wie das Geschirrtuch innerhalb von Minuten zu schwelenden Überresten geworden war, hatte nicht einmal mitbekommen, dass in dieser Zeit weitere Holzscheite aus dem Ofen gerutscht waren. Auch jetzt verlor er sich beinahe wieder in der Erinnerung, bis ihn die Stimme seines Gegenübers wieder in die Gegenwart riss.
 

„Wurden Sie damals verletzt?“
 

„Nein.“ Ohne, dass er es hätte verhindern können, schlich sich so etwas wie Unglauben in seine Stimme. Es war nicht so, dass er nicht wusste, dass die Flammen auch ihm körperlichen Schaden zufügen konnten, aber- „Ich war mir sicher, dass mir nichts passieren konnte. Auch später noch.“ Und nun seufzte er doch, bevor er weitersprach. „Es liegt eine gewisse Ironie darin, vermutlich würde mich nie jemand mit Feuer als ‚mein Element‘ in Verbindung bringen, aber für mich sind die Flammen Sicherheit. Ich weiß mittlerweile, dass das … nicht heißt, dass sie mir nicht auch schaden können. Aber damals war ich davon überzeugt, dass das Feuer mir nie etwas tun würde. Es hatte mich schließlich zu sich gerufen, nicht wahr? Warum sollte es mich dann verletzen wollen? Wenn ich ihm nahe war, war ich sicher, habe mich beschützt gefühlt. Und das Locken in meinen Gedanken verschwand dann auch, also warum hätte ich mich wehren sollen.“ Nun richtete er seine Augen zum ersten Mal wieder auf die Frau, die sich so spät am Abend noch Zeit für ihn genommen hatte. „Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass allein diese Gedanken nichts sind, was ein normaler Mensch denken würde.“
 

„Ich bin der festen Überzeugung, dass Normalität überbewertet wird.“ Diesmal war ihr Lächeln wärmer, fast schon herzlich. „Was das ‚normal‘ des einen ist, ist seltsam für den anderen. Wir können unsere Gedanken, Gefühle und Empfindungen nicht kontrollieren, allein der Versuch ist zum Scheitern verurteilt. Wichtig ist allein, wie wir mit Ihnen umgehen.“ Einige Augenblicke schwieg sie, ließ ihn allein mit dieser Aussage und gab ihm Zeit diese zu verarbeiten.
 

„Und da hatte ich gehofft, dass ich sie irgendwann einfach abschalten kann“, erwiderte er schließlich mit einem schiefen, selbstironischen Grinsen.
 

„Ich fürchte, diese Hoffnung muss ich Ihnen nehmen, aber ich bin sicher, dass wir – wenn Sie möchten – einen Weg finden können, um Ihnen das Leben wieder leichter zu machen.“

 

 
 

When I was a child, I'd sit for hours

Staring into open flame

Something in it had a power

Could barely tear my eyes away

 

 

Für einige Sekunden herrschte Stille, in der er erneut nur an ihr vorbeisah und seinen eigenen Gedanken nachzuhängen schien, während sie sich rasch noch einige Notizen machte, ihren Patienten dann wieder musterte. Um einschätzen zu können, was gerade in ihm vorging, kannte sie ihn noch zu wenig, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass er nicht damit haderte nicht ‚normal‘ zu sein, sondern eher damit zu akzeptieren, was dies für sein weiteres Leben bedeutete. Sie ließ ihm die Zeit, wartete ab, bis sich seine dunklen Augen wieder auf sie richteten.
 

„Ich schätze, ich habe keine andere Wahl, oder?“, fragte er dann, klang jetzt hinter seiner so sorgsam aufgebauten Fassade so erschöpft, wie er sich vermutlich auch fühlte.
 

„Eine Wahl haben Sie immer.“ Mit dem hinteren Ende ihres Stiftes zeigte sie auf die Notizen, die sie sich bisher gemacht hatte. „Dass Sie sich entschlossen haben hierher zu kommen, war so eine Wahl. Eine, die sicherlich nicht leicht war. Aber Sie haben sie getroffen.“
 

Er hielt inne, schüttelte dann den Kopf, sodass sein Haar sein Gesicht zum Teil verdeckte, rieb sich erneut mit den Fingern über die Augen.
 

„Ich weiß, dass es sein muss.“ Seine Antwort war kaum mehr als ein ersticktes Flüstern. „Ich will niemandem wehtun.“ Das ‚nicht noch einmal‘ blieb unausgesprochen, schwebte aber dennoch im Raum zwischen ihnen.
 

„Das glaube ich Ihnen. Wirklich. Und ich werde gern alles tun, was ich kann, damit das nicht passiert.“ Gern hätte sie gerade nach seiner Hand gegriffen, in der Hoffnung, dass ihn die Berührung ein wenig beruhigen konnte, verkniff es sich aber. Ihre Distanz war wichtig. Emotional wie körperlich. „Bis jetzt ist doch nichts passiert, oder? Seit wir telefoniert haben?“, hakte sie aber vorsichtshalber nach und er schüttelte nur den Kopf.
 

„Nein … nichts … was Ärger bedeuten könnte. Aber ich habe das Gefühl, dass ich die Kontrolle immer mehr verliere.“
 

„Warum?“
 

Nun sah er auf, fast als könnte er nicht glauben, dass sie diese Frage tatsächlich gestellt hatte.
 

„Der Drang wird einfach immer stärker.“
 

„Aber Sie haben ihm nicht nachgegeben.“
 

„Nein, aber-“
 

Sie hob ihre freie Hand, unterbrach ihn allein durch die Geste.
 

„Sie sind viel stärker, als sie sich selbst zugestehen.“ Auch diese Aussage ließ sie einen Augenblick lang einfach so im Raum stehen, bevor sie erneut ansetzte. „Wie ging es nach dem Zwischenfall bei Ihren Großeltern weiter?“
 

„… erst mal gar nicht“, erwiderte er mit einem Seufzen, das irgendwie danach klang, als hätte er damit einen gewissen Widerstand aufgegeben. „Mir hat natürlich niemand die Schuld daran gegeben. Ich war ja nur ein Kind und alle waren froh, dass mir nichts passiert war. Niemand ist auch nur auf die Idee gekommen, dass ich das Ganze absichtlich gemacht hätte. Ich selbst … war natürlich erschrocken darüber, wie die Situation eskaliert ist, aber an meiner Faszination hat es nichts geändert. Eher im Gegenteil.“ Ein wenig unruhig rutschte er in seinem Sessel hin und her, schlug schließlich die Beine übereinander, nachdem er sich bewusst ein wenig gerader hingesetzt hatte. „Immer wenn ich irgendwo auch nur eine Kerze gesehen habe, konnte ich nicht anders, als die Flamme anzustarren und mir zu wünschen, dass mehr Feuer da wäre oder mir vorzustellen, was wäre, wenn sie umfallen und den ganzen Raum in Brand setzen würde … vor allem bei älteren Gebäuden. Ich dachte mir immer, dass Tatami-Matten doch wirklich furchtbar leicht entzündlich sein müssten und hätte zu gern gesehen, was passieren würde, wenn auch nur ein Funken auf eine überspringen würde…“ Ein geradezu sehnsüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen, während er erzählte, ließ ihr einen Schauer über den Rücken laufen, der aber allem Anschein nach unbemerkt blieb, während er weitersprach. „Ich erinnere mich, dass ich später mit der Familie eines Freundes einen Campingausflug gemacht habe und wir hatten abends ein Lagerfeuer gemacht … Ich war die ganze Nacht wach, einfach um die Glut noch weiter beobachten zu können, als wäre ich vollkommen unfähig meine Augen davon zu lösen. Am liebsten hätte ich meine Hände tief in das Glutbett gesteckt, nur um zu sehen, wie sich das anfühlt, ob ich Schmerz fühlen würde, oder mir die Hitze vielleicht nichts anhaben konnte.“
 

„Warum haben sie es nicht getan?“
 

„Ich hatte Angst, die Eltern meines Freundes würden aufwachen und ich müsste ihnen erklären, was ich da genau mache. Wäre ich alleine gewesen…“ Er sah hinunter auf seine Hände und musterte sie nachdenklich, ganz als würde er sich die Konsequenzen dieser Handlung bildlich vorstellen.
 

