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Schwarz ist bunt genug

Mein Beitrag zur Osteraktion 2o23 ~ Karfreitag
von

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Schwarz ist bunt genug


 

SCHWARZ ist BUNT genug
 

Der kleine Löffel tanzte munter auf der Untertasse, als sie versuchte, ihren Tee unbeschadet auf den Esszimmertisch zustellen. Der aromatische Duft war ihr wie ein Faustschlag in die Magengrube. Die Erinnerung war zu frisch und in diesem Haus zu allgegenwärtig. Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen und die Last der letzten Monate haftete ihr noch immer an, klebte ihr wie Kaugummi unter der Schuhsohle und ließ sich nur schwer entfernen. Er war gegangen. Fort. Einfach weg. Aus dem Leben gerissen, ihr weggenommen.

Unter klammen Fingern gelang es Kate endlich, dieses verdammte Geschirr abzusetzen. Irmalines Blick war, wie so oft in den letzten Wochen, in die Ferne gerichtet. Sie registrierte ihre Tochter, musste sich ihrer versichern, denn Kate war es, die ihr das Essen bereitete, die Wäsche machte, obschon Irmaline sich durchaus um sich selbst kümmern konnte, denn Kate war einzig für die Feiertage nach Dayton gereist.
 

***
 

Die Leute waren gekommen, in Strömen, als sich die Nachricht in der Nachbarschaft verbreitet hatte. Kate war in New York, ihr Telefon hatte keinen Empfang und Irmaline mit sich, ihrer Wut, Angst und Trauer überfordert. Als sie ihrem Kind habhaft wurde, brach Kates Welt in tausend Stücke. Vor einer knappen Woche noch hatten sie einander vom Jahreswechsel berichtet und das alte Jahr mit dem Versprechen verabschiedet, dass das neue besser werde. Wie Kate diese Floskeln und Phrasen doch zuwider waren!

Die brüchigen Worte gingen ihr unter die Haut, das Schluchzen, das Wimmern. Kate spürte die nahende Kälte, die sich anschlich wie ein leidiger Parasit. Das Handy glitt ihr aus den Fingern, nachdem Irmalines schreiende Worte, die Anklage – wieso sie nicht an ihr verdammtes Telefon ging – in einem monotonen Laut verebbten.

Sorge zeigte sich auf Mellorys Gesicht, als sie Kate aufmerksam beobachtete und das Rufen und die Tränen der fremden Frau am anderen Ende durch die Kabine hallten. Ihr drehte sich der Magen um, alle Farbe wich ihr aus den Wangen. Das bedrohliche Schwanken ließ selbst Mellory erkennen, dass die soeben gehörte Nachricht keine Erfreuliche sein musste. Die Lippen blass, die grünen Augen groß und von Tränen erfüllt, wankte Kate wie mechanisch gesteuert aus dem Großraumbüro.

Mellorys Worte, Fragen und Rufe vernahm sie nur als dumpfes Brummen. Kollegen, die ihr entgegenkamen, waren nur Schemen, denen sie auswich. Später würde sich erklären, dass Mellory nach Corinne rief und diese auch Alice zu einem Krisengespräch herbeizitierte.

Sie fanden Kate auf den Damentoiletten auf ihrer Etage. Auch wenn diese Örtlichkeiten in diesem Stockwerk keinen allzu guten Ruf genossen, waren sie als Rückzugsort perfekt. Corinne drückte die Tür zum Waschraum auf und wurde sofort fündig. Statt sich in einer Toilettenkabine einzusperren, hatte sich Kate unter den Waschtisch verkrochen und zu einer Kugel zusammengerollt. Den Kopf auf die kühlen Fliesen gelegt, liefen ihr die Tränen über den Nasenrücken die Wange hinab und tropften auf den steingrauen Marmor. Statt sie mit Fragen zu löchern, ließen sich die Kolleginnen an ihrer Seite nieder, strichen ihr behutsam über Haar und Rücken, versuchten, ihr die Hand zu halten und schwiegen.

»Das ist so Grey’s Anatomy«, sagte Corinne im halbherzigen Versuch, die Trauer zu bewältigen.

»Corinne!«, beschwor Alice‘ sie mit mahnendem Blick. So friedvoll und freundlich Alice auch sein mochte, in dieser Situation war ihr der geschmacklose Kommentar lästig.

Ein Schnauben erklang, dann bröckelten Worte von Kates Lippen, mit denen keine der drei Frauen gerechnet hatte. »Ich werde euch keine Muffins backen!«

Mellorys straffe Haltung löste sich bei den gefallenen Worten. Unbeirrt strich sie weiter über Kates Rücken. »Glück gehabt. Ich mache nämlich Diät. Keine Histamine.«

»Du bist bekloppt«, knurrte Kate und nahm sich das Recht heraus, gemein zu sein, ehe ihr eine leise Entschuldigung entfuhr.

»Schon in Ordnung, Kate«, nuschelte sie. »Ich weiß es ja selbst. Wer mit einem Italiener verlobt ist, kann jede Diät in den Wind schießen.«

Selbst Alice entglitt ein belustigtes Schnauben und auch Corinne verzog den Mund zu einem breiten Grinsen, ehe ihr Blick wieder auf das Häufchen Elend fiel. »Es tut mir so leid, Kate.«

Schniefend wischte sie sich die Augen. »Gerade heute muss dieser verdammte Anbieter Störungen melden. Irmaline konnte mich nicht erreichen. Hat es zu Hause versucht, dachte wohl, dass ich noch Urlaub hätte. Mir ... mir ist schlecht.«

Kate rappelte sich auf und robbte auf allen vieren auf die nächstgelegene Toilette zu. Sie würgte, krächzte und erbrach nur bittere Galle. Spucke mischte sich unter das Brennen in ihrer Kehle, das Herz stach ihr in der Brust, als plötzliche Atemnot einsetzte. Alarmiert kam Corinne auf die Beine, stützte auf ihre Freundin zu, hielt ihr das Haar zurück und versuchte, beruhigend auf sie einzureden.

Panik quoll ihr den Hals hinauf, Kate blickte neben sich in Corinnes Gesicht, verstand nicht ein Wort von dem, was Corinne ihr sagte und versuchte dennoch, Luft in ihre Lunge zu pressen. Corinne atmete mit ihr. In tiefen Zügen, in die Nase durch den Mund.

»Okay, okay, Kate?«, fragte sie und erntete ein schwaches Nicken.

»In dieser Scheißtoilette hat man keinen Empfang!«, fluchte Mellory, entgegen aller Gewohnheit und Kate brach erneut in Tränen aus und versank, tiefen Schluchzern, an Corinnes Brust.

»Es ... es tut mir leid, ich wollte nur ... für den Fall das ... ach, scheiße!«, zischte Mellory und watete, sich das Haar raufend, durch den Raum.
 

Auch wenn es zwischen ihnen krachte, hatte Kate in diesen Frauen eine zweite Heimat, eine zweite Familie gefunden. Das Klopfen an der Tür hatte die Aufmerksamkeit der Frauen erregt. Da Alice dem Empfangsbereich bereits seit einiger Zeit fernblieb, schickte man die Praktikantin auf die Suche nach ihr. Gerade hatte Corinne getönt, dass es diesem Etablissement an Alkohol fehle, um solchen Nachrichten gebührlich entgegenzuwirken, als Paityn Conroy den Kopf in den Waschraum steckte und sichtlich erschrocken den Kopf einzog. Alice schloss Kate in eine feste Umarmung und folgte der angehenden Empfangsdame in die Lobby.

»Sollen wir dich begleiten wenn du zur Personalchefin gehst?«, fragte Mellory und verzichtete darauf, ihre derangierte Haarpracht zu richten.

Kate nickte. Die verquollenen Augen, die triefende Nase und Corinnes besudelte Seidenbluse wären wohl Beweis genug, wie mies es Kate erging. Dankend nahm sie die Hilfe der Frauen an, die sie in die Vertikale zogen und stützten. Langsam, fast schleichend, lotsten sie Kate auf den Flur hinaus.

»Entschuldigung, die Damen!« Corinne verdrehte die Augen, während Derk McAdarra, der ihr mindestens genauso lästig war, wie Corey Cooligan, auf sie zuhielt. Zum Leidwesen der Damen war Mister McAdarra der stellvertretende Personalleiter – und eigentlich der richtige Ansprechpartner, doch sein Auftritt machte das persönliche Herantreten zunichte. Auch wirkte der in Schlips und Anzug gekleidete McAdarra kühl und distanziert, statt freundlich, offen und mitfühlend für die Belange der Mitarbeiter. Schützend nahmen Mellory und Corinne Kate in ihre Mitte. Mit schnellen Worten und entschuldigendem Lächeln erklärte Mellory, dass sie auf dem Weg zur Personalleitung seien, und marschierte mit dem Duo am Arm in Richtung Fahrstuhl.

Corinnes anerkennender Pfiff lenke die benommene Kate auf die siegessicher grinsende Mellory. »Taffes Mädchen!«, lobte Corinne. Mellory straffte die Schultern und schob ihren Busen stolz hervor.

Dass sie bei Clarissa Taffee an der richtigen Adresse waren und auf Mitgefühl hoffen konnten, zeigte sich auf dem Gesicht der Dame, die beim bloßen Anblick der gebeutelten Kate sofort für alle die Kleenexbox herumreichen ließ. Das grau-braune Haar zu einer Dolly Parton-Mähne geföhnt, säuberte sie ihre 60er Jahre Cateye-Brille, nur um dann ebenfalls in ein Kleenex zu schnäuzen. Immer wieder tätschelte sie der benommenen Kate die Hand und sicherte ihr zu, dass der Urlaub, ohne Frage, genehmigt sei.
 

Nach mehrmaligem Versichern, dass es Kate allein nach Hause schaffe, ließen Corinne und Mellory von ihr ab. Fahrig räumte sie Stifte und Notizen zusammen, schlüpfte in ihren Anorak und schulterte ihre Tasche.

»Melde dich, wenn etwas ist, egal wann! Und vor allem, wenn du deine Mom am liebsten zum Mond schießen willst, okay Kate?« Schwach nickte Kate Mellorys Worte ab und ließ sich von der kleinen Elfe in eine umso festere Umarmung ziehen. Corinne murmelte ihr zu, dass sie diesen Weg nicht allein gehen müsse, und wähnte sich bereits einer Flugreise nach Ohio, doch Kate rang sich ein kleines Lächeln ab und schüttelte den Kopf. Mit gesenktem Haupt stieg sie in den Fahrstuhl und spürte ihren Magen rumoren. Nur zu gern hätte sie wahrlich und wahrhaftig ein einziges Mal dem Drang nachgeben wollen, sich im Lift zu erbrechen, doch die Fahrt dauerte nur wenige Augenblicke. So wankte Kate aus dem Aufzug, fühlte sich selbst wie der Tod auf Latschen und seufzte dankbar, als Alice an ihre Seite trat und ihr ebenso das Versprechen abnahm, wenn es ihr zu viel und schwer wurde, dass ein Anruf genüge und die ganze verrückte Frauenbande im Flieger nach Westen säße.

Mit banger Miene ließ Alice sie ziehen. Die Finger waren ihr eisig und die Temperaturen des Januar taten ihr Übriges, um ihr das Leben noch schmerzlicher zu gestalten. Statt sich durch den Central Park zu quälen, bei eisigem Wind und leichten Schneewehen, entschloss sich Kate, ein Taxi zu nehmen.

Die Fahrt von der einen Seite der Stadt auf die andere verbrachte sie schweigend. Kate war auch dem Fahrer dankbar, dass er das verheulte Elend nicht weiter belästigte. Sie rang sich ein flüchtiges Lächeln ab, das der Taxifahrer ebenso kläglich erwiderte und kämpfte sich die Stufen zum Hauseingang hinauf. Die Zeiger der Uhr verwiesen auf zehn Minuten vor elf. In drei Stunden ging ihr Flug in die Heimat. All das verdankte sie Alice‘ Organisationstalent. Kate wusste nicht, ob sie auch ein zweites Ticket buchen sollte. Für Nick. Sie biss sich auf die Lippen und spürte die Tränen brennen. Sie beließ es dabei, ihm Bescheid zu geben. Er solle entscheiden, ob er mit ihr oder Bertram nach Dayton flog. Im Taxi fand sie die Zeit, ihm eine Nachricht zukommen zu lassen.

Die Wohnung kam ihr unendlich fremd vor und obwohl es sich wie ihre Bleibe anfühlte, löste jeder Schritt einen Schauer aus, der sie frösteln ließ. Alles lag still, bis auf die Elektrogeräte, die ein leises Brummen von sich gaben. Lediglich ein kleines Lämpchen erhellte das Wohnzimmer. Sie sollte packen, sie musste packen. Also zog Kate die Reisetasche hervor und stand, mit leerem Blick, vor ihrem Kleiderschrank. Bis auf eine schwarze Jeans, die ihr nicht mehr passte, ein paar Basic-Hemdchen und einen Hoody mit einem weißen Pudel darauf, bot der Inhalt des Schrankes eine überschaubare Einfachheit an düsteren Farbvarianten.

»Scheiße«, fluchte sie und langte nach Slips, Strumpfhosen und Socken. Für eine ausgedehnte Shoppingtour war keine Zeit mehr – also musste sie sich der Schmach ergeben, in Dayton nach schwarzer Kleidung zu suchen.

Die Hände an der Teetasse wärmend, registrierte sie nur am Rande das Klappern von Schlüsseln. Nick schlüpfte aus den schweren Boots und marschierte geradewegs auf sie zu. Kate hockte auf dem Fenstersims im Wohnzimmer und sah dem mittäglichen Verkehr zu, wie er sich die Lexington Avenue rauf und runter schob. Sie wandte sich ihm zu.

»Hey.« Zu mehr sah sie sich nicht fähig.

Nick schluckte, überlegte, ob er sie in eine Umarmung ziehen oder sich neben ihr auf die Fensterbank setzen solle. Wortlos nahm er ihr die Tasse aus der Hand, hielt ihre Finger für einen kurzen Moment, ehe ihr wieder dicke Tränen aus den Augen quollen. Er zog sie zu sich herauf, sprach kein Wort und ließ sie weinen. Diese Begegnung hatte nichts Körperliches, keinen sexuellen Charakter. In jeder anderen Situation hätte er sich längst ihres Halses bedient, die Nase in ihrem Haar vergraben. Doch in diesem Moment war auch ihm der bloße Gedanke daran erschreckend und unwirklich zuwider. So sehr er sich auch bemühte, nahm ihn dieser Augenblick ein und obschon es Nick versuchte, es gelang ihm nicht, den Kummer zu verbergen. Schniefend wischte er sich die Augen, bis Kate ihm ein Taschentuch reichte und er sich diesem höchst unflätig annahm.

»Geht es? Ich meine, einigermaßen?«, fragte er, die Nase sichtlich verschnupft. Noch immer liefen ihm die Tränen. »Mann, das ist schlimmer als ein Tritt in die Eier.«

Kate wollte ihn tadeln, doch ihr Lächeln verrutschte zu einer heulenden Grimasse.

»Wahnsinnig sexy, Kate«, schnaubte er leise.