„Sie sind Musiker, oder?“
 

„Ja.“
 

„Dann haben die Eltern ihres Freundes sie quasi davor bewahrt sich ihre Zukunft zu verbauen, ohne, dass sie es wussten.“
 

Er stieß ein verächtliches Schnauben aus und zuckte mit den Schultern.
 

„Ich glaube, meine Zukunft kann ich mir auch so ganz gut selbst verbauen, ist vermutlich nur eine Frage der Zeit.“

 

Diesmal ging sie nicht auf seine Selbstvorwürfe ein, ließ ihn damit für den Moment alleine, warf stattdessen einen unauffälligen Blick auf ihre Armbanduhr, bevor sie ihn wieder ansah.

Vermutlich war es gut, dass sie sich für den heutigen Abend nichts weiter vorgenommen hatte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr potenzieller Patient weitaus mehr ihrer Aufmerksamkeit brauchte, als er selbst sich im Moment vielleicht eingestehen wollte.

 

 
 

When I was 16, my senses fooled me

Thought gasoline was on my clothes

I knew that something would always rule me

I knew the scent was mine alone

 

 

Als sie nicht auf seine Worte reagierte, zog er die Augenbrauen zusammen und war, wenn er ehrlich war, für einen Moment nicht sicher, ob er sich über diese eigentlich fremde Frau ärgern sollte, oder doch lieber über sich selbst.

 

„Das war nicht wirklich hilfreich, oder?“, meinte er deswegen, fast schon entschuldigend.
 

„Spielt das denn eine Rolle?“ Er sah sie nur fragend an und war ein wenig erleichtert, als sie zu verstehen schien. Mit einem kleinen Lächeln strich sie die mit Sicherheit makellose Seite ihres Notizbuchs glatt. „Im Moment versuche ich mir nur ein Bild von Ihnen zu machen, Sie im Rahmen unserer Möglichkeiten hier ein bisschen kennenzulernen. War dieser Satz per se für eine Therapie hilfreich? Nein, nicht wirklich. Aber er gibt mir einen kleinen Einblick in Ihre Gedanken. Und manchmal hilft es schon, wenn man Dinge einfach laut ausspricht.“
 

„Dann … sollte ich vermutlich weitererzählen, mh?“

 

„Wenn Sie wollen.“
 

Nein, wenn er ehrlich war, wollte er nicht. Wenn er ehrlich war, wollte er gerade quasi alles tun, aber nicht über seine Gedanken und Befürchtungen reden, die mit diesem Trieb in ihm zusammenhingen, der ihm selbst unheimlich war und für den er sich nach all den Jahren fast schon verachtete, weil er ihn so schwach machte. Aber welche Wahl hatte er schon?

Mittlerweile stand in seinem Leben tatsächlich zu viel auf dem Spiel, um auch nur die Möglichkeit zu riskieren, dass seine Gier nach Feuer ihn in Schwierigkeiten brachte. Also, was hatte er hier schon zu verlieren?
 

„Eine Zeit lang war alles okay. Mehr oder weniger zumindest“, begann er deswegen. „Ich hatte es unter Kontrolle – oder dachte, dass es so wäre. Ich hab zwar immer mal wieder gezündelt, aber immer nur Kleinigkeiten. Nichts, was mit dem Ofen vergleichbar gewesen wäre. Ich hatte immer das Gefühl, dass es mich beruhigt, wenn ich einfach nur in eine Flamme starren kann, wie Hypnose oder so.“
 

„Also ein Mittel zum Stressabbau?“
 

Ohne, dass er es verhindern konnte, zuckte er ein wenig zusammen.
 

„Ja, genau das. Nur … dass der Stress immer mehr wurde. Schule, Pubertät, all das und die Erleichterung setzte irgendwann nicht mehr so stark ein, wie ich es mir gewünscht hätte…“ Er sah auf seine Hände hinunter, die kraftlos in seinem Schoß lagen, sah aber eigentlich etwas anderes, eine Erinnerung aus vergangenen Zeiten. „Rückblickend war es vermutlich nur eine Frage der Zeit bis es eskalieren musste.“
 

„Wie alt waren Sie, als das passiert ist?“
 

„Sechzehn.“ Hinter den dunklen Strähnen seines Ponys sah er zu ihr, zuckte entschuldigend mit den Schultern. „An den genauen Auslöser kann ich mich nicht mehr erinnern. Irgendetwas vollkommen Banales . Aber es war einfach alles … so viel. Zu viel. Ich wusste nicht mehr, wo mir der Kopf steht. Es kam so viel zusammen. Stress in der Schule, Druck von meinen Eltern wegen meiner nicht vorhandenen Zukunftspläne … alles einfach. Ich hatte das Gefühl gar nicht mehr klar denken zu können und wusste nur, dass ich irgendwas tun musste, damit das alles aufhört.“
 

„Erzählen Sie mir davon.“
 

Am liebsten hätte er einfach den Kopf geschüttelt und die Arme verschränkt. Oder sich wie ein bockiges Kind auf den Boden geworfen – alles, nur um nicht das zu tun, was sie von ihm verlangte. Was er gewusst hatte, das sie verlangen würde und wogegen sich dennoch jede Faser seines Seins sträubte.
 

„Sie haben doch den Polizeibericht gesehen“, meinte er stattdessen nur ausweichend, aber als er sich traute, sie wieder anzusehen, war da nur abwartende Ruhe in ihren Augen, als wollte sie ihm sagen, dass sie den ganzen Abend Zeit hatte. Vermutlich war das sogar richtig und dennoch verschwendete er hier gerade ihrer beider Geduld. „Ich … kann schwer darüber reden“, brachte er schließlich noch hervor, als wäre das eine Entschuldigung.
 

„Das ist in Ordnung. Fangen Sie einfach irgendwo an. Aber so wie ich das sehe, war dieses Ereignis wichtig für Ihre Entwicklung. Deswegen würde ich gern jetzt schon etwas davon wissen.“
 

„Es … es war nicht geplant.“ Er hatte diesen Satz so nicht sagen wollen, auch wenn er ihn schon so oft gedacht hatte und dennoch hingen die Worte jetzt im Raum zwischen ihnen, warteten darauf, dass er fortfuhr. „In der Zeit vorher habe ich oft mit dem Gedanken gespielt alles einfach in Flammen aufgehen zu lassen. Die Schule, mein Elternhaus, alles was mir Angst gemacht oder mich zu sehr belastet hat. Aber zu dem Zeitpunkt waren das abstrakte Gedanken, nichts, was ich je geplant hatte, wirklich zu tun … Ich hatte Freunde, die ein oder zwei Klassen über mir waren. Durch sie habe ich mit dem Rauchen angefangen.“ Seine Augenbrauen zogen sich ein wenig zusammen und einmal mehr sah er einfach auf den Boden, betrachtete den angenehm hellgrauen Teppich, der im Behandlungszimmer verlegt war. „Ich hab es nie wirklich gemocht, aber es gab mir einen Grund immer ein Feuerzeug mit mir herumzutragen und damit zu spielen, wenn mir langweilig war. Einmal hab ich auf dem Weg nachhause einen Mülleimer angezündet, aber es ist nichts weiter passiert. Bis auf eine Menge Qualm, zumindest.“
 

„Wie hat sich das angefühlt?“
 

„Kann ich Ihnen nicht sagen, wenn ich ehrlich bin.“ Auf ihren erstaunten Blick hin zuckte er nur mit den Schultern. „Wirklich. Vielleicht weil es so kurz vor dieser anderen Sache war, aber ich weiß nicht mehr, was ich mir dabei gedacht hatte oder ob es für mich eine Erleichterung war oder vielleicht frustrierend, weil das Ding nicht richtig gebrannt hat…“
 

„Wie sieht es dann mit dieser ‚anderen Sache‘ aus, wie Sie es so schön genannt haben?“
 

Ohne, dass er es verhindern konnte, schoss allein beim Gedanken an diesen Zwischenfall Adrenalin durch seinen Körper und er brauchte sämtliche Beherrschung, die er gerade irgendwie in sich finden konnte, um nicht zu lächeln. Um sich nicht selbst noch mehr dafür zu hassen, dass allein der Gedanke daran ihn immer noch zum Lächeln bringen konnte.
 

„Das war … quasi perfekt“, musste er dann allerdings zugeben. „An dem Tag war ich wirklich frustriert. Ich hatte einen Test so richtig versaut und mir war klar, dass das wieder mal einen Vortrag von meinen Eltern über meine Zukunft nach sich ziehen würde. Ich wollte nicht nachhause gehen, also bin ich einfach durch die Gegend gelaufen, ohne wirkliches Ziel.“ Auch heute noch tauchte vor seinem geistigen Auge das Gebäude auf, wenn er daran dachte. „Es gab da dieses leerstehende Haus, keine Ahnung, was es eigentlich mal war, es verfiel schon Jahre lang und ich dachte, wenn ich irgendwo meine Ruhe haben kann, dann wohl dort. Also bin ich durch ein Fenster hineingeklettert.“
 

„Und es war zu diesem Zeitpunkt niemand außer Ihnen dort?“
 

„Nicht, dass ich davon gewusst hätte. Aber ich hab auch nicht wirklich darauf geachtet.“ Erneut hielt er inne, kniff die Lippen zusammen, als würde er sich körperlich davon abhalten wollen weiterzusprechen.
 

„Warum fällt es Ihnen so schwer darüber zu reden? Was denken Sie selbst? Schuldgefühle, Trauma?“

 

Langsam hob er den Kopf, sah sie starr an und konnte nichts dagegen tun, dass sich heiß brennende Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten, obwohl er mit aller Macht versucht hatte sie zu unterdrücken.
 

„Es ist ein Beweis dafür, dass ich ein furchtbarer Mensch bin.“

 

Er spie die Worte geradezu aus und hoffte, dass sie sehen konnte, dass dies die unumstößliche Tatsache war. Er war aus tiefster Seele hässlich und abartig. Hatte im Grunde weder Hilfe noch ihre Zeit verdient und würde vermutlich allen einen Gefallen tun, wenn er sich das nächste Mal einfach selbst anzündete.

Der Gesichtsausdruck seines Gegenübers änderte sich jedoch nicht im Geringsten. Sie beugte sich lediglich ein wenig nach vorn, hielt ihm eine Box mit Taschentüchern entgegen und wartete, bis er sich eines davon genommen hatte.
 

„Wenn das so wäre“, sagte sie dann sanft, aber bestimmt, „Dann wären Sie nicht hier.“ Nun war sie es, die leise seufzte, bevor sie für einen Moment ihr Notizbuch beiseite legte. „Wissen Sie, ich arbeite schon einige Jahre in diesem Beruf, ich kann Menschen mittlerweile ziemlich gut einschätzen. Und auch wenn wir uns noch nicht wirklich kennen, kann ich Ihnen eines sagen: wirklich furchtbare Menschen machen sich keine Gedanken darum, wie furchtbar sie sind. Haben Sie Fehler in Ihrem Leben gemacht? Ja, das steht außer Frage. Haben Sie ein Problem, das Sie sehr belastet? Ganz offensichtlich. Aber genauso haben Sie den Willen etwas zu ändern, sich dem zu stellen, auch, wenn es sicher kein leichter Weg werden wird.“
 

Das Nicken, mit dem er auf diese kleine Ansprache reagierte, war minimal, reichte ihr aber allem Anschein nach, denn sie erhob sich und ging zu einem hellen Sideboard, das er bisher gar nicht wirklich wahrgenommen hatte. Als sie zurückkam, drückte sie ihm ein Glas Wasser in die Hand und stellte auch eines für sich selbst auf dem kleinen Tischchen neben ihrem Sessel ab.

 

„Danke.“
 

„Nicht dafür. Trinken Sie ruhig einen Schluck.“
 

Ohne darüber nachzudenken, leistete er der Aufforderung Folge, räusperte sich dann leicht und begann damit das Glas zwischen seinen Fingern zu drehen.
 

„Ich schätze, ich sollte dann weitermachen, mh?“ Er sah hinunter auf das Glas in seinen Händen, als er wieder zu sprechen begann, wollte es nun wirklich einfach nur noch hinter sich bringen. „Ich dachte wirklich, dass das Gebäude leer war, ich war bis zu diesem Zeitpunkt nie dort eingestiegen. Ich wollte niemanden verletzen, ich wollte nur irgendetwas tun, um mich besser zu fühlen, wieder mehr Kontrolle zu haben, über all das was um mich herum und mit mir passiert ist. Also hab ich die Arbeit und einen Teil meiner Schulunterlagen genommen und angefangen sie zu zerreißen und im Raum zu verteilen, ich wollte einfach, dass es aufhört, auch wenn das keinen Sinn ergibt. Irgendwann hab ich angefangen die Papierfetzen anzuzünden, hab sie zu kleinen Haufen zusammengeschoben, aber wirklich befriedigt hat mich das nicht. Und dann habe ich im Erdgeschoss dieses kleine Hinterzimmer entdeckt, wo Pappe und leere Kartons herumlagen und ich hab mir nichts dabei gedacht, wirklich.“ Erst jetzt hob er den Kopf, sah sie geradezu bittend an, als würde er sie anflehen ihm nur das zu glauben, wenn schon sonst nichts. „Aber ich musste es einfach anzünden, ich konnte gar nicht anders … Und dann brannte alles viel schneller und viel stärker, als ich erwartet hatte.“

 

Wenn er nur dran dachte, hatte er schon das Gefühl das Schreien der Flammen zu hören, die ihm aus dem binnen Minuten lichterloh brennenden Zimmer entgegengeschlagen waren. Ihn zu sich gelockt hatten, nach ihm gerufen…
 

„Was haben Sie dann getan?“
 

„Ich bin weggerannt, wie der Feigling, der ich eben bin.“ Das Lächeln auf seinem Gesicht war eher eine Grimasse, so viel Verachtung und Selbsthass lagen darin. „Wie gesagt, mein Leben versauen kann ich mir selbst wirklich gut.“
 

„In Ihren Unterlagen stand etwas von Halluzinationen im Nachgang?“
 

Wenn möglich wurde sein Gesichtsausdruck nur noch verächtlicher.
 

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass das wirklich so aufgenommen wurde.“
 

„Was meinen Sie?“
 

Mit einem schweren Seufzen setzte er sich auf, lehnte sich in seinem Sessel zurück und sah sie nachdenklich an, als würde er erst jetzt wieder darüber nachdenken, wie er seine Gedanken am besten formulieren sollte.
 