»Ach, sei still!«, murrte sie. »Frauen sind nicht sexy, wenn sie heulen. Und jeder Kerl, der das behauptet, ist ein Lügner!«

»Schuldig im Sinne der Anklage. Stell dir mal vor, du würdest Make-Up tragen!« Nick schüttelte sich. »Okay, den Preis für extrem unlustiges Verhalten geht dann wohl heute an mich.«

Kate löste sich von ihm, presste die Lippen zusammen und zwang sich zu einem halbgaren Lächeln.

»Heulend gefällst du mir besser. Alles andere wirkt fatal gequält«, sagte er.

»Ich finde, ich habe jedes Recht darauf, beschissen auszusehen«, gab Kate zurück.

Nick zuckte die Schultern. »Klar hast du das.«

Als müsse sich ihrer eigenen Worte gewahr werden, nickte Kate bekräftigend.

»Hey, ähm, mal was anderes«, begann Nick und nagte unbeholfen auf der Unterlippe, als überlege er, wie er den nächsten Satz beginnen solle. »Wann geht dein Flug?«

Kate rang nach Atem. »Nick, ich wusste nicht, ob du mit mir oder mit -«

Abwehrend hob er die Hände. »Dad hat mich angerufen, etwa zehn Minuten nach dir. Er will den nächstmöglichen Flug nehmen. Der wäre morgen, gegen acht Uhr, vielleicht auch früher. Mum, Dorian und David kommen nach, sobald es geht, also ... ich werde mit Dad fliegen, wenn es dir nichts -«

Noch während er sprach, spürte Nick, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Kate würde einer völlig verzweifelten Irmaline gegenüberstehen. Im selben Moment fragte er sich, ob er ihr eine Hilfe wäre, doch Kate langte nach ihm. Auch ihm war die Nachricht nahe gegangen. Kalt und schwitzig lagen ihr seine Finger in den Händen.

»Ich«, hob Kate an, »ich schaffe das schon. Ich muss funktionieren. Einer muss funktionieren und ich weiß wirklich nicht, wie Irmaline reagiert. Komm mit Bert, wie es euch möglich ist. Mach dir keine Gedanken. Und vielleicht gibt es ja sogar Rabatt, wenn eine zweite Leiche dazu kommt.«

»Kate, das ist makaber und geschmacklos!«, zischte er, doch Kate ließ nur ein Zucken der Schultern erkennen.
 

Tief durchatmend entstieg sie dem Taxi am LaGuardia Airport. Die Flüge zwischen Dayton und New York City waren ihr schon beinahe zur Gewohnheit geworden und von diesem Flughafen aus, gab es eine direkte Flugverbindung nach Hause. Wehmut stieg in ihr auf. Der Abschied von Nick fiel ihr, in Anbetracht der Situation, so schwer, dass sie glaubte, das Herz würde ihr ein weiteres Mal zerspringen. Beinahe hätte sie darum gebeten, dass er an ihrer Seite blieb, um ihrer Mutter Einhalt zu gebieten. Doch Irmaline würde jeden zerfleischen wie einen tollwütigen Terrier, unabhängig davon, wie nahe sie sich standen. Und die wenigen Besuche Nicks, in den letzten Jahren, waren den Wallace‘ ohnehin suspekt, auch wenn weder Albert noch Irmaline etwas dagegen vorbrachten oder ihre Zweifel äußerten. Bisher hatte Nick die Andersartigkeit der Kulturen vorschieben können, und nun den Verlust des Großvaters väterlicherseits. Kate schüttelte den Kopf, begab sich zur Sicherheitskontrolle und stellte sich dem Unausweichlichen: Das Warten auf den Flug.

Je näher sich Dayton auf der Anzeige in den Vordergrund rückte, desto schmerzlicher wurde ihr bewusst, dass kein Albert sie vom Flughafen abholte. Die Sitze neben ihr waren leer und Kate wünschte sich so sehr jemanden, der ihr in dieser schweren Zeit Halt gab. Nick hatte versprochen, sie zu informieren, wenn auch er in einen Flieger stieg. Und Kate konnte nicht einmal sagen, wie sich Bertram gerade schlug oder ob er bereits sein Beileid bekundet hatte.
 

Die Beine waren ihr wie Wackelpudding. Ihre Angst bewahrheitete sich, denn nicht einmal ein Nachbar wurde angehalten, sich ihrer anzunehmen.

»Du bist tapfer, du bist ein großes Mädchen«, sprach sie sich Mut zu und wurde mit jedem Schritt wieder zu dem kleinen Kind, das sich ohne Daddys Hilfe nicht hinauswagte. Statt einer Fahrt mit dem Taxi nahm Kate den Bus und betete für eine Panne, die ihr die Zeit bis zur Ankunft dehnen würde. Zu ihrem Leidwesen war der Bus zügig und beinahe pünktlich an allen Haltestellen.

Tief Atem schöpfend, bog Kate in die Straße ein, die ihr seit Kindertagen so vertraut war. Das Wetter war diesig und niemand zu erblicken. Als sie vor dem Haus zum Stehen kam, mit der weißen Fassade, den Rosenbüschen und dem leeren Platz auf der Einfahrt, denn offenbar hatte Albert das alte VW-Cabriolet in die Garage gefahren, glühte ihr die Kehle wie Feuer. Irritiert blinzelte Kate, denn die Haustür stand sperrangelweit auf. Sie vernahm Stimmengewirr, viele Stimmen, belehrende Stimmen, doch keine davon konnte sie ihrer Mutter zuordnen. Fast hoffte sie, dass Bertram es geschafft hatte, sofort nach dem Anruf aufzubrechen. Für Nick wohl eine unglückliche Situation, doch so wäre sie mit Irmaline nicht allein auf sich gestellt. Wieder sog sie die kalte Januarluft in ihre Lunge und betrat ihr Elternhaus.
 

In dem kleinen Flur begrüßten sie die Bilder der großen Ereignisse im Leben der Familie Wallace: Hochzeit, Kinder, Einschulungen, Ausflüge, College. Kate wandte sich ab, zu schmerzlich waren ihr die Erinnerungen an diese glücklichen Tage. Die Treppe zu ihrer Rechten, mit der knarrenden Verräterstufe, führte nach oben, zu den Schlafzimmern und zum geräumigen Bad. Kate ließ die kleine Reisetasche auf die erste Stufe fallen und wandte sich der Küche und dem Esszimmer zu.

Erste Kuchen und Aufläufe sammelten sich auf Tischen und Arbeitsplatten. Kate schluckte, trat ins Wohnzimmer und platze in eine Unterhaltung zweier Nachbarinnen, die erst nach einem Räuspern Kates, den Redefluss abrupt enden ließen.

»Kleine Kate!« Mariah Lanley warf die Hände in die Luft und stürzte auf sie zu. »Es tut mir so unendlich leid. Das alles kam so unglaublich plötzlich.«

Auch wenn Kate als Kind immer Angst vor der garstigen Misses Lanley gehabt hatte, glaubte sie in den Worten offene Bestürzung und aufrichtige Anteilnahme erkennen zu können. Die andere Dame, die Kate erst beim zweiten Hinsehen als Dolores Turner erkannte, erhob sich aus dem Hochlehner und hielt, leicht schwankend, auf sie zu. Fest und bestimmend langte die Frau nach ihren Händen, drückte sie jedoch umso sanfter.

»Tante Dolly«, schniefte Kate und wieder liefen ihr Tränen übers Gesicht. Wortlos drückte Dolores, die gut zwei Köpfe kleiner war als Kate, die Trauernde an sich.

»Er wird uns fehlen, Kate. Uns allen. Das weißt du«, wisperte die alte Dame und Kate nickte dankbar. »Irma ist draußen und staucht den alten Billy zusammen.«

»Er ist dein Mann, Dolores«, erhob Mariah die Stimme.

»Und er ist es gewohnt, wenn man etwas härter mit ihm ins Gericht geht. Apropos Gericht«, sagte Dolly, »der Kirschpie ist von mir.«

Langsam nickte Kate die Information ab.

Mariah, dem Anschein nach ihrer Freundin und Konkurrentin in nichts nachstehen wollend, mischte sich ein. »Den Tunfischauflauf habe ich gemacht. Keine große Sache, ich habe immer etwas im Haus, mit dem sich auf die Schnelle etwas zaubern lässt.«

»Vielen Dank, aber ... mir ist momentan nicht nach Essen zumute. Danke, Misses Lanley.« Kate zwang ihre Lippen zu einem Lächeln.

»Schon gut, Kindchen.« Dolores tätschelte ihr den Arm. »Hat dein Bruder vor, auch herzukommen?«

Kate zuckte kaum merklich. »Ja, ja, mit Familie.«

»Das ist gut. Eure Mutter kann jede Hilfe gebrauchen, die sie kriegen kann«, erklärte Misses Lanley.

Dolores zog Kate auf ihre Höhe herunter. »William und ich haben sie vom Krankenhaus abgeholt. Sie wirkte völlig neben sich, ich ... wenn ihr etwas braucht, kommt rüber, Kate. Wir helfen euch.«

»Danke«, flüsterte Kate und spürte wahrlich tiefe Dankbarkeit, zeitgleich wappnete sie sich für die erste Begegnung mit ihrer Mutter.
 

Die Sonne sank bereits nieder, als Kate den Mut fasste, nach ihrer Mutter zu suchen. Irmaline stand mit William Turner auf der Terrasse, die Hände in die Hüften gestemmt, während Bill genüsslich Pfeife paffte.

»Katy«, rief er, als er sie bemerkte und schloss sie, noch bevor Irmaline etwas sagen konnte, in eine innige Umarmung. Er ließ von ihr ab und Kate sah Tränen in seinen Augen schwimmen. »Es tut mir so leid, Katy.«

Von all dem Weinen und Nicken bekam Kate allmählich Kopfweh.

»Kate.« Sie zuckte zusammen, als sie den strengen Ton ihrer Mutter vernahm. Kate löste sich von Billy und wandte sich nach ihrer Mutter um. So barsch und streng der Ausspruch ihres Namens auch gewesen sein mochte, Irmaline wirkte erleichtert, als sie ihr Mädchen in die Arme zog.

»Mom«, wimmerte Kate erschöpft und beide Frauen weinten um Albert, um einander und um die Last, den Schmerz und die Trauer. Bill nickte ergeben, stopfte die Pfeife zurück in die Manteltasche und begab sich ins Wohnzimmer. Der Aufbruch des Trios erinnerte Irmaline daran, wie still das Haus sein würde. Sie klammerte sich an ihre Tochter, als könne sie so verhindern, dass ihr nächste Mensch genommen würde.

»Mom, au! Mom?« Kate wusste kaum, wie sie diesem beklemmenden Moment entkommen sollte. Alles roch noch nach ihrem Vater, als säße er seelenruhig in dem Sessel, den bis vor wenigen Augenblicken noch Mariah Lanley besetzte. Nur brüchig gelang es Irmaline, Kate von den Beileidsbekundungen der Nachbarn zu berichten, die dieses einsame Haus aufgesucht hatten. Die gesamte Straße war gekommen, denn die Nachricht über Alberts Tod hatte sich binnen weniger Stunden herumgesprochen. Irmalines erste Anlaufstelle waren die Turners. Wie oft hatten Albert und Bill philosophiert, während die Frauen ihren Kaffeeklatsch hielten und Ronson Turner Kate beim Spielen beinahe ein Auge mit der Zwille ausgeschossen hatte? Dolly war ihre älteste Freundin und engste Vertraute. Und die Turners waren es auch, die sich der benommenen Irmaline annahmen, sich mit ihr in ein Taxi setzen, während der Fahrer sie in das Heim zurückbrachte, indem Irmaline so viele Jahre mit Albert verbracht hatte.

Um nicht untätig zu sein, machten sich die Frauen daran, die Mitbringsel zu verstauen.

»Ich hätte ihnen sagen sollen, dass sie sich ihre verdammten Aufläufe sonst wohin stecken können!«, zischte Irmaline und hievte die letzten Reste in den randvollen Kühlschrank. Kate schnaufte entrüstet und brach dann in schallendes Gelächter aus. »Mom, also wirklich!«

»Das ist die Wahrheit, ob du sie hören willst oder nicht, Kate!«, schimpfte Irmaline. »Diese neugierigen Subjekte! Widerlich. Ah, sieh mal! Virginia Rosemont hat ihre berühmte Pie gebacken. Damit hatte sie den städtischen Wettbewerb gewonnen, erinnerst du dich?«

Kate grübelte. »Wann war das noch? 1995?«

»Ja, zum ersten Mal. Sie bäckt sie jedes verdammte Jahr aufs Neue und ständig nimmt sie diesen verdammten Preis mit nach Hause! Es ist eine Zumutung!« Irmaline warf die Hände in die Luft.

»Mom, du bist doch nur wütend, weil -« Es gelang ihr nicht, den Satz zu beenden, da der Blick ihrer Mutter mehr als deutlich sagte, Kate solle sich hüten, weiterzusprechen. Schnaubend schüttelte Kate den Kopf und warf den Pfannenwender in die Spüle.

»Andere bekommen nicht mal eine Chance! Bestechung ist das!«, zischte Irmaline. »Ich gebe keinen Pfifferling mehr auf diese Art der Darstellung! Und dann noch diese toupierten, fliederfarbenen Haare, die sie seit über dreißig Jahren trägt. Diese Frau ist 65!«

Kate ließ ein Zucken der Schultern erkennen. »Ich kenne Tante Ginny nur so. Also mit den toupierten, lila Haaren.«

Nun war es an Irmaline, frustriert zu schnaufen. Sie warf einen Blick über die Schulter ins Wohnzimmer, presste krampfhaft die Lippen aufeinander. Kate konnte den tonnenschweren Kloß in ihrem Hals und den Brocken, der Irmaline auf dem Herzen saß, förmlich spüren.

»Was mache ich denn jetzt?« Selten hatte Kate ihre starke, matriarchalische Mutter in einer solchen Verfassung erlebt. Als Großmutter Hannah verschied, war Irmaline beängstigend gefasst. Sie hatte den Leidensweg der eigenen Mutter erlebt, sich um die Beerdigung gekümmert, während Onkel und Tanten sie stumm und tatenlos walten ließen. Und jetzt war ihr das Leben erneut zerbrochen.
 

Zu realisieren und zu akzeptieren, dass Albert nicht mehr bei ihnen war, fiel ihr unsagbar schwer. Träge schleppte sich Kate die Stufen ins obere Stockwerk hinauf. Die Beine waren ihr wie Blei. Ein paar Mal war ihr die Reisetasche aus den klammen Fingern gerutscht. Sie war zu müde, zu erschöpft, zu traurig, um den derben Flüchen nachzugeben, die sich ihr auf die Zunge legten. Irmaline hatte sich vor wenigen Minuten ins elterliche Schlafzimmer zurückgezogen. Wieder sammelten sich Tränen, die Kate ungehindert wallen ließ. Wie ein getretener, altersschwacher Hund schleifte sie sich und ihre Tasche in das Jugendzimmer. Sie verspürte nicht einmal den Drang, sich zu waschen, und doch stemmte sie sich vom Bett auf und trabte langsam über den kurzen Flur ins Bad, das sie sich einst mit Bertram hatte teilen müssen.