„Es ist Bullshit.“ Auf ihre hochgezogenen Augenbrauen reagierte er nur mit einem Schulterzucken. „Wirklich. Ich weiß, dass Sie so etwas vermutlich öfter hören, aber ich weiß bis heute nicht, wie der Arzt damals auf Halluzinationen kam. Ich habe mich in den letzten zwanzig Jahren wirklich viel mit Psychologie und meiner eigenen Psyche befasst. Ich mag kein Profi sein, aber ich kann, glaube ich, ganz gut einschätzen, welche Diagnosen und Symptome zu mir passen und welche nicht.“
 

„Was war es dann?“
 

„Träume, ganz einfach. Ich war, nach dieser Sache zugegebenermaßen ziemlich paranoid. Klar, mir ging es besser und dieses Hoch hielt auch ein paar Tage an, aber spätestens, nachdem in den Nachrichten davon die Rede war, dass ein Obdachloser bei diesem Brand beinahe gestorben wäre…“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte einfach nur Angst, dass man mich überführen würde. Daher kamen die Albträume. Weil ich die hatte, hab ich kaum noch geschlafen und war mitunter ziemlich desorientiert.“
 

„Sie sind im Unterricht eingeschlafen?“ Ihre Stimme klang beinahe schon amüsiert, aber er konnte nur nicken.
 

„Ja. Und als mein Lehrer mich geweckt hat, indem er zielsicher mit Kreide nach mir geworfen hat, bin ich hochgeschreckt und hab panisch versucht, das Benzin von meinen Klamotten zu bekommen, mit dem ich im Traum übergossen worden bin. Ich hatte schon immer die Tendenz sehr intensiv zu träumen und in diesem Schreckmoment konnte ich das nicht gleich alles so sortieren. Aber es war keine Halluzination.“
 

Er beobachtete nachdenklich, wie sie sich einige Notizen machte, kaute unauffällig auf seiner Unterlippe herum. So sehr er versucht hatte, es einfach zu akzeptieren, diese Sache ging ihm immer noch an die Nieren, selbst so viele Jahre später und würde ihm eine so drastische Fehldiagnose heute vorgelegt werden, würde ihm mit Sicherheit das ein oder andere nette Wort einfallen, dass er dem Arzt an den Kopf werfen könnte. Aber damals war er eben auch nur ein Kind gewesen und viel zu überfordert von allem, was passiert war.
 

„Wie lange hat es gedauert, von dieser Sache in der Schule bis zu Ihrer Festnahme? In den Akten stand, dass Sie sich gestellt haben?“

 

 
 

All you have is your fire

And the place you need to reach

Don't you ever tame your demons

But always keep them on a leash

 

 

Dies schien wieder eine der Fragen zu sein, mit denen er sich alles andere als wohlfühlte und zum ersten Mal wurde auch seine Körpersprache noch ein wenig unruhiger, als er bisher zugelassen hatte. Dennoch – oder gerade deshalb – ließ sie die Frage einfach so in der Luft schweben, wartete geduldig, bis er zu einer Antwort ansetzte.
 

„Was das angeht, hatte ich nicht wirklich eine Wahl.“
 

„Was ist passiert?“
 

Sie konnte sehen, wie er mit sich kämpfte, am Ende aber aufgab und einige Sekunden lang einfach nur an die Decke starrte. Allein die angestrengte Linie seines gestreckten Halses zeigte ihr unter wie viel innerlicher Anspannung er stand.
 

„Es wurde in den Tagen nach dem Brand immer wieder davon berichtet, aber die Polizei kam mit der Ermittlung nicht weiter, weil niemand irgendetwas gesehen hatte. Anscheinend war nicht einmal auf den Sicherheitskameras in der Umgebung brauchbares Material zu finden … und dann … dann konnten sie schließlich doch noch den Obdachlosen befragen, als es ihm wieder besser ging.“
 

Er schüttelte langsam den Kopf, sah sie aber immer noch nicht an.

 

„Er hatte mich nicht genau gesehen, aber konnte meine Schuluniform anscheinend gut genug beschreiben, dass es die Suche erheblich eingegrenzt hat. Und ich weiß bis heute nicht wie, weil ich einfach gar nichts von seiner Anwesenheit mitbekommen hatte.“
 

Frustration war deutlich in seiner Stimme zu hören, erfüllte das Behandlungszimmer selbst dann noch, als seine Worte bereits verklungen waren und er mehrmals deutlich hörbar durchatmete, als müsste er sich selbst beruhigen.
 

„Sind Sie daraufhin zur Polizei gegangen?“
 

„Nein…“
 

Ein bitteres Lächeln umspielte seine Mundwinkel, als er nun endlich wieder den Kopf hob, um ihren Blick zu erwidern. Ganz als wollte er ihr auf diese Weise sagen, dass dieser Weg doch deutlich zu einfach gewesen wäre.
 

„Was dann?“
 

„Ich wollte abhauen und zu meinen Großeltern flüchten, weil ich sicher war, dass sie mich in Schutz nehmen würden. Ich war schon immer gut darin Leute zu manipulieren und sie würden nie wollen, dass ihrem Enkel etwas zustößt-“
 

„Denken Sie das wirklich von sich? Dass Leute sie nur mögen, weil Sie sie manipulieren, meine ich.“
 

Sein Blick zeigte deutlich, wie wenig erfreut er von dieser Unterbrechung war und ihr Patient zuckte nur in einer fast schon abgehackten Bewegung mit den Schultern.
 

„Ich weiß nicht, ob das ein Thema ist, für das wir heute Zeit haben, wenn ich ehrlich bin“, gab er dann aber zu. „Aber ich hatte schon als Kind ein Talent dafür, sehr liebenswürdig zu sein, wenn ich wollte, dass mich jemand mochte. Und heute … ist es noch schwerer da irgendwie zu unterscheiden.“
 

Sie nickte nur kurz, notierte sich noch zwei, drei Stichworte und fügte gedanklich einen weiteren Fragebogen zu dem Pamphlet hinzu, dass er würde ausfüllen müssen.
 

„Dann fahren Sie bitte fort, ich wollte Sie nicht aus dem Konzept bringen.“
 

„Ich bin nie bei meinen Großeltern angekommen oder überhaupt irgendwo hin, weil ich meiner Mutter quasi in die Arme gelaufen bin und nun ja … über kurz oder lang ist es dann irgendwie aus mir herausgesprudelt und dann hat sie mich natürlich zurück in mein Zimmer geschickt. Zwei Tage später saß ich dann mit dem Anwalt meiner Eltern in der nächsten Polizeistation und von da hat dann alles seinen Lauf genommen. Die Verhandlung vorm Familiengericht war eher Formalität und ich bin mit einer Jugendstrafe davongekommen.“
 

„Hatte diese Erfahrung eine abschreckende Wirkung auf Sie?“
 

„Vermutlich? Ich … ich bin mir, ehrlich gesagt, nicht sicher.“
 

„Haben Sie danach weitere Feuer gelegt?“
 

„Nein, das nicht … es hat mich vielleicht schon abgeschreckt, weil ich keine Konsequenzen mehr riskieren wollte, aber dieser Drang nach Feuer ist deswegen ja nicht plötzlich verschwunden. Ich musste damals eine Therapie beginnen und nachdem ich über meinen anfänglichen Trotz hinweggekommen bin, hat mir das dann schon eher geholfen.“
 

Sie konnte nicht anders, als bei dieser Beschreibung zu lächeln. Auch wenn sie natürlich nicht wusste, wie er als Jugendlicher ausgesehen hatte, konnte sie sich lebhaft vorstellen, wie wenig es der siebzehnjährigen Version ihres Patienten gepasst haben musste, sich etwas von einem Psychologen erzählen zu lassen.
 

„War das der Arzt, der das mit den Halluzinationen gesagt hat?“

 

„Nein das war später. Mein erster Therapeut war eigentlich wirklich ganz gut drauf, dafür dass ich am Anfang so gar keinen Bock auf ihn hatte. Aber er konnte mir verständlich machen, dass ich aktiv etwas tun muss, wenn ich nicht will, dass diese Sache mein Leben bestimmt und was da eigentlich dahinter steckt, diese ganze Sache mit den Impulskontrollstörungen und so. Und er hat mir Möglichkeiten gezeigt, wie ich diese innere Anspannung abbauen kann, ohne dabei mich oder andere in Gefahr zu bringen.“
 

„Das klingt, als hätten Sie in dieser Zeit wirklich viele Fortschritte machen können.“
 

„Ja. Er hat mich quasi bis zum Ende der Schulzeit begleitet und ich schätze, ich habe es ihm zu verdanken, dass ich überhaupt einen Abschluss gemacht habe. In der Zeit hatte ich auch angefangen Musik zu machen, was auch ein ganz guter Stressausgleich war. Und naja … dann ist er irgendwann in Rente gegangen und mit seinem Nachfolger bin ich dann so gar nicht warm geworden. Eben wegen solcher Behauptungen oder Pseudo-Diagnosen, die er in den Raum geworfen hat, obwohl er meine kompletten Akten hatte. Es hat einfach nicht funktioniert und hat eher dazu geführt, dass ich mich nach den Sitzungen schlechter als besser gefühlt hab.“
 

Nun war tatsächlich sie es, die ein Seufzen unterdrücken musste. Es war nicht das erste Mal, dass sie eine solche Geschichte hörte und natürlich passte nicht jeder Therapeut zu jedem Patienten – dennoch wünschte sie sich manchmal, dass so einige ihrer Kollegen ein wenig behutsamer wären, wenn es um unsichere Verdachtsdiagnosen ging. Schließlich half man keinem Patienten, wenn man ihn durch so etwas vollkommen verunsicherte. Aber das ließ sich nun nicht mehr ändern und sie konnte nur versuchen ihrem Gegenüber nun eine bessere Hilfe zu sein.
 

„Wie ging es dann weiter? Sie haben recht früh nach der Schule mit der Musik ernst gemacht, oder? Hatten Sie zu dieser Zeit jemanden, der Sie begleitet hat?“

 

„Anfangs ja. Das war aber weit weniger intensiv. Mir ging es lange recht gut mit der ganzen Sache und am Ende war ich nur noch einmal im Monat dort, um darüber zu reden, wie alles so lief und ob es irgendetwas gab, womit ich konkrete Hilfe brauchte. Das hörte dann erst auf, als wir mit der Band nach Tokyo gegangen sind.“
 

„Darf ich Sie etwas fragen?“
 

Er hatte gerade noch einmal nach seinem Wasserglas gegriffen, sah sie nun aber erstaunt an.
 

„Ist das nicht Ihre Aufgabe?“, scherzte er mit einem schiefen Lächeln, das sie nun nur zu gut erkennen ließ, wie viel Charisma hinter seiner bisher eher verschlossenen Fassade steckte.
 

„Wie konnten Sie diese Erfahrungen und die Diagnose und das alles mit Ihrem Alltag vereinbaren? Ich kenne mich zwar nicht wirklich im Musikgeschäft aus, aber ich nehme doch an, dass es mitunter ein sehr hektisches und nervenzehrendes Leben ist, oder?“
 

„Das … hat eigentlich immer gut funktioniert…“ In seiner Stimme schwang Erstaunen mit, anscheinend hatte er die Frage wirklich nicht erwartet.
 

„Haben Ihre Bandkollegen Sie unterstützt?“
 

Nun legte sich seine Stirn ein wenig in Falten, auch, wenn er noch immer lächelte.
 

„Ich weiß nicht, ob man das so sagen kann…“ Deutlich amüsiert zuckte er mit den Schultern, als er weitersprach. „Wir sind alle eher … seltsame Typen, um es mal so auszudrücken. Als Psychologin hätten Sie vermutlich einen Heidenspaß daran, uns einfach mal eine Woche zu beobachten, den ein oder anderen Schaden haben wir alle. Aber ich denke, deshalb funktionieren wir schon so lange. Wir sind alle nicht besonders erpicht auf soziale Kontakte, mit einer Ausnahme vielleicht, aber selbst das schwankt je nach Tagesform. Andere Bands sind bestimmt total gute Freunde und verbringen viel Zeit miteinander, auch außerhalb der Arbeit. Bei uns war das immer anders, zumindest sobald sich jeder seine eigene Wohnung leisten konnte. Wir stehen uns nahe, aber brauchen auch alle unsere Auszeiten, wo man den Rest einfach mal nicht zu sehen bekommt.“
 

„Klingt, als hätten Sie dahingehend ein gutes Gleichgewicht gefunden.“

 

„Ja. Wie gesagt. Wir sind alle seltsam, aber zusammen funktionieren wir ziemlich gut.“
 

Einen Moment lang betrachtete sie ihn nachdenklich und es tat ihr tatsächlich Leid, die gerade etwas aufgelockerte Stimmung wieder zerstören zu müssen.
 

„Was hat sich dann geändert? Warum sind Sie gerade jetzt zu mir gekommen?“

 

 
 

When I was a man I thought it ended

When I knew love's perfect ache

But my peace has always depended

On all the ashes in my wake

 

 

Die Worte trafen ihn wie eine Faust in den Magen und es kostete definitiv mehr Anstrengung als er zugeben wollte, nicht heftig zusammenzuzucken. Stattdessen starrte er nur vor sich hin, das Lächeln von eben wie gefroren auf seinen Lippen. Wie schon vorhin überkam ihn der innige Wunsch sich so klein wie möglich zu machen, um irgendwie unsichtbar zu sein. Oder er könnte einfach aufspringen und gehen, schließlich zwang ihn niemand dazu, hier zu sein.

Ohne darüber nachzudenken, sah er tatsächlich in Richtung Tür, begriff erst eine Sekunde später, dass ihr diese Geste auf keinen Fall verborgen geblieben war und sackte ein bisschen in sich zusammen, versuchte das Brennen in seinen Augen zu ignorieren, das ihn gerade zu überwältigen drohte.
 

„Ich weiß es ist hart, aber wir müssen darüber reden, wenn ich Ihnen helfen soll.“
 

Ihre Stimme klang nun ganz vorsichtig und beinahe mitleidig – nein mitfühlend, verbesserte er sich in Gedanken. Und sie hatte ja recht.

So unauffällig wie möglich blinzelte er einige Male, räusperte sich dann.
 

„Tut mir leid, ich … es ist schwer darüber zu reden. Oder schwerer.“
 

„Auch das ist vollkommen in Ordnung.“

 

Auch wenn er sie einmal mehr nicht ansehen konnte, er spürte ihre forschenden Blicke fast schon körperlich, wollte sich fast unter der Last winden, während er bewusst darum rang den Widerstand in sich aufzugeben.

Das hier musste sein, das war ihm klar. Es war ein notwendiges Übel und er war schließlich selbst schuld daran, dass er sich in dieser Situation befand. Er war alt und vor allem erwachsen genug, um nicht mehr alles nur mit sich selbst klären zu wollen. Er hatte ein Problem und er brauchte Hilfe damit. Professionelle Hilfe. Und dennoch wünschte er sich, dieser Gedanke wäre weniger schmerzhaft, als es nach all den Jahren noch immer der Fall war.

Er unterdrückte ein weiteres Räuspern, atmete stattdessen einige Male langsam ein und aus.