Der Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sie ihre Gefühle noch nie hatte im Zaum halten können. Rote Punkte auf den fahlen Wangen, dunkle Ringe unter den Augen, deren grüne Färbung sie eher an ein altes, welkes Blatt erinnerte. Wie sollte sie ihrer Mutter beistehen? Kate schöpfte sich einen Schwall lauwarmes Wasser ins Gesicht, putzte sich in raschen Zügen die Zähne und schlich in ihr Zimmer zurück.

Als sie Irmaline auf ihrem Bett ausmachte, ließ Kate die Schultern hängen. Wie oft war sie früher zu ihren Eltern ins Schlafzimmer geschlichen oder hatte aus Angst vor bösen Gestalten, auf dem Treppenpodest gehockt und so bitterlich geweint, bis sich einer von beiden erbarmte, das verängstigte Kind zu sich zu holen? Irgendwann ließen die nächtlichen Eskapaden nach. Ihr Kind wurde älter, doch der große Plüschbär, der stets die andere Hälfte des Bettes füllte, blieb, bis Kate zwölf Jahre alt war und Bertram das Haus verließ.

»Ich kann das nicht«, sagte Irmaline leise und besah sich den Flecken Nagellack, den Kate mit 14 Jahren verursacht hatte. GlimmerBlue hatte sich dieser grässliche Farbton geschimpft und war nur ein Jahr später wieder aus dem Sortiment des örtlichen Drugstores verschwunden. Doch die Überbleibsel der Ungeschicklichkeit Kates fraßen sich wie Säure in den teuren Teppich, den das Mädchen unbedingt hatte haben wollen. Von all den Puppen und Plüschtieren war ihr nicht viel geblieben. Nur noch vereinzelte Liebhaberstücke verweilten auf oder in den Schränken. Irmaline gab ein bebendes Seufzen von sich.

Kate neigte den Kopf. »Willst du die Wand?«

Irmaline ließ ein knappes Nicken erkennen und drängte sich an die Stelle. Kate schlüpfte zu ihr unter die Decke und zuckte kaum merklich, als Irmaline ihr eine Strähne aus dem Gesicht strich. Sie nahm ihr Kind in die Arme und wieder flossen ihnen stumme Tränen von den Wangen, die nur von vereinzelten Schluchzern unterbrochen wurden. Keine der Frauen tat in dieser Nacht ein Auge zu.
 

Schrill erklang das Telefon von unten herauf. Japsend und ächzend versuchte Irmaline, Leben in ihre steifen Glieder zu bringen.

»Dieses Bett ist eine Zumutung!«, zischte sie und strich sich über den lädierten Rücken, krümmte und streckte sich, ehe sie an das Fußende der schmalen Liege robbte und ihre nackten Fußsohlen den abgetretenen Teppichbelag berührten. »Wieso hast du uns nie gesagt, dass dieses Bett die reinste Folter ist? Meine Hüfte bringt mich um!«

Kate entließ ein empörtes Schnauben. »Für die paar Male ging es ... eigentlich.«

»Dieses Telefon nervt!«, fauchte Irmaline und ließ ihre Tochter, ohne den Wunsch eines guten Morgens, zurück.

Kate begab sich ins Bad und besah sich die Überreste einer der schlimmsten Nächte, die sie je in ihrem Leben hinter sich gebracht hatte. Wie vor wenigen Stunden erst, begnügte sie sich mit ein wenig Wasser im Gesicht und der eher halbherzigen Reinigung der Zähne und verzog sich dann wieder in ihr Zimmer. In dem alten Kleiderschrank fand sie eine Stoffhose und einen Pullover. Fahrig fuhr sie mit den Fingern durch das schlaffe Haar und band es im Nacken zu einem nachlässigen Knoten. Sie wusste nicht, was ihnen der Tag bringen würde. Doch es galt eine Liste zu erstellen, Besorgungen zu machen und Absprachen zu treffen. Und noch immer hatte sich Irmaline geweigert, ihr den genauen Zeitpunkt und die Ursache für Alberts Ableben zu berichten. Vermutlich, so Kates Gedanke, würde sie erst mit der Sprache herausrücken, wenn Bertram eingetroffen war. So vermied Irmaline, dass die Welle an Emotionen ein weiteres Mal über ihr zusammenschlug.

Kate fand ihre Mutter im Wohnzimmer. Irmaline hatte die Türen zur Veranda geöffnet und ließ die kalte, morgendliche Januarluft durch das Zimmer wehen. Sie wandte sich der Kaffeemaschine zu, brühte sich eine Tasse und kämpfte mit dem Kühlschrank auf der Suche nach Milch. Die Hände an dem Becher wärmend, trat Kate auf ihre Mutter zu.

»Bertram ist gegen zehn Uhr hier. Er bringt den Jungen mit«, verkündete Irmaline knapp. Kate nickte verstehend. Sie versuchte, die Gefühle, die in ihr aufbegehrten, auszuloten, doch es gelang ihr nicht. Freude rang mit unendlicher Trauer, während Wut die Angst schürte und die Erleichterung, all das vielleicht nicht allein mit Irmaline überstehen zu müssen, sich zu den Zweifeln verkroch. Kate sah zu der großen Standuhr neben dem Sofa. Die Zeiger krochen auf halb sechs zu. In weniger als einer Stunde säße Bert mit Nick im Flieger.
 

Bertram Wallace, nun mehr seit über zwanzig Jahren den Nachnamen Stratford tragend, war schon immer ein Verfechter von Ordnung und Pünktlichkeit. Dass es seine Söhne nicht so genau damit nahmen, hatte ihn nicht selten in Rage gebracht, und doch war er umso verblüffter, als er Nick am Gate ausmachte, um mit ihm die Reise fortzusetzen. Er hatte sich einen Leihwagen genommen und scheuchte das Gefährt über die nassen, matschigen Straßen Daytons. Noch nie hatte Nick seinen Vater in einer solchen Verfassung gesehen. Bertram war schweigsam und ruhig, doch seit Nick ihn begrüßt hatte, plapperte Bertram wie ein Wasserfall, dass es selbst ihm allmählich zu viel damit wurde. Den Jahren auf der britischen Insel zum Trotz jagte Bert den Wagen durch die Stadt, dass es Nick beinahe mit der Angst bekam. Bertram hatte nichts von seinen Fahrkünsten eingebüßt, und ob nun Links- oder Rechtsverkehr, er lotste den Mietwagen in die Auffahrt, als habe er nie etwas anderes gemacht. Skeptisch blickte Nick neben sich. Berts Finger krallten sich um das abgegriffene Lenkrad und es schien eine Ewigkeit zu dauern, dass sich sein Vater dazu im Stande sah, aus dem Auto zu steigen. Nick schnallte sich ab, streckte die Hand nach dem Türgriff aus und ließ kalte Luft ins Wageninnere strömen. Er vernahm, wie Bertram tief einatmete, als müsse er sich zur Ruhe mahnen, die ihm zuvor abhandengekommen war. Als wappne er sich für die Attacke jener Frau, die er vor Jahren verlassen hatte. Wie würde Irmaline reagieren? Er war nie ein Freund von offenen Gefühlsbekundungen, hatte Probleme damit, Menschen, die ihm nahestanden, Trost zu spenden. Dennoch fraß sich eine Leere durch das, was er selbst als Herz beschrieb. Nur vier Mal erst hatte er sich dazu hinreißen lassen, Gefühlen den Vorzug zu geben:

Bei der Geburt der beiden jüngsten Söhne, der Heirat mit Sarah und Nicks überraschendem Verkünden, nach New York City zu ziehen.

Waren die ersten drei Ereignisse von einem freudigen Zucken der Mundwinkel und dem Anschein von glitzernden Tränen in den Augenwinkeln begleitet, war ihm die Zornesröte vom Hals aufwärts in die Wangen gefahren und die Stimme, zum ersten Mal, erhoben, sobald die zukünftigen Pläne des zweiten Sprosses an seine Ohren gelangten.

»Dad?« Noch immer verharrten Nicks Finger um den Türgriff.

»Alles gut, Nicky, alles gut.« Mit diesen Worten stellte er sich dem Unvermeidbaren.
 

Zur emotionalen Unterstützung hatten sich Dolly und Bill bei den Wallace‘ eingefunden. Als es um kurz nach zehn schellte, warf Kate einen Blick auf die Uhr am Herd und wetzte nach rechts, den kleinen Flur hinauf, um den neuen Besuchern die Tür zu öffnen. Bertram fand kaum die Zeit, sich zu orientieren, als Kate sich ihm schon an den Hals warf. Die Bäche, die ihr von den Wangen liefen, tropften ihm auf den wollenen Mantel. Kate sah zu ihm auf und entdeckte tatsächlich einen Anflug von Schmerz und Trauer auf seinem Gesicht. Bertram sah aus, als habe auch er sich die Nacht um die Ohren geschlagen. Kate ließ von ihm ab und Bert begab sich, unter stocksteifen Schritten, ins Wohnzimmer. Sie sah ihrem Bruder nach und erschrak, als jemand nach ihrer warmen Hand langte.

»Hey.« Kälte ging mit der Berührung einher, doch ihr wundes Herz tat einen kleinen Hüpfer. Sie wandte sich zu Nick um. Die Mundwinkel bekümmert und doch erleichtert zuckend.

»Hey«, hauchte sie und ließ sich in die Umarmung sinken, die Nick ihr schenkte. Ihre Finger krallten sich in den widerspenstigen Stoff seines dunklen Parkers. Kate legte ihm ihre Stirn an die Schulter und seufzte wimmernd. Als sie sich von ihm löste, kamen beide in einem flüchtigen Kuss überein. Nirgendwo gab es einen Schützengraben, in den sie sich flüchten konnten. Die nächsten Tage bedeuteten den unweigerlichen Tanz auf dem Vulkan.
 

Vage entsann sich Bertram den Nachbarn, die ihn unter staunenden Blicken begrüßten. Obschon die Turners um den Besuch des ältesten Sprosses wussten, begegnete Bertram ihnen mit reservierter Haltung. Das Eis brach, als Dolly ihm versicherte, früher auf ihn aufgepasst zu haben und dass es Bill war, der mit ihm das Baumhaus im Garten der Turners gebaut hatte, noch bevor Ronson und Jameson auf der Welt waren. Er hatte es kommen sehen, dass Irmaline ganz in ihrem Verlust aufging. Sie hing ihm am Arm und ließ nur selten zu, dass er sich einen Schluck des kalten Kaffees genehmigte. Nick hatte man neben William platziert, der dann und wann nach draußen ging, um Pfeife zu rauchen. Nach dem knappen Wiedersehen war es, gemäß Dolores‘ Worten, an der Zeit, zum Aufbruch.

Mühsam war Kate in eine alte Jeans geschlüpft, hatte sich einen dunklen Kapuzenpulli übergestreift und zog gerade den Reißverschluss ihrer Stiefel zu, als Irmaline nach ihrem Wintermantel griff. Kate spürte den Blick ihrer Mutter auf sich.

Irmaline leckte sich die trockenen Lippen. »Wir werden noch etwas zum Anziehen brauchen.«

Kate sah auf und hatte mit dem Bekritteln ihres Erscheinungsbildes gerechnet. Stattdessen schien Irmaline zu erschöpft, um sich über ihre Kinder zu beschweren. Schwach nickte Kate ihre Worte ab.

In Bertrams Leihwagen rutschten Kate und Irmaline auf die Rückbank, während die Turners ihr Auto aus der Garage fuhren. Der kleine Tross begab sich zum örtlichen Beerdigungsinstitut, um alles für die bevorstehende Beisetzung zu besprechen.

»Sarah und die Jungs kommen in vier Stunden«, verkündete Bertram beiläufig, während er den Wagen in die Wayne Avenue lenkte. Das Westbrock Funeral Home glich einem alten Herrenhaus im Second Empire-Stil aus dem 19. Jahrhundert, wie es weiß und strahlend auf dem kleinen Hügel thronte. Statt sich die großen, beigefarbenen Stufen emporzuquälen, fuhr Bertram die Auffahrt hinauf bis zur Eingangstür und William tat es ihm gleich.
 

Kates Erinnerungen an den weiteren Ablauf der nächsten Tage waren ihr wie ein Schleier. Verschwommene Gesichter, der Zwist über das Blumenarrangement, ob der Sarg für das Showing am Donnerstag offen oder geschlossen sein solle, welche Musik gespielt werden würde. Nur weniges blieb ihr haften. Die vielen Menschen, die lauten Stimmen. Letztendlich waren die Entscheidungen gemeinsam getroffen, sowohl was die Musik als auch die Blumen und alles Weitere anbelangte, auch wenn ihr die Stunden zäh und zermürbend waren.

Sobald sie wieder im Auto saßen, wies Irmaline ihren Jungen an, sie nach Beavercreek, in die Magnolia Lane zu bringen. Zähneknirschend kam Bertram dem Wunsch seiner Mutter nach. William und Dolores hatten sich auf den Nachmittag verabschiedet, sodass ihnen noch ein paar Stunden blieben, bis Bertrams bessere Hälfte mit den Brüdern anreiste.

Da auch Nick sich nicht dem Kauf eines Anzugs, inklusive Schuhe, Hemd und Krawatte, entziehen konnte, blieb Bertram keine andere Möglichkeit, als sich zu ergeben. In einer gesonderten Abteilung des Kaufhauses Von Maur, überließ man sie den vertrauensvollen Händen des kundigen Fachpersonals. Mit jedem Kleid, in das Kate sich zwängte, wurde ihr die Tatsache bewusst, dass sie sich nie wieder in Alberts Arme würde flüchten können. Kalte Einsamkeit überkam sie. Die Knie wurden ihr weich und sie sackte auf dem fliederfarbenen Pouf zusammen, der als Sitzgelegenheit vor ihrer Kabine diente. Für das Showing hatte sie ein knielanges, langärmliges, schlichtes Kleid mit U-Boot Ausschnitt gewählt. Die Falten des Rocks erinnerten an ein Petticoat, jedoch ohne die opulente Fülle eines Unterrocks. Am Tag der Beerdigung würde auch sie einen Blazer mit dazu passender Hose tragen. Obschon es ihr letztendlich und beinahe egal wäre, was sie am Leib trug, denn plötzlich waren ihr Dinge wie Kleidung, Frisuren oder Make-up völlig banal, unwichtig und dumm.

»Kate?« Sie wandte sich um. Bertram stand hinter ihr und zerrte an der Krawatte. Ein mildes Lächeln umspielte ihre Lippen. Kate erhob sich von dem samtenen Hocker und strich ihm überflüssig die nicht vorhandenen Flusen vom Jackett.

»Es tut mir so leid, Kate«, fuhr Bertram fort, machte jedoch keinerlei Anstalten, sie in den Arm zu nehmen. Kate sah zu ihm auf. Immer schon hatte sie zu ihm aufgesehen. Doch die Zeiten der Bewunderungen waren dem Gram gewichen. Beide waren sie geflohen, doch Kate hatte ihre Wurzeln nicht kappen wollen. Distanz half, auch wenn es Irmaline gewesen war, die nicht nur ihm, sondern auch ihr zugesetzt hatte.