 

„… Mein Leben zerfällt im Moment in seine Einzelteile“, begann er dann, hasste, wie brüchig seine Stimme klang. „Oder zumindest fühlt es sich so an. Als würde alles meiner Kontrolle entgleiten und ich kann nichts tun, als tatenlos dabei zuzusehen.“
 

„Und über ein Feuer hätten Sie Kontrolle?“
 

Er nickte, ohne sich davon abhalten zu können.
 

„Zumindest die Illusion davon.“ Nun endlich sah er sie wieder an und kämpfte mit jedem weiteren Wort. „Ich weiß, dass es nicht wirklich helfen würde. Nicht wirklich und schon gleich gar nicht langfristig, aber...“ Er hob eine Hand, presste sie auf seinen Brustkorb und grub seine Finger in den Stoff seines einfachen Oberteils. „Ich hab das Gefühl, dass ich es einfach nicht mehr aushalte, nicht mehr kann und … als ob … das nächste Unglück nur noch Sekunden entfernt ist. Und ich kann und will das nicht mehr riskieren. Ich hasse mich dafür, dass dieser Drang, dieser Instinkt immer noch da ist und … so bescheuert das klingt, ich will einfach, dass es aufhört.“
 

Er fokussierte sich auf den Stift, mit dem sie sich nun rasch einige ausführlichere Notizen machte, hatte das Gefühl einen Fixpunkt zu brauchen, nun da seine Worte so unverhüllt im Raum standen, drohten ihm den Boden unter den Füßen zu nehmen. Er war so damit beschäftigt, seine Gedanken im Hier und Jetzt zu halten, dass er beinahe nicht mitbekam, wie sie zu einer Antwort ansetzte.
 

„Dann ist es gut, dass Sie hier sind. Und auch das zeigt, dass sie stärker sind, als sie sich selbst zugestehen. Sie haben gesagt, dass sie bisher nichts getan haben, das ist gut. Sie haben dem Druck nicht nachgegeben. Also können wir daran arbeiten, dass er weniger wird.“ Gern hätte er den Kopf geschüttelt, aber der Ausdruck in ihren Augen war so ernst und überzeugt von dem, was sie sagte, dass er dazu nicht in der Lage war. Zumindest so lang, bis sie fortfuhr. „Können Sie mir erzählen, was sich verändert hat?“
 

Seine Lippen öffneten sich, aber statt einer Antwort entkam ihnen nur ein hilfloses Geräusch, während sich das Brennen in seinen Augen wieder verstärkte, bis er sie zukneifen musste, um irgendwie zu versuchen, nicht vollkommen die Fassung zu verlieren.
 

„Eigentlich nicht viel. Immer wenn ich darüber nachdenke, komme ich mir nur noch dümmer vor, weil es vor allem beruflich noch besser läuft als in den letzten Jahren, alles was ich – oder wir – machen, funktioniert gerade einfach. Aber vielleicht ist auch gerade das das Problem, dass ich mich zu sehr in meiner Arbeit verloren habe. Statt auf das zu achten, was wirklich wichtig ist…“ Er hatte gehofft, dass sie noch einmal nachhaken würde, ihm noch einen kleinen Aufschub gewähren würde, irgendetwas, damit er nicht weiterreden musste, aber sie schien sich dessen vollkommen bewusst zu sein, sah ihn nur stumm und abwartend an. „…ich war früher nie ein Beziehungsmensch. Oder zumindest hatte ich mir das immer wirklich überzeugend selbst eingeredet. Dass ich so etwas nicht brauchte oder wollte und dass es mich nur von der Musik ablenken würde. All diese Sachen, die man eben denkt, wenn man jung ist…“ Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht, wurde aber schon nach Sekundenbruchteilen von einem Ausdruck tiefen Schmerzes wieder zerstört. „Bis ich dann tatsächlich mal jemanden kennengelernt habe, für den es sich lohnte, darüber nachzudenken.“
 

„Wie lange waren sie zusammen?“

 

Er schreckte beinahe ein bisschen hoch, als die Frage ihn aus seinen Gedanken riss, rieb sich unwirsch mit einer Hand über die Augen, in denen sich erneut Tränen gesammelt hatten.

 

„Fast zehn Jahre“, murmelte er dann, nahm ohne Widerstand das Taschentuch an, das sie ihm reichte, hatte so zumindest wieder etwas, womit er seine Hände beschäftigen konnte.
 

„Was ist passiert?“
 

„Nichts.“ Seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren so tonlos, dass es ihn fast schon wieder wütend machte. „Ich hab anscheinend einfach nicht gemerkt, wie sehr ich sie vernachlässigt habe und dass sie nicht mehr glücklich war. Sie hat einfach ihre Sachen gepackt und mir gesagt, dass es so nicht mehr weitergeht und dann war sie weg.“ Diesmal machte er sich nicht einmal mehr die Mühe seine Tränen zu verstecken, hatte gar keine Kraft mehr dafür noch irgendeine Art von Fassade aufrechtzuerhalten. Gefühlt hatte er keine Kraft mehr für irgendwas, wenn er ehrlich war. „Es ist vermutlich wirklich erbärmlich, dass mich das so kaputt macht“, murmelte er, als wollte er sich selbst verspotten. „Ich meine, Beziehungen gehen in die Brüche, ist nicht so, als wäre ich der erste Mensch, dem das passiert.“
 

„Stimmt.“ Erneut hörte er ihren Kugelschreiber über Papier kratzen, dann seufzte sie leise. „Aber das heißt nicht, dass es ihnen nicht wehtun darf.“ Er zwang sich zu ihr zu sehen, wurde dafür mit einem warmen Lächeln belohnt, während sie sich etwas aufrechter hinsetzte. „Ja, Sie sind nicht der erste Mensch, der plötzlich verlassen wird, aber was sagt Ihnen, dass diese Tatsache anderen nicht genauso wehgetan hat, wie es bei Ihnen nun der Fall ist? Gerade bei langjährigen Beziehungen kann eine plötzliche Trennung ein wirklich traumatisches Erlebnis sein. Es gibt genügend Menschen, die sich allein wegen einer solchen Erfahrung therapeutische Hilfe suchen, weil sie verletzt und orientierungslos sind. Und bei Ihnen kommen noch so viele andere Faktoren hinzu.“ Sie hielt für einen Moment inne, schien einige ihrer Notizen noch einmal zu lesen. „Ich finde, dass Sie durchaus ein bisschen stolz auf sich sein können. Es kann Ihnen nicht leicht gefallen sein, diesen Schritt noch einmal zu gehen und zu mir zu kommen. Aber Ihnen war klar, dass es wichtig ist. Das ist gut.“
 

So gern er diese Worte einfach stoisch hingenommen hätte, ohne groß darauf zu reagieren, so wenig war ihm dies tatsächlich möglich.

 

„Das ist ja nett, dass Sie das sagen, aber … ich sollte mich doch mittlerweile wirklich besser im Griff haben. Ich lebe jetzt schon so lange mit diesem Bullshit von Krankheit. Es kann doch nicht sein, dass es mich immer noch so … in der Hand hat.“

 

„Sagt wer?“
 

Mit dieser Frage hatte er, zugegebenermaßen, nicht gerechnet, sah sie nur einen Moment lang verwirrt schweigend an.
 

„Ich weiß nicht … ich, denke ich zumindest.“
 

„Okay. Warum?“ Sie ließ ihm keine Zeit, die Frage zu beantworten, sondern fuhr ohne zu Zögern fort. „Warum setzen Sie sich so unter Druck?“ Ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen, als wäre ihr eben eine Idee gekommen und sie klopfte sacht mit dem hinteren Ende ihres Kulis auf die Seite ihres Notizbuchs. „Nehmen wir einmal an, dass Ihr Problem nicht die Pyromanie wäre, sondern … Diabetes. Oder Migräne. Würden Sie dann auch diese Erwartung an sich selbst haben?“
 

„Das ist doch etwas vollkommen anderes…“

 

Diesmal fiel sie ihm sogar ins Wort, gab ihm keine Chance sich irgendwie zu rechtfertigen. Was vielleicht besser war, denn er hatte ohnehin nicht gewusst, wie sein Satz hätte enden sollen.
 