Sie blieb ihm eine Antwort schuldig, ließ sich stattdessen zu einem Zucken der Schultern herab. Die Lippen fest aufeinandergepresst, suchte und fand sie tatsächlich einen Fussel auf dem schwarzen Stoff, der sie faszinierte und an dem sie zupfen konnte.

»Hat Mom dir erzählt, wie es passiert ist?« Kate hob den Kopf. Bertram wich ihrem Blick aus, als schäme er sich, das Gespräch auf dieses Thema zu lenken.

»Nein«, sagte sie und ließ von ihm ab. Solle er doch mit einem Stoffpopel herumlaufen! »Aber ich wette, sie hat dir -«

Sein Schnauben ließ sie in ihrer Wutrede innehalten. »Kein Ton, nicht ein – bitte entschuldge – nicht ein Sterbenswörtchen.«

»Sie hält sich zurück, bis sich alles und jeder eingefunden hat. Oder aber sie überlässt es dem Prediger«, schlussfolgerte Kate und war beinahe enttäuscht, dass Irmaline noch nicht einmal ihren einzigen Sohn über die letzten Stunden seines Vaters aufklären wollte. Bert zeigte sich nicht zufrieden.

»Dad? Die Frau mit dem Maßband will noch einmal prüfen, ob alles passt.« Bertram warf einen Blick über die Schulter. Es gelang ihm, wenngleich auch ohne Absicht, Kate davon abzuhalten, sich nach Nick umzusehen. Sie schüttelte den Kopf und schlüpfte wieder in die Kabine. Verkrampft bog sie den Rücken durch, um an diesen vermaledeiten Reißverschluss zu gelangen, ein Unterfangen, das einem Kraftakt glich. Endlich war der Verschluss halb offen, da wurde der Vorhang zur Seite gezerrt.

»Nick! Verdammt, bist du wahnsinnig?«, zischte sie erschrocken und bedeckte ihre Blöße mit den Händen. Er neigte den Kopf und betrachtete die halbnackte Frau vor sich. Der dunkle Stoff knäuelte sich um ihre Hüften und wie so häufig passte der BH nicht zum Rest ihres Dresses.

»Sorry«, formte er wortlos. Rasch langte er nach ihr, umschlang sie mit beiden Armen und drückte sie gegen den mannshohen Spiegel, der gefährlich wackelnd protestierte, ehe Nick ihr die Lippen auf den Mund presste. Ihre Gegenwehr fiel ins Bodenlose, sobald sie auf diese Art zusammentrafen. Er ließ ihr nicht eine Sekunde, um über seine Missetat nachzudenken, und lenkte seine Zunge zielgerichtet über ihre bebenden Lippen, die sich, ohne ihm Paroli zu bieten, teilten und ihm Einlass gewehrten. So gern sie sich dem warmen Wollen ergab, war es dieses kalte Prickeln, das sie wieder zu Verstand zwang.

»Nick. Nick!«, fauchte sie und schob ihn halbherzig von sich. »Wie schamlos und niederträchtig von dir, sich an eine wehrlose Frau heranzuschleichen und ihre Schwäche in einer verletzlichen Phase ihres Lebens so auszunutzen!«

Nick verdrehte die Augen, ließ sie schimpfen und sich über sein unangebrachtes Verhalten echauffieren. Tief rang er nach Luft und legte ihr einen Finger auf die Lippen. Kate ließ sich jedoch ungern den Mund verbieten, vor allem dann nicht, wenn sie sich in einer solch fatalen Situation befand. Wäre von ihrer Familie weit und breit nichts zu sehen, hätte sie sich vielleicht zu einer wilden Knutscherei in der Umkleidekabine hinreißen lassen, doch Irmaline streifte noch immer durch die Reihen an Kleidern und Bertrams erneutes Erscheinen ließe sicherlich auch nicht mehr lang auf sich warten.

»Wir sind noch nicht fertig, Lady«, knurrte er und beobachtete sie mit geschmälertem Blick.

Kate wimmerte verzweifelt. »Wegen dir habe ich jetzt ein feuchtes Höschen. Aber ich will kein feuchtes Höschen!«, legte sie schimpfend nach.

Seine Lippen, die nicht weniger prickelten, als die ihren, bogen sich zu einem schelmischen Grinsen. »Ich hätte dich gern feucht und ohne Höschen, aber man kann nicht alles haben.«

»Ich weiß gerade nicht, ob ich vor Scham rot anlaufen soll oder ob ich dich nicht lieber gleich der Kabine verweise!« Mehr schlecht als recht zerrte Kate den Stoff des Kleides wieder ihren Leib hinauf. »Husch!«

Nick schnaubte, schüttelte den Kopf und entschlüpfte gerade noch rechtzeitig der Kabine, denn die Beraterin lugte nur wenige Augenblicke später durch den Vorhang, um sich Kates Zufriedenheit zu versichern.
 

Bertram zog mit der Familie in ein Hotel in der Nähe. Er wolle Irmaline nicht zur Last fallen, immerhin wäre das Haus für sieben Personen plus, minus ein paar Nachbarn wohl merklich überfüllt. Sarah ließ es sich nicht nehmen, den Trauernden ihr Beileid auszusprechen. Sie war mit ihren Jungs pünktlich zum Nachmittagskaffee erschienen. Während sich David und Dorian an den Aufläufen und Pies gütlich taten, schien der dritte im Bunde kaum zu wissen, wohin mit sich und dieser mehr als merkwürdigen Situation.

Kate war, als liefe der Geschirrspüler ununterbrochen. Ständig waren Teller, Tassen und Gläser in Gebrauch. Irgendjemand wollte immer irgendetwas. Und ihr hing der Magen seit Stunden in den Kniekehlen, doch würgte sie jeden Bissen, den sie zu sich nahm, quälend langsam herunter. Noch gab es Besorgungen zu erledigen. Diese würden auf den morgigen Tag verlegt, da der Donnerstag ganz im Zeichen des Showing stand. Das Beerdigungsinstitut verlangte nach Kleidung für Albert, Fotos und würde sorgsam alles herrichten, um den Verbliebenen die Stunden erträglicher zu gestalten.

Am Mittwoch erst fand Kate die Zeit, sich bei ihren Kolleginnen zu melden. Sie schrieb in die Gruppe des Messengerdienstes, wie ihr die letzten Tage verlaufen waren, und erhielt binnen weniger Sekunden Worte der Aufmunterung. Zu ihrer Überraschung sollte sie am Donnerstag Blumen ihrer Kollegen und der Kolleginnen vorfinden, die das Westbrock Funeral Home dekorativ arrangiert hatte.

Doch noch lag sie sich mit Irmaline in den Haaren, denn diese beharrte darauf, dass sich Kate endlich unter die Dusche stellte, da sie bereits die Nachbarshunde anlocke. Widerwillig ergab sich Kate der drängenden Bitte und blieb, bis ihr die Haut krebsrot und die Fingerkuppen schrumpelig waren, unter dem heißen Wasserstrahl. Zeit, um zu Reden und Zeit, um zu Trauern, blieb ihnen nur in den späten Stunden. So zeigte sich Irmaline am Abend erst bereit, ihren Kindern von den Geschehnissen zu berichten, die mit Alberts Ableben einhergegangen waren. Hatte man sich zum Jahreswechsel noch die besten Wünsche zukommen lassen, wurde ihm dieser grässliche Husten zur reinsten Plage. Nur unter Irmalines strengen Blick habe sich Albert am vergangenen Freitag bereiterklärt, ins Krankenhaus zu fahren. Dass er das Hospital nicht mehr verlassen sollte, legte sich wie ein Schatten über die Anwesenden. Man hatte ihm eine leichte Lungenentzündung diagnostiziert. Bald schon wäre er wieder auf dem Damm, denn die Ärzte sahen sich durchaus in der Lage, sich seinem Krankheitsbild anzunehmen. Die Dramatik entfaltete sich erst, als ihm die Lunge kollabierte, er Blut hustete und man ihn nur zwei Tage später an Schläuchen legte, intubierte und einer künstlichen Beatmung unterzog. Das, was sich den Ärzten im Nachhinein und auf den Röntgenbildern zeigte, war ein kleines Blutgerinnsel, das ihm die letzten Stunden zur Qual gemacht hatte. Irmaline war bei ihm, sah sein Leid und das Leben, wie aus ihm wich.

Beklommene Stille senkte sich über die Gäste. William fiel es schwer, seinen Gefühlen Einhalt zu gebieten. Er klammerte sich an Kates Hand, die keinerlei Schmerz verspürte. Alles war ihr kalt und taub und doch auf beängstigende Weise klar und deutlich.

»Natürlich hatte Doktor Martin ihn auf den Kopf und wieder auf die Beine gestellt«, sagte Irmaline und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Es ging ihm gut, für eine Weile. Und unsere Hoffnung auf Besserung schien erhört worden zu sein. Aber letztendlich kommt nicht einmal der stärkste Mann gegen diese Form der Gewalt an. Man ist so ... machtlos. Hilflos. Und letztendlich ist es eine verschleppte Lungenentzündung mit einer Embolie.«

Sarah, die links neben Kate saß, hatte sich bei ihr untergehakt und prustete schniefend in ein Taschentuch.
 

Der Donnerstag zeigte sich kühl und frisch. Noch immer bedeckte Schnee die Dächer und das Fegen und Kratzen von Schneeschiebern durchbrach die friedvolle Stille. Kate lehnte im Rahmen zur Eingangstür, klammerte sich an die dampfende Tasse Kaffee und beobachtete ein paar Vögel dabei, wie sie versuchten, auf dem rutschigen Boden Nahrung zu finden. Kummer machte ihr das Herz schwer und würde Irmaline weiterhin darauf bestehen, das Bett mit ihr zu teilen, zöge sie freiwillig ins Wohnzimmer auf die alte Couch. Die offizielle Verabschiedung ihres Vaters war für siebzehn Uhr anberaumt. In gut und gern zwölf Stunden würde sie weiterhin versuchen, tapfer zu sein. Etwa zwei Stunden vorher sollte sich die Familie im Bestattungshaus einfinden, um Albert im Stillen zu gedenken. Am Freitag bliebe es bei einer überschaubaren Menge an teilnehmenden Trauergästen. Nichtsdestoweniger käme dann die gesamte Nachbarschaft in dieses Haus, um den Angehörigen abermals Kuchen und Gratins zu bringen und ihnen Trost zu spenden. Auf ein formelles Essengehen hatte Irmaline von vornherein verzichtet. Auf was ihre Mutter allerdings bestand, war, dass Kate gegen Mittag nochmals duschte, denn Irmaline hatte in ihrem Lieblingsfriseurstudio darum geben, dass Henrietta Lynch, ihre Friseurin, zu ihnen nach Hause käme, um den Frauen die Haare zu machen. Sarah hatte sich erst geziert, sich dann aber von Dolly Turner dazu überreden lassen, diesem Zusammentreffen beizuwohnen.

Da sich Henrietta Lynch nicht nur auf Frisuren, sondern auch auf Make-up verstand, würde sie sich wohl oder übel an Kate die Zähne ausbeißen. Trotz ihres Alters schwang Etta Lynch Schere, Kamm und Pinsel und sorgte so für ein ansprechendes Äußeres der Damen. Etta schnitt Kates Haare zurecht, schlang es zu einem Knoten, den sie mit einer Spange feststeckte. Sie zupfte hier an ihrem Pony, dort pustete sie ihr das Puder von den Wangen. Obschon sie sich weigerte, zeigte sich Kate von der Kunst und dem Ergebnis Etta Lynchs begeisterter als sie in diesem Moment zugab. Nach und nach schaffte es Etta, ihr Pensum abzuarbeiten. Sie versprach, sich am Abend im Bestattungshaus blicken zu lassen und käme am nächsten Tag vorbei, um den Frauen abermals unter die Arme zu greifen.

Kate sank auf die Matratze, räufelte die Strumpfhose auf und streifte sie sich über Füße und Beine, als Sarah den Kopf ins Zimmer steckte. Kate erhob sich, zupfte das Nylongemisch zurecht, ehe sie sich das dunkle Hemdchen über den Kopf zog.

»Kate? Kannst du mir mit meinem Kleid helfen? Bitte. Bert ist noch nicht da und ich glaube, ich bekomme gerade rasende Kopfschmerzen«, erklärte Sarah, stahl ins Zimmer und wandte ihr den Rücken zu. Kate nahm sich des Reißverschlusses an und schloss den kleinen Knopf im Nacken.

»Danke«, seufzte Sarah erleichtert und wandte sich zu ihr um. »Soll ich dir mit deinem Kleid helfen?«

Ein Gefühl, als boxe ihr ein Yeti in den Bauch, breitete sich ihr in der Magengrube aus, dennoch nahm Kate das Angebot dankend an.
 

Irmaline ließ sich von Dolores und William nach Walnut Hills, ins Bestattungsinstitut bringen. Kate solle ihnen mit Sarah und dem alten VW-Cabriolet folgen. Da sie sich nicht in der Lage sah, mit Absatzschuhen zu fahren, war sie kurzer Hand in ihre Stiefel geschlüpft und trottete nun mehr hinter William her. Ein Einweiser wurde abgestellt, um den Besuchern die Parkmöglichkeiten zu zeigen. Kate rollte den Wagen rückwärts in die Lücke und stieg aus. Sarah tat es ihr gleich. Kate sah die Erleichterung in Sarahs Gesicht, als Bertram mit den Jungs eintraf. Viele Worte hatte Kate noch nie mit der Frau ihres Bruders wechseln können. Vielleicht war es den Kulturen geschuldet, dem Alter oder aber der Tatsache, dass Kate mit ihrem Sohn über Monate hinweg eine Beziehung führte, von der niemand der Anwesenden etwas ahnte.

Für einen winzigen Moment gönnte sich Kate Ablenkung von all dem Trubel. Sie labte sich an dem Anblick, der sich ihr bot, denn ob sie es zugeben wollte, oder nicht, Männer in Anzügen übten schon immer eine Anziehung auf sie aus. Anzüge wirkten formell, zeugten von Anstand, Intelligenz und einer gewissen Coolness, derer sie sich nur schwer entziehen konnte. Kate spürte, wie sich ihre Zähne in die Unterlippe gruben, sobald sich Nick in ihr Blickfeld schob.

»Reiß dich zusammen!«, knurrte sie und entließ ihre malträtierte Lippe aus der Folter. »Dein Vater liegt da drinnen aufgebahrt.«

Kate schüttelte den Gedanken ab, Nick überreden zu wollen, öfter einen Anzug zu tragen und zu ihrem großen Bedauern hatte er sich rasiert. Eine Tatsache, die seine Attraktivität nur minimal schmälerte, dennoch würde sie ein ernstes Wort mit ihm reden müssen. Wieder musste sie sich zwingen, bei klarem Verstand zu bleiben. Wenn sie weiterhin auf ihrer Lippe herumkaute, würde Etta Lynch sie wahrhaftig lynchen, denn von dem Lippenstift bliebe dann nicht mehr viel übrig!

Bertram hielt ihnen die Tür auf und blieb, bis auch der Letzte den Vorraum betreten hatte. Sie wurden, wie am Dienstag bereits, von Mister Barrett in Empfang genommen. Als Nick Kate dabei zusah, wie sie mit ihrer Mutter und Bertram auf den Angestellten zuging, war ihm, als sähe er die schönste Frau der Welt. Das blonde Haar zu einem Knoten im Nacken gesteckt, die üppige Rundung ihres Hinterns von dem Rock verdeckt, einzig die Stiefel wollten nicht mit ihrem restlichen Outfit harmonieren. Geschlossen klagte das Trio über die Katzenmusik, die aus den Lautsprechern dröhnte.

»Was soll dieses Orgelgepfeife?«, schnarrte Irmaline unumwunden. »Haben Ihnen meine Kinder nicht eine CD mit Liedern übergeben?«

Bei diesen Worten krampfte sich Kates Magen zusammen und beinahe hätte sie sich erbrochen.

»Das war ein USB-Stick, Mom«, fügte Bertram an.

Irmaline reckte das Kinn. »Mein Mann war zwar in der Kirche, vielleicht nicht sooft, wie die Leute denken, aber das bedeutet nicht, dass Sie uns in den nächsten Stunden noch mehr Qualen bereiten müssen. Albert hatte einen vortrefflichen Musikgeschmack. Wenn Sie so freundlich wären?«

Mister Barrett nickte verstehend, entschuldigte sich umgehend für die Unannehmlichkeit und wies einen Mitarbeiter an, die Musik von dem Datenstick abzuspielen. Die Familie lauschte.

»ACDC?« Bertrams tiefes Lachen hallte von den Wänden des Vorraumes wider. »Highway to hell?«

»Dad hätte es gefallen«, murrte Kate.

»Natürlich hätte es das«, pflichtete Irmaline ihr bei.

»Wie viele Stunden Musik hast du raufgespielt?«, fragte Bertram an seine Schwester gewandt.

»Musik für etwa acht Stunden«, antwortete Kate und spürte den Druck von Irmalines Fingern um ihren Arm.

»Das ist mein Mädchen«, sagte Irmaline stolz, ehe ihr Blick auf das Schuhwerk ihrer Tochter fiel. »Kate! Stiefel?«

Diese sah an sich herab. »O, Shit! Entschuldigung. Ich bin gleich wieder da.«

Kate schob sich an Dolly und David vorbei und hetzte ins Freie.
 

Der Gang zum Sarg fiel ihnen unheimlich schwer. Gestützt von ihren Kindern watete Irmaline wie durch zähen Morast. Langsam ließ sie ihre Finger über das lackierte Holz gleiten. Die Familie hatte beschlossen, den Sarg geschlossen zu halten. Irmaline wollte sich, ihren Kindern und allen anderen den Anblick eines Mannes ersparen, den niemand von ihnen wiederkennen würde. Zwar gaben sich die Bestatter große Mühe, doch Irmaline wollte, dass jeder ihren Albert so in Erinnerung behielt, wie man ihn zuletzt gesehen und erlebt hatte. Sie wollte keine tiefgefrorene Schaufensterpuppe, die ihrem Mann in keinster Weise ähnlich sah. Kates Blick fiel auf das große Foto, das auf einer Art Staffelei gestellt, ihren Vater mit freundlichem Lächeln zeigte.

Wehmut zupfte an ihren Lippen und wieder liefen ihr stumme Tränen über die Wangen. Etta Lynch würde ihr wirklich den Kopf abreißen. Zu ihrer und Ettas Sicherheit hatte Kate auf Eyeliner und Mascara verzichtet, denn es wäre ihr wohl sicherlich möglich, selbst die wasserfeste Variante in die Knie zu zwingen. Nach und nach folgten die anderen Familienmitglieder, während Alberts Lieblingsmusik erklang und sogar für einige Lacher sorgte.

Es war ihnen kaum begreiflich, dass die Zeit rasendschnell voranschritt. Gegen halb fünf trafen andere Trauernde ein. Irmaline entließ den verunsicherten Mitarbeiter aus der Pflicht, die wartende Schaar davon abzuhalten, das Haus zu betreten.

»Wir haben uns verabschiedet, mein Junge. Lassen Sie die Gäste eintreten«, sagte sie ihm und er nahm sich ihrem Wunsch an.

So viele Menschen waren gekommen, um Albert Henry Wallace, dem Mann, Vater und Großvater, Onkel, Kollegen, Nachbarn, Freund zu gedenken. Die Gesichter verschwammen ihr vor den Augen und Kate gab es auf, die Seelen zu zählen, die in den Raum strömten. Sie spürte nur, wie ihr die Beine allmählich schwerer wurden und ihr der Magen rebellierte. Sie hatte sich an die rechte Seite des Sarges begeben, neben einer Reihe weiterer Bilder, die ihren Vater in Kindertagen, in der Jugend, als Ehemann und Vater zeigten. Kleenexboxen waren zu jeder Zeit in greifbarer Nähe, doch mangelte es an einem Behälter, um sich der triefenden Papierfetzen zu entledigen. Kate stutzte, als man ihr eine Pappschachtel unter die Nase hielt.

»Hier«, sagte Nick und sie zupfte sich ein Tuch daraus hervor, während Don't stop me now aus den Lautsprechern hallte.

»Das ist lieb, aber ich weiß gar nicht, wohin mit den vollen«, schniefte sie.

»Gib sie mir, ich werde die schon irgendwie los«, bat er. Leicht neigte Kate den Kopf, unschlüssig, ob sie seinem Angebot trauen durfte oder Nick einen Rückzieher machte. Dennoch drückte sie ihm ein gefühltes Pfund gebrauchter Taschentücher in die Hand.

Nick nahm sich der durchnässten Knäule an und verstaute sie in den Taschen seiner Anzugjacke. »Geht doch. Jetzt guck nicht so belämmert. Für diesen Augenblick sollte es reichen, oder?«

Kates Lippen hoben sich zu einem Lächeln, das von einem warmen Gefühl begleitet wurde. »Danke.«

»Kein Problem«, gab er zurück.

»Ich bin, in all der Aufregung, noch gar nicht dazu gekommen, dich richtig anzusehen«, murmelte sie und spürte, wie ihr die Wangen brannten. Doch in Anbetracht der Tatsache, dass sie seit Tagen mit roten Wangen und verquollenen Augen herumlief, würde wohl niemand beim Anblick Kates Verlegenheit, Erregung oder Trauer auseinanderhalten können.

»Ich sehe gut aus, hm?«, neckte Nick und hatte sichtlich Mühe, das Grinsen zu verbergen. »Ich gefalle dir.«

Kate verdrehte die Augen. »Ja. So ein Dreiteiler ist ganz nett anzusehen.«

»Ganz nett?« Nick schnaubte halblaut. »Lady, du kannst kaum noch an dich halten!«

»Pssst«, zischte Kate ihm zu. »Stimmt gar nicht!«

»O bitte, als wenn du mir nicht sofort, hier und jetzt, die Klamotten vom Leib reißen wolltest!«, höhnte er und stieß ein Grummeln aus, als Kate ihren Ellenbogen ausfuhr und ihn unliebsam in die Rippen traf. »Au!«

»Nick!«, knurrte sie drohend, setzte ein Lächeln auf und bedankte sich bei den Herren, die ganz plötzlich vor ihnen aufgetaucht waren, für ihr Erscheinen und die Beileidsbekundungen. Kate hatte keinen Schimmer, wer diese Männer waren. Albert war beinahe stadtbekannt und sehr beliebt. Doch erst beim genaueren Hinsehen glaubte Kate, einen alten Arbeitskollegen ihres Vaters zu erkennen.

»Kleine Katy, erinnerst du dich nicht mehr an mich?«, fragte Peter Barrington und brachte nur ein leises, krächzendes Lachen zustande.

»Onkel Pete, natürlich erinnere ich mich!« Kate ließ sich von dem gebeugten Mann in eine Umarmung ziehen.

»Schon gut, mein Junge«, röhrte Peter mit einem Blick auf Nick, dem die innige Bekundung der alten Zeiten wegen sichtlich missfiel. Kate sah neben sich, ihre Miene schwankte zwischen Entrüstung und Belustigung.

»Dein kleiner Bodyguard-Freund scheint nicht erfreut zu sein, dass du dich mit Älteren abgibst, kleine Kate.« Noch ehe Kate ihm Erleuchtung schenken konnte, zog Mister Barrington ab.

»Bodyguard, hm?«, nuschelte Nick, steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ den Blick über die Gäste schweifen.

»Wieder ein Film, den du noch nicht gesehen hast?«, murmelte Kate und versuchte, das dankbare Lächeln aufrechtzuerhalten.

Er schnaubte lachend. »Ich mag Kevin Costner. Robin Hood und Waterworld sind der Hammer.«

»O, da war er großartig«, pflichtete Kate ihm bei.

Nick zuckte auffordernd mit dem Kopf in Richtung Eingangshalle. »Na los, Kate. Gehen wir dir das Lächeln abschrauben. Sonst kriegst du noch einen Gesichtsmuskelkrampf.«

»Nick!«, zischte sie, als er sich gerade davonstehlen wollte. »Ich muss hierbleiben und brav weitermachen!«

Nick hielt inne, eine Augenbraue fragend erhoben. »Willst du dann einen Drink?«

»Mit Alkohol?« Kate verzog das Gesicht.

»Ja.« Er ließ ein Zucken der Schultern erkennen.

Kate leckte sich über die trockenen Lippen. »Okay, aber beeil dich!«
 

»Alkohol auf nüchternen Magen?« Dorian trat auf sie zu, sobald Nick seiner Funktion als Lieferjunge erfolgreich nachgekommen war.

Wieder zwang Kate ihre Lippen zu einem Lächeln, das mehr Schuld als Entschuldigung sprach. »Ist vielleicht keine gute Wahl, aber ich bin seit fünf Uhr auf den Beinen und habe nur drei Krümel vom Pizzarand ergattern können.«

Dorian neigte den Kopf, hatte, wie Nick zuvor, die Hände in den Hosentaschen vergraben und betrachtete die Frau vor sich. »Ich könnte uns etwas holen, wenn du willst? Ich kenne mich zwar nicht aus, aber zur Not leistet mir das Smartphone gute Dienste.«

Dorians Erscheinen war ihr nicht unangenehm, dennoch huschte ihr Blick über die Anwesenden in der Hoffnung, dass ihr irgendwer aus der Klemme half. Als jemand seinen Namen rief, stieß Dorian einen leisen Fluch aus und trollte sich. Erleichtert ließ Kate die gestrafften Schultern locker und sah zum Sarg, ein kleines, dankbares Lächeln auf den Lippen.

»Danke, Dad«, hauchte sie kaum hörbar und ergab sich der irrsinnigen Idee, dass Albert die Hand über sie hielt.

»Hab ich was verpasst?« Da Nick dem Ruf der Natur gefolgt war, war Kate umso beruhigter, als er sich wieder neben ihr einfand.

»Ich glaube, dein Bruder versucht mich anzubaggern«, ließ sie ihn wissen.

»Wie war das noch mit den Frauen in ihren verletzlichen Phasen des Lebens?«, hakte er nach.

»Ich meine es ernst!«, knurrte Kate und bemerkte, wie sie unbewusst Ausschau hielt.

»Da du heiß bist, aber nicht Davids Typ, nehme ich an, du sprichst von Dorian«, verkündete Nick nonchalant.

»Genau der«, bestätigte sie.

Nick zuckte die Schultern. »Wäre nicht das erste Mal, dass er versucht, bei den Freundinnen seiner kleinen Brüder zu landen.«

Nun war es an ihr, ihm mit skeptisch erhobener Augenbraue zu begegnen. »Sollte ich mich geschmeichelt fühlen?«

»Halte es, wie du möchtest, Kate. Allerdings schuldest du mir noch ein feuchtes Höschen«, stellte er unumstößlich klar.

»Nick«, zischte Kate empört, »nicht vor meinem Vater!«

Nick zog den Kopf ein und blickte hinter sich zu dem aufgebahrten Albert. »Entschuldigung.«

Tief sog Kate die stickige Luft ein, rieb sich die Stirn und stieß einen murrenden Laut aus.

Sorge huschte über Nicks Gesicht. »Willst du Pause machen? Ein bisschen an die Luft?«

Wortlos nickte Kate. Er nahm ihr das Glas aus der Hand und lotste sie, die Besucher nicht aus den Augen lassend, aus dem Raum.

»Geh schon mal vor«, riet er ihr an, »ich sehe zu, wo ich das Glas loswerden kann.«

Leicht schwankend begab sich Kate in Richtung Flur. Noch mehr Menschen hatten sich hier versammelt, doch sie versuchte, ungesehen an ihnen vorbeizukommen. Es gelang ihr, beinahe. Sie wechselte drei Worte mit einer Frau, die sie aus dem Drugstore an der Ecke zu erkennen glaubte.

»Sie sehen aus, als bräuchten Sie ein bisschen frische Luft«, sagte die Verkäuferin und Kate nahm den Ratschlag dankend an.
 

Kalter Wind umfing sie. Dunkelheit hatte längst die Oberhand über diesen schweren Tag gewonnen. Kate schlang die Arme um sich und bemerkte plötzlich die Last einer schweren Jacke auf ihren Schultern.

»Zum Glück kennt uns hier niemand. Alle glauben wohl, wir wären Außenstehende. Na ja, und irgendwie sind wir das wohl auch.« Sie wandte sich zu Nick um. »Gehen wir ein Stück?«

Kate richtete ihren Blick auf die sandfarbenen großen Stufen, die hinter der großzügigen Auffahrt zur Straße führten. Autos brausten durch die Nacht. Stimmen hallten aus dem Dunkel zu ihnen herauf.

»Wie spät ist es?«, wandte sich Kate an ihn.

Nick schüttelte sein Handgelenk frei. »Kurz nach halb acht. Wollten die nicht um sieben zumachen?«

»Der Andrang ist ziemlich groß«, sagte Kate, zupfte an der Jacke und setzte sich in Bewegung. Nicks verwirrten Blick wusste sie mit einem flüchtigen Lächeln beizukommen. »Kommst du?«

Er folgte ihr, fluchte leise, da der Januar Dayton mit eisiger Faust regierte. Nick hauchte in die Hände und rieb die Handflächen aneinander. Kate bog zur rechten Seite ab, dort, wo sie die Wagen geparkt hatten.

»Ich dachte, du wolltest spazieren gehen und dich nicht im Auto verkriechen«, murrte er, als es ihm gelang, zu ihr aufzuschließen.

»Ich habe nicht vor, mich ins Auto zu verkriechen. Für diese Aktion trage ich die falsche Jacke«, erklärte Kate. Was sie sich davon versprach, auf dem Hinterhof herumzulungern, erschloss sich ihm nicht. Dennoch sah er sich, unbewusst, nach allen Seiten um.

»Wow, hier sind überall Kameras«, informierte er sie.

Kate hob den Kopf. »Ich glaube nicht, dass die uns filmen.«

»Du glaubst?« Nick fuhr zusammen, als Bewegungsmelder den Hof in grelles Licht tauchten.