„Warum ist es etwas anderes? Es sind alles Erkrankungen, für die Sie nichts können. Egal ob sie nun körperliche oder geistige Ursachen haben. Und in allen drei Fällen muss man das Leben eben auf gewisse Art und Weise anpassen, um möglichst viel davon zu haben, weil die Diagnose nicht einfach so verschwindet. Ob es dafür nun Medikamente braucht oder Therapie ist doch zweitrangig.“

 

„…Sie wollen mir also sagen, dass ich mich einfach damit abfinden muss?“

 

„Akzeptieren müssen Sie es. Und dann können wir daran arbeiten. Aber ich denke, dass Sie das längst wissen.“
 

„Es fällt mir nur schwer, im Moment … irgendetwas zu akzeptieren. Am allermeisten mich selbst. Es muss ja schließlich einen Grund geben, warum sie … einfach gegangen ist. Und jetzt frage ich mich eigentlich nur ständig, warum ich mir dann überhaupt noch Mühe geben sollte, diesem Verlangen nicht nachzugeben.“ Einen Moment hielt er inne und als er fortfuhr, war seine Stimme nicht mehr als ein gebrochenes Flüstern. „Warum sollte nicht die ganze Welt brennen und genauso viel Schmerz fühlen, wie ich es tue?“

 

„Weil ich nicht glaube, dass Sie das wirklich wollen.“ Sie wartete, bis er sie wieder ansah, erwiderte seinen Blick ernst. „Ich glaube nicht, dass Sie jemand sind, der gern Dinge zerstört. Deswegen setzt Ihnen das Ganze so zu.“

 

„Ich hab mal gelesen, dass ein langfristiger Therapie-Erfolg bei Erwachsenen kaum möglich ist, dass die Statistiken gegen mich sprechen.“

 

„Das ist die generelle Einschätzung, da haben Sie recht. Allerdings gibt es auch reichlich wenig Forschung zu dem Thema, weil es so eine seltene Störung ist. Aber wissen Sie, was noch seltener ist?“ Ganz automatisch schüttelte er den Kopf. „Dass sich ein Betroffener im Erwachsenenalter von selbst in Therapie begibt. Die meisten Fälle, von denen in Fachkreisen berichtet wird, sind die, bei denen eine Behandlung nach einer Straftat erfolgt. Und davon sind Sie, meiner Einschätzung nach, sehr weit entfernt.“ Sie hielt für einen Moment inne, blätterte in ihrem Notizbuch, bis sie die richtige Stelle gefunden hatte, musterte ihn dann mit leicht schief gelegtem Kopf. „Ihre bisherigen Behandlungen waren eher auf klassische Verhaltenstherapie ausgelegt, ja?“

 

„Ja...soweit ich mich erinnere.“
 

„Ich würde mit Ihnen gern etwas anderes versuchen. Ein anderer Ansatz, noch verhältnismäßig neu“, sie setzte das Wort mit ihren Fingern in kleine Anführungszeichen. „Aber ich denke für jemanden wie Sie, der sich seinen Problemen so bewusst ist und sich mit der Materie befasst hat, vielleicht geeigneter.“
 

„Sie wollen mich aber nicht hypnotisieren oder so?“
 

Auch wenn ihm eigentlich nicht danach war, er konnte nicht anders, als ein wenig zu schmunzeln, als sie auf diese Frage hin tatsächlich kurz grinste.
 

„Nein, nein, keine Angst. Ich glaube, dazu hängen Sie zu sehr an Ihrer Selbstkontrolle. Ich hatte eher metakognitive Therapie im Sinn, aber das kann ich Ihnen, wenn Sie mit mir arbeiten möchten, gern in der nächsten Stunde näher erklären. Oder Sie informieren sich selbst schon einmal.“
 

Ertappt zog er die Schultern ein bisschen nach oben, bevor er sich etwas gerader hinsetzte. Anscheinend war er tatsächlich weitaus durchschaubarer, als er gehofft hatte. Aber auf der anderen Seite war dies ihr Job. Und auch, wenn es ihm noch immer alles andere als prickelnd ging und er sich am liebsten hier und jetzt zum Schlafen zusammengerollt hätte – irgendwie fühlte er sich ein wenig erleichtert.
 

„Das … klingt gut“, erwiderte er deshalb nur. „Ich würde es gern versuchen. Im Moment bin ich auch zeitlich recht flexibel.“
 

„Das ist sehr gut. Ich würde gern möglichst bald mit den Sitzungen beginnen, wenn es Ihnen recht ist.“
 

Er nickte nur, sah ihr hinterher, als sie aufstand und zu ihrem Schreibtisch ging. Sie schien kurz etwas zu suchen, drehte sich dann aber zu ihm um. „Wie wäre es nächsten Mittwoch? Um die gleiche Zeit? Dann haben Sie das Wochenende, um sich alles noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.“
 

„Ja, das wäre in Ordnung.“
 

Fast hätte er ‚super‘ gesagt, aber das beschrieb die Situation vielleicht nicht wirklich auf adäquate Weise. Nach kurzem Zögern erhob er sich ebenfalls, wartete einen Moment unsicher, lächelte sie dann aber an, als sie wieder zu ihm kam, ihm ein kleines Kärtchen entgegenstreckte.
 

„Ihr Termin. Und meine Kontaktdaten. Wenn irgendetwas ist, auch eine Notfallnummer.“

 

„Danke.“ Mit zitternden Händen nahm er die Karte an, las sich die Daten darauf kurz durch und musste erneut blinzeln, um alles richtig lesen zu können. Er konnte hören, wie heiser seine Stimme war, als er seine Blicke wieder auf sie richtete. „Wirklich, danke. Und bis nächste Woche.“
 

Damit wandte er sich um, ging auf den Ausgang zu, nach dem er sich zwischenzeitlich so gesehnt hatte und hatte die Tür schon geöffnet, als er ihre Stimme noch einmal hörte.
 

„Und Hara-san?“
 

„Ja?“

 

Sie hielt ihr Notizbuch in der einen Hand, machte damit eine vage Geste in seine Richtung.
 

„Seien Sie nicht so hart mit sich selbst. Es ist okay Emotionen tief zu empfinden, selbst wenn sie negativ sind.“
 

Er wusste nicht wirklich, was er darauf noch sagen sollte, weswegen er nur nickte und dann seinen Weg aus der Praxis fortsetzte. Irgendwie konnte er es gerade gar nicht erwarten einfach nur draußen zu sein und frische Luft atmen zu können. Soweit das eben in der Großstadt möglich war.

Tatsächlich hatte ihm dieser Abend mehr Denkanstöße geliefert, als er vermutet hatte, war das Ganze doch eher eine Art Verzweiflungstat gewesen.
 

Auf der Straße angekommen blieb er stehen, sah sich kurz um und griff dann automatisch in seine Hosentasche, um seine Zigaretten hervorzuziehen. Er schüttelte einen der Glimmstängel aus der Packung, holte sein Feuerzeug hervor und ließ es aufschnappen. Das Metall schmiegte sich kühl in seine Hand, ein angenehmes Gewicht, das ihn innehalten ließ.

Seine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich darauf, auf jeden einzelnen Funken, dann auf die kleine Flamme, die vor ihm in der Dunkelheit tanzte, ihn wie immer zu sich zu locken schien, als wollte sie ihn zu einem Spiel einladen.