»Ich sehe keine blinkenden Lämpchen«, schlussfolgerte sie, langte nach seiner Hand und hetzte mit ihm über den asphaltierten, kleinen Platz. Im Schatten einer Nische, wo lediglich ein paar Holzpaletten und Papiercontainer standen, blieb sie stehen. Nochmals vergewisserte sie sich, dass nicht irgendwelche Kamera-Attrappen diesen Winkel auskundschafteten oder Bewegungsmelder ihr Vorhaben vereitelten. Sie hüpfte auf und ab und wedelte, wie von Sinnen, mit den Armen. Zufrieden stellte sie fest, dass ihre Aktion ungesehen blieb.

Ihrem merkwürdigen Treiben begegnete er mit Argwohn. »Kate? Was hast du vor?«

Sie wandte sich zu ihm um. Diese kleine Aktivität hatte sie bereits etwas aus der Puste gebracht. »Du hast doch gesagt, ich schulde dir ein feuchtes Höschen.«

Nick schnaubte leise. »Kate, ist das nicht -? Ich meine, ist das ziemlich makaber.«

»Ich bin emotional aufgewühlt und möchte jetzt nicht mit dir streiten«, forderte sie mit beängstigend klarer Stimme. Nick schluckte vernehmlich. »Mir ist schlecht, mir schwirrt der Schädel. Ich habe Hunger, Durst. Ich bin traurig, wütend. Mir ist heiß und ich brauche das. Jetzt!«

Ihm war nicht wohl bei dem Gedanken daran, in welche Richtung dieses Gespräch führte. »Wer übt jetzt emotionalen Druck aus?«

Kate presste die Lippen aufeinander und die Knie zusammen. »Willst du einer trauernden Frau eine Bitte versagen?«

»Eine Bitte habe ich nicht gehört. Das ist emotionale Erpressung!« Kate schnappte nach Luft. Seinen geschmälerten Blick konnte sie in der Dunkelheit nicht erkennen, doch sein drohender Ton sollte ihr Antwort genug sein.

Einsicht traf sie mit der Wucht eines Vorschlaghammers. Abwehrend hob sie die Hände. »Du ... du hast recht. Bitte, entschuldige. Ich war ... bin zu weit gegangen. Es tut mir leid, Nick. Ich bin so blöd! Das, das war ... gemein von mir.«

»Lady, hörst du irgendwann mal damit auf, dich zu entschuldigen?« Nick verdrehte die Augen. Als Kate im Begriff war, die Flucht zu ergreifen, langte er nach ihrer Schulter. »Dreh dich zur Wand!«

Kate hielt inne. »Was?«

»Dreh. Dich. Zur. Wand.« Nick betonte jedes Wort mit klirrender Kälte in der Stimme. »Du kannst von Glück reden, dass ich mir ein paar Gummis eingesteckt habe.«

Nun war es an ihr, dem Kloß in ihrem Hals Herrin zu werden.

»Was?«, spottete Nick leichthin. »Erst willst du, und jetzt, wo du nicht gleich bekommen hast, was willst, läufst du weg?«

Kate verengte die Augen. »Ich laufe nicht weg.«

»Gut«, gab er zufrieden zurück. »Also noch mal: Komm her, dreh dich zur Wand und überlass mir den Rest!«

Sie leistete seiner Anordnung Folge. Es war zwischen ihnen schon mehr als ein Mal vorgekommen, dass Nick eine Bestimmtheit an den Tag legte, die sie schaudern ließ. Vielleicht war sie wirklich übers Ziel hinausgeschossen. Die letzten Tage hatten sie aufgewühlt, durcheinandergebracht. Sie war von einem Gemütszustand in den nächsten gerauscht, ohne Halt, ohne Bremse, ohne Zügel. Trauer, Verlust, Gier, Freude, Erleichterung, Scham, Zorn und Hilflosigkeit.

Sie schämte sich, dass sie sich so hatte gehen lassen. Sie hatte ihn unter Druck gesetzt und wissentlich versucht, auszuloten, bis zu welchem Punkt sie bei ihm gehen konnte. Kate spürte ihn in ihrem Rücken, seinen Atem an ihrem Hals.

»Sieh zu, dass du alles beisammenhältst!«, raunte Nick ihr ins Ohr. Ein Kribbeln wallte in ihr auf. Das, was ihr eben noch ein schlechtes Gewissen verpasst hatte, löste sich mit jedem Fingerstreich in Wohlgefallen auf. Sie raffte den schweren Parker über ihren Hintern, gefolgt von dem Stoff ihres Kleides. Kälte umfing die erhitzte Haut, die noch immer von der Strumpfhose bedeckt wurde. Was Nick hinter ihr trieb, konnte sie nur vermuten. Das Aufziehen des Reißverschlusses der Hose durchbrach die Stille und das Knistern der Folie steigerten ihr die Gier, die sich brennend und pulsierend zwischen ihren Schenkeln sammelte.

»Beug dich vor. Noch ein bisschen mehr!« Kate tat, wie von ihm verlangt. Er machte sich daran, ihr Beinkleid und Höschen herabzuziehen. »Bereit?«

Ihr gehauchtes »Ja« war ihm Antwort genug.

Höschen und Strumpfhose hingen ihr in den Kniekehlen, hinderten sie daran, sich ihm weiter zu öffnen, doch ihm schien dieser Umstand sehr gelegen. Kate wimmerte selig, als er sich in ihr versenkte.

»Mach keinen Mucks, sei still!«, forderte Nick, grub ihr seine Hände in die Hüften und labte sich an den hitzigen Wellen, die ihn umgaben. Ihr Atem ging stoßweise und stob in weißen Wölkchen in die Luft. Kate schnaufte, überließ sich seinem Tempo, gab glucksende, raunende Laut von sich. Sie war kurz davor, ganz knapp. Alles drehte sich. Hitze schien ihr die Knochen zu verbrennen. Ein Beben, begleitet von dem Gefühl, vollkommen und eins mit ihm zu sein.

Nick richtete sich auf, zog sich aus ihr zurück. »Mission feuchtes Höschen wäre hiermit erledigt.«

Ein bedauerndes Seufzen entfuhr ihr. Kate zuckte zusammen, als er wieder zu ihr aufrückte, ihr jedoch das Produkt ihres Treibens mit einem Tuch abwischte.

»Was ist mit dem Kondom?«, fragte sie, legte die Hände flach gegen die steinerne Mauer und bettete ihre Stirn an die kalten Steine, während Nick sie säuberte.

»Lass das mal meine Sorge sein!« Kate erschauderte bei seinen Worten, die ihr nicht weniger eisig waren als die Nacht um sie herum. »Fertig.«

Noch leicht benommen löste sie sich von der Wand, zerrte mühsam Slip und Strumpfhose wieder an die richtige Stelle. Der körperlichen Erleichterung zum Trotz strömte das schlechte Gewissen auf sie ein. Sie traute sich kaum, ihn anzusehen, zu groß war die Reue, das Bedauern.

»Damit eins klar ist, Kate.« Schuldbewusst fuhr sie bei dem schneidenden Ton seiner Worte zusammen. »Ich habe dich weder aus Mitleid gefickt noch aus Egoismus. Du hast dich mir angeboten und ich habe nicht nein gesagt. Also hör auf, dir selbst leidzutun.«

Kate schluckte. »Okay.«

»Und jetzt sieh mich an!« Mit hängenden Schultern kam sie seinem Wunsch nach. Noch ehe sie den Blick heben konnte, drängte er sich an sie und presste ihr seinen Mund auf die Lippen.

Nick löste sich von ihr, gab ihr Zeit, um Atem zu schöpfen. »Du weißt, dass ich dir lieber dabei zusehe, wenn du kommst.«

Kate schloss die Augen und legte ihm den Kopf an die Schulter.

Nick umfasste ihren Nacken und strich behutsam mit dem Daumen über die kühle Haut. »Wir sollten wieder reingehen, findest du nicht?«

»Noch nicht«, quengelte sie, sog seinen Duft tief in ihre Lunge und fühlte sich unendlich entspannt.
 

Als ihr die Zähne klappernd aufeinanderschlugen, war es für beide an der Zeit, sich wieder ins Warme zu begeben. Da ihr Fernbleiben offenkundig unbemerkt geblieben war, denn nach Nicks Aussage waren sie kaum eine Viertelstunde fort gewesen, erklärte Kate die geröteten Wangen mit einem Spaziergang an der frischen Luft, als William Turner ihrer habhaft wurde. Nur noch eine überschaubare Gruppe Fremder hatte sich zu ihrer Familie gesellt. Kate trat auf ihre Mutter zu, die sich bei ihr unterhakte und ihr die Hand tätschelte.

»Ich war kurz draußen«, sagte Kate hastig, als sie Irmalines prüfenden Blick bemerkte. Nick war ihr wenige Augenblicke später gefolgt. Ein kräftiger Nieser seinerseits, ließ das Grüppchen um Irmaline sich nach ihm umsehen.

»Verzeihung«, murmelte Nick verlegen und vergrub die klammen Hände in den Hosentaschen. Er trollte sich zu seinen Brüdern, die sich in die hinterste Stuhlreihe zurückgezogen hatten.

»Und ich dachte, dass man bei Beerdigungen und Trauerfeiern Bräute aufreißen kann«, verkündete Dorian sichtlich angefressen, was seine Chancen auf ein Date mit einem netten Mädchen anbelangte. Nick schwieg. Auch David wirkte erschöpft, da er lauthals seinen Frust mit einem Gähnen unterstrich.

»So, ihr Drei!« Sarah trat auf ihre Jungs zu. »Wir brechen auf.«

»Na endlich«, knurrte David und war der Erste, der von seinem Sitz aufsprang.

Nick konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Oh, ist unser Bubi müde?«

David streckte ihm die Zunge heraus. »Ein Genie braucht seinen Schlaf.«

»Leg mal 'ne neue Platte auf!«, murrte Dorian und schob sich an seinem Bruder vorbei.

»He!«, klagte Nick, als der Ältere ihn unsanft anstieß. »Mum? Darf mich Tante Kate ins Hotel fahren? Ich hab auf der Fahrt hierher einen Drugstore gesehen. Ich brauch da noch was.«

Verdutzt blinzelte Sarah gegen die Bitte ihres Sohnes an. »Natürlich, solange Kate nichts dagegen hat.«

»Was brauchst du, Großer? Tampons?«, feixte Dorian und kassierte das unfeine Heben eines Mittelfingers als Antwort.

Kate, die nichts von ihrem Unglück ahnte, war umso verblüffter, als Irmaline ihr mitteilte, sie fahre eher heim. »Mom? Du fährst du mit Tante Dolly und Onkel Bill?«

»Ja«, sagte Irmaline. »Bertram meinte, dass du Nickleby ins Hotel bringen würdest. Er wollte noch irgendetwas aus dem Drugstore.«

»Tue ich das?«, fragte sie mehr zu sich selbst.

Keine zehn Minuten später hatte sich die Menge in alle Winde verstreut. Mister Barrett schloss die Tür hinter ihnen ab und Kate blickte zweifelnd neben sich. Nicks Miene schwankte zwischen Selbstzufriedenheit und einem Ausdruck, den Kate noch nie bei ihm gesehen hatte, ihn aber dennoch als schelmisch bis hinterlistig definieren würde.

»Gruselig, wie sie einem in die Hände spielen, nicht wahr, Tante Kate?« Genüsslich wippte er von den Hacken auf den Ballen, als könne er kein Wässerchen trüben.

»Was hast du vor, Nick?«, fragte sie und scheute sich vor der Antwort.

»Nichts im Speziellen. Allerdings sollte ich dir wohl eher diese Frage stellen, Kate.« Das breite Lächeln auf seinen Lippen verhieß nichts Gutes.

Schnaufend schüttelte Kate den Kopf und begab sich zu den Parkplätzen. Sie suchte in den Taschen ihrer Jacke nach dem Autoschlüssel.

»Nur, bevor du fragst«, hob Nick an und hoffte darauf, dass Kate ihm auf den Leim ging. »Ich würde es tun.«

Kate öffnete die Fahrertür, ließ sich auf Sitz sinken und wechselte Pumps gegen Winterstiefel. »Und was würdest du tun?«

Nick genoss die Sekunden, die verstrichen. Kate stieß ein Brummen aus, beugte sich zur Beifahrerseite, um auch ihm die Tür zu öffnen. Schwungvoll nahm sich Nick ihrer Aufforderung an, hievte sich ins Wageninnere und ließ die Tür ein wenig unsanft zuknallen.

»He!«, protestierte Kate sofort. »Also ...?«

Zufrieden, dass sie anbiss, bedeutete er ihr, auch ihre Tür zu schließen. »Also? Ich, an deiner Stelle, würde mich zum Drugstore fahren und vielleicht eine falsche Abzweigung nehmen um geradewegs nach Las Vegas durchzubrennen.«

»Nick«, seufzte Kate, schlang die Finger um das Lenkrad, legte die Stirn auf die Knöchel, nur um dann kurze Zeit später den Motor zu starten. »Mein Vater wird morgen auf dem Friedhof, geradewegs vor uns, beerdigt. Lass uns morgen noch einmal drüber reden.«

»Okay, Lady, ich nehme dich beim Wort«, flötete er und richtete seinen Blick auf die Auffahrt. »Allerdings könntest du mich trotzdem zum Drugstore fahren.«

»Ja, das habe ich schon verstanden«, murrte Kate und fuhr an.

»Und du könntest trotzdem am Straßenrand halten und mich noch mal vögeln. Natürlich nur, wenn es dein emotionaler Zustand gestattet«, bemerkte er beiläufig.

»Du läufst gleich zu diesem verdammten Drugstore!«, fauchte sie, rollte den kleinen Hügel hinab, setzte den Blinker und wartete. Die Sekunden verstrichen, ohne, dass Kate weiterfuhr.

»Was brauchst du aus diesem verdammten Drugstore?«, verlangte sie zu wissen.

»Eigentlich nichts. Kondome, vielleicht«, sinnierte er.

Kate blickte neben sich. »Ich dachte, du hättest noch welche?«

»Hab ich auch.« Nick zuckte die Schultern.

»Wie viele?«, hakte sie nach.

»Puh, keine Ahnung. Ein paar werden es wohl noch sein«, sagte er. Kate setzte den Blinker in die andere Richtung, die weder zum Drugstore noch zum Hotel führte und auch nicht zu den Wallace' nach Hause.

Seine Augenbraue hob sich fragend. »Kate? Wird das 'ne Entführung?«

»Mal sehen«, murmelte sie und bog nach rechts ab.

Eine Weile fuhren sie schweigend. Nicht einmal das Radio malträtierte ihre Ohren mit trällernden Liedchen.

»Da können wir ja von Glück reden, dass niemand hinter uns fährt. Wenn du noch langsamer bist, fällst du unter die Gefährdung des Straßenverkehrs!«, murrte Nick, da ihm nicht behagte, wieso und weshalb die Frau neben ihm plötzlich diese Anwandlung an den Tag legte. Obschon ihr seine Worte das Blut kochen ließen, ließ sich Kate nichts anmerken. Sie lenkte den Wagen in eine Gegend, die sich mit Recht den Ausdruck Verlassen und Vergessen auf die Fahne schreiben konnte. Kate bog auf einen kleinen, unbefestigten Weg und hielt.

»Aussteigen!«, befahl sie.

Nick blinzelte irritiert, schnaubte und lachte dann aus vollem Halse. »Kate, bitte. Ist das ein Scherz? Wir sind hier im Nirgendwo!«

»Aus. Steigen.«, forderte Kate.

»Du bist doch vollkommen verrückt, Lady!«, höhne er, verschränkte die Arme und machte keinerlei Anstalten, ihrer Aufforderung nachzukommen.

Kate beugte sich zu ihm herüber. Sie brauchte eine Weile, bis ihre Finger den Türöffner fanden. »Wird’s bald?!«

Nick schluckte und verharrte stocksteif auf dem Sitz. Mit ihrer Aktion hatte sie dafür gesorgt, dass das Licht im Wageninneren jede Gefühlsregung auf seinem Gesicht sichtbar machte.

»Steig aus, Nick!«, sagte sie nochmals. »Zieh die Jacke aus und das Jackett und setz dich nach hinten, auf die Rückbank. Jetzt!«

Nick schüttelte den Kopf, verließ den Wagen. Der Motor erstarb, Kate schaltete die Scheinwerfer aus und zog den Schlüssel ab.

»Glaub mir, Nick«, rief sie ihm zu. »Dich in kleine Stückchen zu zerhacken und in den Kofferraum zu werfen ist einfacher, als aus diesem Auto zu kriegen.«

Schweigend, doch mit einem Blick, der jeden anderen in Stein verwandelt hätte, entledigte er sich der Kleidung. »Zufrieden?«

Kate bedeutete ihm mit einem Nicken, sich nach hinten zu setzen. »Schlips und Weste auch!«

Nick verdrehte die Augen, zerrte an der Krawatte und nestelte an der Weste. Er hatte alles auf den Beifahrersitz geworfen, schlug die Tür zu, nur um sich im nächsten Augenblick auf die Rückbank zu quetschen.

»In die Mitte.« Allmählich fiel es ihr schwer, den nötigen Ernst aufrechtzuerhalten. Sowie er endlich die für sie angemessene Position fand, entstieg auch Kate dem Wagen und entledigte sich ihrer Jacke.

Nick hatte beide Arme über die Kopfstützen gelegt und beobachtete ihr Vorhaben, zu ihm zu gelangen. Es glich beinahe einer akrobatischen Meisterleistung, sich auf ihn zuzubewegen. Als sie endlich die Knie links und rechts neben ihm in das Polster bohrte, begegnete er ihr mit fragendem Blick. »Und jetzt, Kate? Hört dein Plan hier schon auf?«

Sie schmälerte den Blick. »Ein Glück für mich, dass wir Walk the Line zusammen gesehen haben.«

Er schnaufte halbherzig, schwieg und pinnte sie mit einem Blick fest, wie einen Schmetterling im Schaukasten.

»Hm«, murrte Kate grübelnd, »das habe ich mir irgendwie anders vorgestellt.«

»Ach, ja?«, knurrte er. Als Kate hinter sich langte, um den Reißverschluss ihres Kleides zu öffnen, ahnte er wohl, was ihre Absicht war. Er wollte ihr behilflich sein, doch Kate hielt ihn zurück.

»Nein!«, zischte sie und kämpfte noch immer mit dem Verschluss. »Lass deine Hände, wo sie sind!«

Ungelenk bog sie den Rücken durch, doch ihr Unterfangen wurde durch die Enge des Wagens vereitelt. Keuchend rang sie nach Luft. Nick schüttelte den Kopf, langte nach ihr. Kate versuchte, ihn abzuschütteln, und gab es letztendlich auf, sich aus dem Kleid zu befreien. Er zog sie zu sich, strich großflächig über ihren Rücken und bekam den kleinen Zipper zu fassen.

»Nicht bewegen«, knurrte er dicht an ihrem Ohr. Als habe er alle Zeit der Welt, zog er Zähnchen um Zähnchen auf. Je mehr Sekunden verstrichen, desto nervöser wurde Kate über ihm. Sowie der Verschluss zur Hälfte offen war, richtete sie sich auf und pellte sich aus der Stoffschicht. Sie zupfte an den Ärmeln und blieb mit Hemdchen und BH auf ihm hocken, während sich das Kleid um ihre Hüften bauschte, wie grotesk entstellter Schwimmreifen. Ohne, dass sie es ihm erlaubte, fuhren seine Finger unter die Träger der Wäsche. Sowie der Stoff in ihren Armbeugen aufgefangen wurde und die Schalen des Büstiers ihren bloßen Busen freilegten, streckte er die Hände nach ihren Rundungen aus. Kate schnappte nach Luft, als seine Daumen über ihre Knospen strichen. Im selben Augenblick erlosch das Licht und tauchte den Wagen in Dunkelheit. Das Herz klopfte ihr wild unter seinen Fingern. Zu ihrem Missfallen entging ihr das freudige, siegessichere Grinsen auf seinem Gesicht.

Nick ließ von ihren Brüsten ab, schlang einen Arm um ihre Taille, während die andere Hand an ihrem Hinterkopf verweilte. Mit einem Klicken löste er die Spange in ihrem Haar. Ein wohliges, ergebenes Seufzen entfuhr ihr.

»Danke.« Kate ließ den Kopf nach vorn sinken. Nicks Finger fuhren ihr massierend über Stelle, an der eben doch schrecklicher Druck vorherrschte.

»Das hätte ich gern vorhin schon getan«, murmelte er und bettete seine Lippen an ihrem Hals. Seine Berührung brachte das Kribbeln zurück, von dem sie glaubte, es unter seinem wartenden Blick verloren zu haben. Ein Wimmern entfloh ihr.

»Hm«, knurrte er.

Kate, eben noch wie benommen, setzte sich widerwillig auf. »Was?«

»Ich weiß gerade nicht, wie ich es anstellen soll«, gestand er, doch seine Worte ließen keinerlei Schwankung erkennen. »Ob ich dich komplett nackt will oder dir nur das Höschen in Fetzen reiße? Das nächste Mal trägst du besser wieder Strapse, das macht es mir einfacher.«

Kate schnaubte lachend und erschauderte, als er erneut nach ihr langte. »Nackt, bitte.«

Um ihm die Entscheidung zu erleichtern, griff sie hinter sich, hakte den Büstenhalter auf und wandte sich dann dem Hemdchen zu, das sie sich über den Kopf zog und achtlos neben sich warf. Ungeschickt stieß sie sich den Kopf am Dachhimmel an.

Statt sich über ihr Leiden zu amüsieren, streckte Nick die Hände nach ihr aus, fuhr ihr über Hals, Arme, sparte ihren Busen aus und bettete seine Finger auf ihre Hüften. »Komm her!«

Sie kam seinem Bitten nach und legte ihm abermals die Stirn an die Schulter. Kate schlang ihm die Arme um den Hals, um Halt zu finden.

»Lady, du bist vollkommen irre, weißt du das?« Nick wusste kaum, ob er lachen, oder sich in die hintersten Winkel der Welt verkriechen sollte.

Sie drängte sich näher an ihn heran. »Wer von uns beiden hat denn so große Töne gespuckt?«

»Du bist verrückt!« Er wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht und seufzte. »Himmel, du würdest bestimmt sogar auf 'ner Beerdigung einen Lachflash kriegen!«

»Möglich, aber auch irgendwie pietätlos«, murrte Kate beleidigt, ehe sie sich aus seinen Fingern befreite. Ihr Blick zierte Verstimmung. »Du redest eindeutig zu viel und damit machst du mir alles kaputt!«

Auf Nicks Lippen machte sich ein höhnisches Grinsen breit. »Oh, wirklich?!«

Kate boxte ihm gegen die Schulter.

»Au, he«, klagte er. »Das ist kein Grund, grob zu werden!«

»Ach, sei doch endlich still! Bitte!« Wenn er weiterhin nach Ausflüchten suchte, wäre ihr Vorhaben schneller vergessen und das Feuer erloschen, als er ahnte.

Als sich Kate von ihm löste, langte er nach ihr. »Hey, es tut mir leid. Ich bin nur ein bisschen nervös.«

»Gut zu wissen«, murrte Kate.

»Okay, weißt du was?«, fragte er.

»Was?« Kate hatte Mühe, ihn nicht wieder in die Flucht zu fauchen.

»Hintern hoch!«, verlangte Nick.

»Was?!« Kate musste sich auf die Zunge beißen, um ihn nicht durch Spott zu kränken.

»Verfickt und zugenäht, Kate! Ich kann dich nicht vögeln, wenn du noch so viele Klamotten am Leib hast«, zischte er. »Also: Hintern hoch!«

Kate verkniff sich, ihm mitzuteilen, dass er sie schon oft mit mehr Stoff am Körper gevögelt hatte, dennoch leistete sie seinem Befehl Folge. Ein wohliger Schauer ging mit der Berührung einher. Ihre Brüste drängten sich an das weiße Hemd, der Puls hämmerte ihr in den Ohren. Nick schob ihr Kleid, Höschen und Strumpfhose über Hüfte und Hintern. Sowie der benetzte Stoff von ihr abfiel, wimmerte Kate erneut.

»Gleich«, mahnte Nick sie zur Ruhe.

Das Kleid fiel schneller als der Rest ihres Outfits. Das Bündchen des Höschens schnitt ihr in die Haut. Nick langte nach ihrem rechten Bein, schob es auf die andere Seite, um ihr und ihm das Ausziehen zu erleichtern.

Eben noch hatte er jeden seiner Schritte akribisch verfolgt, warf Nick nunmehr den Kopf in den Nacken. »Deine Stiefel, Kate!«

Kate biss sich auf die Lippen und nestelte an dem Reißverschluss des Schuhwerks herum. Endlich war alles bereit, ihr vom Köper gestreift zu werden. Nick umfasste ihren Schenkel und platzierte ihr rechtes Bein wieder neben sich. Er hob die Hüften an und wühlte in den Hosentaschen. Er fischte ein Kondom hervor. Kate stürzte sich auf ihn, umschlang ihre Zunge mit der seinen. Eine Hand hielt sie in sicheren Gefilden, während sie versuchte, sich ihm anzunehmen. Klimpernd wurde der Gürtel aufgezogen, Knopf und Verschluss der dunklen Hose binnen weniger Sekunden geöffnet. Nick ließ von ihrem Mund ab, hielt ihr das Kondom vor. Sie schnappte mit den Zähnen nach der Folie und riss die Verpackung unter gierenden Lauten auf. Sie angelte nach dem Gummi.

Nick hatte sich bereits in Position begeben. »Bitte. Ich gehöre ganz dir.«

Sie streifte ihm das Präservativ über und folgte ihm nach.

»Den Kopf schön unten lassen, Lady«, orderte er und rang mit sich, als Kate auf ihn sank. Sie genoss das Gefühl der Erhabenheit, ihn in sich zu fühlen. Langsam glitt sie an ihm auf und nieder. Nicks keuchender Atem war ihr wie ein Lied, das gelegentlich von unfeinen Flüchen unterbrochen wurde.
 

Erschöpft sank sie an seine Brust, schwelgte im Nachbeben ihres Zusammenkommens. Die Luft im Innern des alten VW war erhitzt und ein Gemisch der verschiedensten Aromen, die ein Treiben dieser Art mit sich brachte. Die Scheiben waren beschlagen, Kondenswasser rann am Glas herab. Ihr Körper war ermattet, ihre Gier besänftigt, Kates Verstand jedoch lief auf Hochtouren. Widerwillig löste sie sich von ihm, beugte sich nach hinten, um in den Taschen ihrer Jacke nach einem Kleenex zu suchen. Wieder war ihr Nick beim Säubern behilflich. Er streifte das benutzte Gummi ab und wickelte es ins Taschentuch. Die Glut der Leidenschaft erkaltete und auch Kate fror. Sie fischte nach ihrer Wäsche, bugsierte sich zu Nicks rechten und streifte sich umständlich das Höschen über.

Seine Augen verengten sich bei ihrem Vorhaben, sich des BHs und Kleides anzunehmen. »Gib mir fünf Minuten!«, bat er.

Kate nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn sanft. »Ich sollte dich nach Hause bringen, Cinderella. Sonst wirst du noch zum Kürbis.«

»Ich glaube, die Geschichte ging ein wenig anders«, sinnierte er, war ihr jedoch beim Ankleiden behilflich.

»Die Strumpfhose kann ich vergessen«, seufzte Kate. »Sie hatte ohnehin eine Laufmasche.«

Eisigkalter Wind flutete den Wagen, als Kate die Tür öffnete, um sich die Stiefel überzustreifen. Nick rückte zu ihr auf, umschlang sie mit beiden Armen und hauchte ihr einen Kuss in den Nacken. Sofort waren ihre Sinne in Wallung, doch Kate entglitt seinen Fingern und den gierenden Lippen.

Sie schlüpfte ins Freie und hielt ihm die Tür auf. Murrend stopfte Nick das Hemd in die Hose, schloss Gürtel, Reißverschluss und Knöpfe und hievte sich von der Rückbank.

»Huh, fuck, ist das kalt!«, fluchte er, fuhr sich durch die Haare und sortierte seine Kleidung.

Als Weste und Jackett an seinem Leib prangten, besah er sich Kates Aktion mit fragendem Blick. »Was tust du da?«

Kate fegte alle Spuren vom Rücksitz und lüftete das Auto aus. »Ich glaube, dass weder du noch ich scharf darauf sind, Irmaline zu erklären, weshalb die Folie eines Kondoms auf dem Boden liegt oder warum der Wagen nach Sex müffelt.«

»Hey!«, klagte Nick und schürzte beleidigt die Lippen.

»Sei kein Spielverderber und hilf mir!« Kate hatte die Hände in die Hüften gestemmt. Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was ihr Körper preisgab, sollte sie sich in wenigen Augenblicken unter der Dusche einer eingehenden Prüfung unterziehen.

Nick zog sein Smartphone aus der Jackentasche, stellte die Taschenlampenfunktion ein und leuchtete Rückbank und Fußraum ab. »Nichts zu sehen. Alles sauber. Na ja, bis auf dich.«

Kate schnappte entrüstet nach Luft. »Haben wir auch wirklich nichts übersehen?«

Nick leuchtete unter die Sitze und auch Kate kroch ins Auto zurück, um sich seiner Kontrolle zu versichern.

»Okay, das sollte genügen«, entschied sie und streifte sich ihre Jacke über. Ihr schlotterten die Knie vor Kälte. Kate glitt auf den Fahrersitz, startete den Motor und ließ die Heizung röhren. Nick warf einen Blick hinter sich und stieg ein.

»Musst du immer noch in den Drugstore?«, fragte Kate, ehe sie sich der Uhrzeit versicherte.

Nicks schallendes Lachen erfüllte das Auto. »Wenn du auf eine Wiederholung scharf bist, dann auf jeden Fall.«

Kate verzog den Mund zu einer schmollenden Schnute. Sie lenkte den Wagen wieder auf festeren Boden und brachte Nick ins Hotel.
 