 

„…vielleicht lieber nicht, mh?“
 

Mit einem kaum hörbaren Seufzen ließ er das Feuerzeug wieder zuschnappen und sah sich kurz um, bevor er einige Schritte lief, um es zusammen mit seinen restlichen Zigaretten im nächsten Mülleimer zu entsorgen. Er winkte ein vorbeifahrendes Taxi heran und stieg ein, nachdem die Tür geöffnet worden war, nannte dem Fahrer seine Adresse.

Als der Wagen anfuhr, warf er einen letzten Blick in Richtung der Praxis, die er eben verlassen hatte.

Vielleicht hatte diese Therapeutin ja recht. Vielleicht war nicht alles verloren. Aber wenn seine Dämonen ihn schon nicht von allein in Ruhe lassen würden, musste er eben einen Weg finden, um sie irgendwie in Ketten zu legen. Und vielleicht konnte sie ihm helfen, sodass er zumindest mit dieser Aufgabe nicht allein war.

 

 
 

All you have is your fire

And the place you need to reach

Don't you ever tame your demons

But always keep them on a leash

 


Nachwort zu diesem Kapitel:
Und das war's auch schon. Ich hoffe euch hat dieses 'kleine' Experiment gefallen, mich würde ja interessieren, an wen ihr so beim Lesen gedacht habt und ob ihr mit euren Vermutungen richtig lagt ;) Über Favoriten oder Kommentare aller Art würde ich mich natürlich super freuen <3 Komplett anzeigen

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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  QueenLuna
2019-12-02T11:57:34+00:00 02.12.2019 12:57
Huiii.. Was für eine Fanfiction. Bin echt beeindruckt!
Gerade aufgrund der Thematik - eine Thematik, mit der ich mich noch nie näher beschäftigt habe, aber ich finde, man merkt, dass du dich damit sehr auseinandergesetzt hast. Richtig krass!

Es ist klasse, wie du die Gefühle und Beweggründe desjenigen rüberbringst und auch die Zweifel bzw die Selbstverachtung, die damit einhergehen. Man kann sich richtig toll reinfühlen. Auch diese Stellen, wo es darum geht, was er im Zusammenhang mit dem Feuer empfindet (auch in der Schlussszene mit dem Feuerzeug), waren wunderbar detailliert und greifbar.

Die Passage mit dem "Er war aus tiefster Seele hässlich und abartig" usw. hat mich irgendwie mitgenommen, da man das innere Leid richtig spürt. Und ihre Antwort darauf, dass sich ein furchtbarer Mensch ja keine Gedanken drum machen würde, hat mich berührt und kann dem nur zustimmen. Wahre Worte!!
Ich mag die beide Charaktere sehr, sie wirken auf mich sehr tiefgründig und SIE macht ihren Job echt super!

Auch ist es total spannend, eine Geschichte zu verfolgen, die sich ja szenenmäßig überhaupt nicht verändert, sondern nur aus dem Gespräch der beiden besteht. Und es wird überhaupt nicht langweilig dabei. Es ist ja wie eine Art Kammerspiele (heißt das so? Also was halt nur in einem Raum spielt^^) - bin immer noch beeindruckt. Ja ich wiederhole mich xD muss dringend nach Wörtern googlen, die meine Begeisterung noch mehr unterstreichen...

Die Beschreibung der Bandmember bzw der Band generell also wie sie zueinanderstehen und scheinbar alle nen (leichten) Schaden haben, hat mich auf gewisse Weise amüsiert, da es einfach sehr treffend und realitätsnah ist. So wie es halt nun mal ist, nicht immer perfekt und Friede Freude Eierkuchen xD

Dein Schreibstil war wie immer sehr sehr angenehm und herrlich abwechslungsreich. Auch die Perspektivwechsel waren einfach passend und haben mir die Charaktere noch näher gebracht.

Fazit: Eine echt großartige und tiefgründige Geschichte, mit einer ordentlichen Portion Psychologie und einem etwas anderen Thema, die trotz der immer gleichen räumlichen Szenerie spannend zu verfolgen ist. Du hast das echt klasse gemacht. Hätte ich einen Orden parat, würde ich ihn dir glatt anstecken xD finds toll, mit welch immer neuen Themen du dich auseinandersetzt. Mein größter Respekt!

Liebste Grüße
Luna <3

Ps: sorry bin mal wieder ausgeartet xD
Antwort von:  -Red-Karasu
15.12.2019 19:17
Na das fängt ja gut an, gleich mal Danke fürs Beeindruckt-Sein ;)
Und gerade bei so nem Thema gehört (zumindest für mich) so ein bisschen Recherche auch dazu, sonst kann ich das nicht wirklich schreiben, vor allem halt in diesem doch recht speziellen Rahmen, den ich mir vorgenommen hatte.

Aber ja… ich denke, egal womit man in diesem Bereich zu kämpfen hat oder womit man lebt, selbst wenn man das gut kann, ist es doch immer eine gewisse Belastung und je nachdem, was es genau ist, macht das die Selbstakzeptanz nicht einfacher. Schon gar nicht, wenn man, wie er in diesem Moment aus anderen Gründen schwer damit zu kämpfen hat, nicht in ungesunde Muster abzurutschen. Sein Problem ist natürlich ein sehr spezielles und schwerwiegendes, aber das gilt für häufiger Auftretende Erkrankungen genauso.
Und ich freue mich wirklich, dass die Therapeutin dir sympathisch ist – sie zu schreiben war tatsächlich der schwerere Part, weil man/sie eben immer diese gewisse Distanz wahren muss, die man sonst vielleicht überbrücken wollen würde.

Dass sich die Szene nicht verändert und das Meiste einfach über den Dialog passiert, war so die Herausforderung, die ich damit an mich selbst stellen wollte, weil ich mich bei Dialogen oft sehr schwer tue und schnell das Gefühl bekomme, dass sie langweilig werden oder gestellt wirken. Aber hier ging es dann halt nicht anders. Den Vergleich zu Kammerspielen finde ich da tatsächlich nicht weit hergeholt (und nehme ihn als riesiges Kompliment!)

Und hey komm, natürlich haben die alle irgendwie nen kleinen Knacks, sonst würden sie es doch gar nicht miteinander aushalten ;) Ich hatte auch schon mal den Gedanken vielleicht mal noch einen weiteren Teil mit einer anderen Hauptperson dazu zu schreiben, aber falls ich das mache, wird das noch ne ganze Weile dauern ^^°

Deinen Orden nehme ich einfach mal virtuell entgegen und stecke ihn mir voller Stolz ans Revers ;) Und auch danke dafür, dass du meine seltsame Themenwahl gut und nicht einfach nur absurd findest <3 <3
Von:  ScarsLikeVelvet
2018-10-15T10:39:20+00:00 15.10.2018 12:39
Verdammt ... du hast mich echt an der Nase rumgeführt.
Ich hätte mit jedem gerechnet, der da Pyromane "spielt", aber nicht mit Toshiya.
Diese Geschichte klang so real, dass es einem echt Angst machen kann.
Du darfst gern öfters solche Experimente machen. Du bringst mich definitiv wieder auf den Geschmack für Diru <3
Danke fürs Teilen deiner Geschichte.

LG,
Scars
Antwort von:  -Red-Karasu
15.10.2018 18:27
Also irgendwie freut es mich ja, dass ich dich ein bisschen an der Nase herumführen konnte ;) Beziehungsweise eher, dass es nicht von vorn herein total offensichtlich war, um wen es sich eigentlich handelt. Dass es für dich real klang ist, glaube ich, so ungefähr das größte Kompliment, dass du mir hier machen konntest und ich freu mich gerade total darüber, dass die Story dir so gut gefallen hat.
Danke für's Lesen und vor allem für's Kommentieren!


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