Sowie Kate den Wagen in die Einfahrt lenkte, vergewisserte sie sich nochmals, ob ihnen nicht doch ein verräterischer Krümel entgangen war. Ein Schnipsel, ein Tuch, das Kondom? Kate hoffte, dass sich Nick jener Beweisstücke diskret entledigte. Kate verschloss den Wagen und fischte in den Taschen ihrer Jacke nach dem Hausschlüssel.

»Mom?«, rief sie beim Betreten des Hauses. Sie knipste das Licht im Flur an, warf einen Blick in die Küche und fand ihre Mutter im Sessel sitzend und vor dem Fernseher schlafend vor. Als der Bildschirm aufgeregt flimmerte, Irmaline jedoch keinerlei Regung erkennen ließ, brach Panik in ihr aus.

»Mom? Mom!« Irmaline schreckte auf. Erleichtert ließ Kate die angehaltene Luft aus ihrer Lunge. »Mom, bist du wahnsinnig?«

Irmaline blinzelte gegen ihre aufgebrachten Worte an. »Beruhig dich, Kate!«

Wieder sammelten sich Tränen in ihren Augen. Kate schluchzte auf.

Irmaline winkte sie zu sich. Kate ließ sich auf der Lehne nieder und zog ihre Mutter in die Arme. »Ein Toter reicht fürs Erste, findest du nicht?«

Kate nickte schwach. »Ich dachte nur, ich ...«

»Keine Sorge, Kate. Ich werde dir und allen anderen noch eine ganze Weile erhalten bleiben, ob es euch nun gefällt, oder nicht.« Irmaline sah zu Kate auf, die nur ein schwaches Nicken zustande brachte.

Irmaline erklärte, dass sie es keine Nacht länger auf dieser vermaledeiten Liege, die Kate Bett schimpfte, aushielt. Noch immer wagte sie es nicht, im Ehebett zu schlafen, also zog sie es vor, auf der Couch zu nächtigen.

»Es war ein langer Tag, Kate. Geh ins Bett. Morgen wird – ... ach, wer weiß das schon?« Die Frau des Hauses ließ ein Zucken der Schultern erkennen. Sie zog ihr Kind in eine innige Umarmung und schickte Kate nach oben.

Kate hüpfte unter die Dusche und sollte recht behalten, was die Spuren der wilden Kapriolen mit Nick betraf. Kleine Flecken keimten dort, wo er nach ihrer Hüfte gelangt hatte, und einen anderen, heimtückischen Flecken machte sie oberhalb ihrer linken Brust aus. Sie schlüpfte in ihren Pyjama, betrat ihr Zimmer und langte nach dem Smartphone. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, ob sich Nick ein Zimmer mit seinen Brüdern teilte. Da das Telefon stumm blieb, lag der Verdacht nahe, dass Nick keine schlafenden Hunde wecken wollte. Bei einem Haufen hormongesteuerter, junger Männer, wäre es wohl ein leichtes, dem einen oder anderen durch Prahlerei und Provokation eine Information zu entlocken, die lieber geheim geblieben wäre.

Auch in dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken. Nicht nur, dass die Angst ihre kalten Klauen in sie schlug, auch mischten sich dann und wann und durchaus unwillkommen, die Fetzen des heutigen Tages in ihr Bewusstsein. Kate schloss die Augen nur, um auszuruhen, doch Ruhe fand sie nicht.
 

Bertram traf mit der Familie um Punkt halb sieben Uhr morgens ein. Die Jungs hatte er angewiesen Brötchentüte, Aufschnitt und alles andere ins Haus zu tragen.

»Wie hast du geschlafen?«, fragte Kate, für die anderen kaum hörbar, während sie Kaffeepulver in die Filtertüte schaufelte.

»Wie ein Stein«, gab Nick wahrheitsgetreu zurück, als das Schippgeräusch abrupt stoppte, fügte er hinzu: »Im Ernst, wirklich.«

»Teilt ihr euch eigentlich ein Zimmer?« Ihre Neugierde überwog und schlug die Zurückhaltung in die Flucht.

»Leider«, nuschelte er und trat beiseite, als David nach der Kühlschranktür griff.

»Dad sucht den Zucker«, sagte David. Kate und Nick tauschten einen Blick.

»Im Kühlschrank?«, schnaubte Nick.

David verengte die Augen. »Die Frage war an Tante Kate gerichtet.«

Alarmiert wandte sich diese den Hängeschränken zu, langte nach der Zuckerdose und drückte sie ihrem Neffen in die Hand.

»Danke vielmals.« David ließ ein Grinsen erkennen.

Kate schluckte sichtlich nervös. »Okay, klär mich auf!«

»Ich habe absolut keine Ahnung«, gab Nick zu und löste sich, der Sicherheit halber, aus der Nähe zu ihr.

Während des Frühstücks, als sich alle am langen Tisch im Esszimmer einfanden, wurde Kate schmerzlichst bewusst, das nunmehr und für immer jemand fehlen würde. Der Gedanke fraß sich ihr wie Säure durch die Eingeweide. Sie musste sich zwingen, an dem Kaffee zu nippen, um so eine Kleinigkeit in den Magen zu bekommen. Die Türklingel schreckte sie auf, Kate schob den Stuhl zurück und eilte zur Tür. Wie erwartet erschien Henrietta mit ihrem Schmink- und Frisierkoffer und bedeutete den Frauen, dass es an der Zeit sei, sich fertig zu machen.

Die Männer hatten sich ins Wohnzimmer oder nach draußen verzogen. Mit einem Haufen kleiner Lockenwicklern im Haar, huschte Kate am Wohnzimmer vorbei, doch Nick war schneller an der Tür, als sie ausmachen konnte. William schickte ihnen seine Frau vorbei und verabschiedete sich auf den Zeitpunkt des Aufbruchs. Dolly hielt direkt aufs Wohnzimmer zu.

»Brauchst du Hilfe?«, fragte Nick und nahm Kate in Augenschein. Diese schüttelte den Kopf und folgte der alten Nachbarin und engsten Vertrauten nach.
 

Wie fordernd Irmaline sein konnte, erlebten die Jungs am eigenen Leib, als die Zeiger unaufhörlich vorrückten. Kate schloss die letzten Knöpfe ihrer Bluse, als Dolly an ihre Tür klopfte.

»Hey, Katy«, sagte sie und trat ein. »Meine Süße, ich bin für euch da, wenn ihr etwas braucht.«

Kate schloss Dolores in eine Umarmung. »Ich weiß, Tante Dolly.«

»Das wird ein schwerer Tag, für alle von uns«, hauchte die alte Dame und Kate verspürte wieder die schweren Steine, die ihr im Magen lagen. Schniefend wischte sie sich die Tränen von den Wangen.

»Tante Dolly, ich darf noch nicht weinen«, krächzte sie.

Dolores seufzte. »Ich weiß, mein Schatz. Es tut mir leid.«

Dolly legte ihr eine Hand an die Wange, presste die Lippen zu einem schmalen, entschuldigenden Strich zusammen und verließ das Zimmer.

Kate wandte sich zu dem Spiegel um, der die andere Tür ihres alten Kleiderschranks bedeckte. Sie zupfte an den Ringellöckchen, schüttelte das Haar aus und strich sich einzelne Strähnen aus dem Gesicht. Sie war noch nicht bereit dazu, ihren Vater gehen zu lassen. Niemand war das und doch blieb der letzte Gang gewiss.

Kate ging die Stufen nach unten. Im Wohnzimmer band Sarah Dorian gerade die Krawatte. Kate zwang ihre Lippen zu einem Lächeln, als Irmaline hinter ihr auftauchte.

»Können wir?«, fragte sie und Kate schüttelte den Kopf. »Kate, bitte.«

Kate verbiss sich die Tränen, sog tief die Luft durch die Nase ein, begab sich in den Flur und haschte nach ihrer Jacke.
 

Um ihnen nicht noch mehr zuzumuten, hatte sich William bereiterklärt, Irmaline und Kate in seinem Wagen mitzunehmen. Kate rutschte auf den Beifahrersitz, während Dolly und ihre Mutter hinter ihr Platz nahmen. Bertram fuhr mit seiner Familie hinter ihnen.

Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen. Doch Schnee und Regen sagte der Wetterfrosch des örtlichen Kanals nicht voraus.

»Das hätte uns gerade noch gefehlt«, verkündete Dolly, als sie dem Wetterbericht im Radio lauschten. William stellte den Wagen nicht weit vom Eingang zum Friedhof ab. Bis auf die Turners und Bertrams Familie, waren noch drei weitere Nachbarpaare geladen, zu denen Albert guten Kontakt gepflegt hatte. Erleichtert stellte Kate fest, dass von der neugierigen Mariah Lanley nichts zu sehen war. Je näher sie Alberts letzter Ruhestätte kamen, desto schwerer wurden ihr die Beine. Da sich Irmaline bei ihr und Bertram untergehakt hatte, konnte sich Kate nicht aus dem Staub machen.

Als das Gestell mit dem Sarg in Sichtweite kam, wurde ihr mit jedem Schritt elender zumute. Reverend Philipp Montgomery wartete bereits neben dem aufgestellten Portrait ihres Vaters. Eine Schale mit Erde stand vor dem Sarg, ein Blumengesteck auf dem Deckel. Reverend Montgomery begrüßte erst Irmaline, sprach ihr nochmals sein Beileid aus, dann folgten Bertram und Kate. Eine Handvoll weißer Stühle standen in dreier Reihe vor dem Reverend. Irmaline fand sich zwischen ihren Kindern wieder, Kate zu ihrer Linken, Bertram auf der anderen Seite. Neben Bert hatten sich Sarah und Dorian eingefunden. Dolores und William nahmen mit Nick und David die Plätze hinter Kate und ihrer Familie ein. Die anderen Besucher verteilten sich auf die noch freien Sitze.

»Lasst uns beginnen«, erhob der Mann die kraftvolle Stimme, doch was er sagte, hörte Kate nur am Rande. Ihr Blick lag auf der hölzernen, glänzend lackierten Kiste, die ihren Vater barg. Mit jedem Wort, das das Leben von Albert Henry Wallace beschrieb, schnürte sich ihr mehr und mehr die Kehle zu.

»Musik hatte einen großen Einfluss auf Albert. Aus diesem Grund bat die Familie darum, dass ihn diese gewählten Musikstücke auf seiner Reise begleiten mögen.« Reverend Montgomery wandte sich dem CD-Player zu, der auf einem kleinen Hocker hinter ihm stand. Erst jetzt fiel Kate das Abspielgerät auf.

»Dieses Lied hatte für Albert und Irmaline Wallace eine ganz besondere Bedeutung«, fuhr der Reverend fort. »Als sich beide am 12. Mai 1974 das Ja-Wort gaben, war es dieses Lied, damals noch von Elvis neuinterpretiert, das beide als Hochzeitstanz für sich auserkoren. Doch Alberts liebste Varitante, ist - war wohl jene, die Rod Stewart aufnahm. Hören wir nun Have I Told you lately that I love you

Mit jenen Worten erklang die rauchige Stimme des britischen Sängers. Irmaline klammerte sich haltsuchend an ihre Kinder und weinte bitterlich. Schiefen und Schnäuzen begleiteten die letzten Töne, ehe sich Reverend Montgomery dem nächsten Stück widmete.

»Wohl kaum ein anderes Lied schafft es so treffend, die Beziehungen zwischen einem Vater und seinem Sohn so widerzugeben, wie es Cat Stevens mit dem Lied Father and Son tat. Ein Wunsch seines Sohnes Bertram, ihm auf diesem Wege Tribut zu zollen.«

Die langsamen Klänge einer Akustikgitarre waren es, die Bertram mit Fassung ringen ließen. Sarah langte nach seiner Hand, Dorian streckte den Arm nach ihm aus und auch Nick und David rückten vor, um ihrem Vater beizustehen.

»Ich muss zugeben, dass mich die hier anwesende junge Dame ein wenig verblüfft zurückließ. Bis zu letzt hatte sich Kate geweigert, mir ihre Entscheidung mitzuteilen, welchem der beiden Lieder, die sie für ihren Vater ausgesucht hatte, wir nun lauschen würden. Eine Herzentscheidung, die nur sie allein treffen konnte.« Wieder wandte sich Reverend Montgomery dem CD-Player zu. Der ersten Töne der Rockballade »Iris« drang aus den Lautsprechern, neu aufgenommen von dem irischen Sänger Ronan Keating, und Kates Wunsch, ihrem Vater nahe zu sein.

Unter zitternden Beinen erhob sich die Gesellschaft. Irmaline befreite sich aus den klammen Händen ihrer Kinder. Als der Sarg herabgelassen wurde, brach für Kate und alle Anwesenden eine Welt zusammen. Ihr krampfte das Herz, der Hals war ihr wie zugeschnürt und die Zunge pappig schwer im Mund. Unter bebenden Fingern klaubte Kate eine Handvoll Sand auf, während der Reverend weitersprach. Alles war ihr dumpf, matt und farblos. Die Erde traf den Sarg und Kate hatte große Mühe, auf den Beinen zu bleiben. William war ihr eine Stütze.

»Sieh mal, kleine Kate«, bat Billy, doch Kate sah nur verschwommene Flecken. »Sie nach oben, kleine Kate.«

Sie folgte seinem Wunsch, und als sage ihnen Albert Lebewohl, brach die Wolkendecke auf und schickte Sonnenstrahlen auf die Trauernden nieder.

»Das ist verdammt krass«, hörte sie David sagen. »Und verdammt gruslig.«

Vielleicht war es der Situation oder der Überforderung geschuldet, doch Kate brach, froh und erleichtert, in schallendes Gelächter aus.
 

***
 

Kates Blick wanderte zu dem Foto, das Irmaline nach der Beisetzung und nachdem auch alle anderen Gäste das Haus der Familie Wallace verließen, auf die Anrichte im Wohnzimmer gestellt hatte. Albert lächelte, freundlich, glücklich.

»Kate?« Irmaline trat ins Wohnzimmer und ließ sich in den Sessel sinken. Kate wandte sich ihrer Mutter zu. »Kate, ich habe eine Entscheidung getroffen.«

Angst wallte in ihr auf, sie musste sich zur Ruhe mahnen. Schwer schluckte Kate an dem Kloß in ihrer Kehle.

»Kate, ich ziehe weg. Ich verlasse Dayton, ich verlasse Ohio«, brachte Irmaline hervor.

Kate stand der Mund offen. »Was? Ist das ein schlechter Scherz?«

Mit ernstem Gesicht schüttelte ihre Mutter den Kopf. Kate entfloh ein Schnauben.

»Mom, was soll das heißen – weg aus Dayton, weg aus Ohio? Wo willst du denn hin? Für Florida bist du noch nicht alt genug!«, protestierte Kate.

»Nichts von alldem, Kate!«, sagte Irmaline mit Nachdruck.

Verdutzt und verdattert blinzelte sie gegen das Gehörte an.

»Ich ziehe zu Bertram, nach England!« Damit war für Irmaline jegliche Diskussion vom Tisch.



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