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Lights of Eden

The Envoy
von

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New Atlanta

II. New Atlanta
 

Es war kalt. Keiner der Großstädter war es gewöhnt unter freiem Himmel zu schlafen. Auch Jonathan nicht. Die Kälte war ihm schon viel zu tief in die Glieder gekrochen, als dass er noch hätte schlafen können. Er hatte sich hinter dem verkohlten Baumstumpf verkrochen, auf dem er vorher gesessen hatte und starrte schon seit Stunden schweigend in die Flammen des Lagerfeuers, das sie gemeinsam errichtet hatten. Obwohl doch fast kein brennbares Holz mehr zufinden gewesen war.

Es war seltsam, fand Jonathan, dass gerade er überlebt hatte, da die Todeswelle in seiner unmittelbaren Nähe ausgebrochen war. Sehr seltsam. Normalerweise hätte allein der Druck ausgereicht, ihn in der Luft zu zerreißen.

Stalker drehte sich vom Feuer weg um seinen Rücken zu wärmen. Plötzlich bemerkte er, dass er nicht der Einzige war, der nicht schlafen konnte. Der alte Mann von vorhin, starrte ihn durchdringend an. Jonathan zuckte zusammen als ihn der Kerl von oben herab durch seine glasigen Augen anblickte.

"Meine Güte, haben Sie mich erschreckt!", zischte er den Greis an.

"So ist das Leben.", sagte dieser, "Besser du gewöhnst dich dran!"

Jonathan schnaubte verächtlich. "Warum sind Sie wach?"

"Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund wie du."

"Weil Ihnen kalt ist?"

"Nein." Der Alte lächelte. "Weil ich dir Hoffnung geben will und muss."

"Was?!" Jonathan verstand die seltsame Art des Mannes nicht.

"Du weißt was ich meine. Du machst auf mich einen sehr instabilen Eindruck, mein Freund. Hast du Familie?"

"Was soll ich sein? Instabil?!"

"Beantworte meine Frage!"

"Nein, habe ich nicht!!!", fuhr Jonathan den Alten an. Das Gespräch verlief nämlich langsam in eine ungewollte Richtung.

Jonathan hatte schon seit er 15 war, versucht möglichst viel Abstand zu seiner Verwandtschaft zu gewinnen. Jedes Mal wenn er jetzt in Familienerinnerungen schwelgte, lief es ihm kalt über den Rücken. Seine Eltern allein waren schon ein Fall für sich. Seine Mutter: Immer darauf bedacht, dass ihrem einzigen Söhnchen auch ja nichts passierte. Zum Beispiel hätte er sich ja in seinem Kleiderschrank versehendlich an einem Gürtel aufhängen können oder von seinem ausklappbaren Wandbett zerquetscht werden können, etc. und Jonathan hätte sich nach den hysterischen Rettungsanfällen seiner Mutter sogar freiwillig unter das Bett gestellt und den kleinen Display an der Seite betätigt. Möglichst schnell und schmerzlos.

Jonathans Vater hingegen war Ganztagsarbeiter bei einem altmodischen Bauunternehmen und lies sich nur selten blicken, was häufig zu Zankereien zwischen ihm und seiner Frau führte. Sie fühlte sich überfordert, er fühlte sich untergebuttert und Jonathan fühlte sich einfach nur genervt. Das war vielleicht auch der Grund, warum er sich, sobald er 18 war, nach Molington-Town abgesetzt hatte.

Bei diesem Gedanken musste er laut aufseufzen. Dabei schielte er zu dem Mann hin, der immer noch neben ihm saß und bemerkte, dass dieser von einem Ohr zum anderen grinste.

"Ja, ja. Mit der Familie ist das so eine Sache.", sagte der alte Herr, "Ich kenne das."

"Ich dachte Sie wollten mir Hoffnung geben und mich nicht zum Selbstmord anstacheln." Stalker drehte sich leicht zur Seite um sich ein wenig abzulenken.

"Wie heißen Sie eigentlich?", fragte er schließlich.

"Thomas Hikes ... Kannst mich Thomas nennen."

"Aha. Thomas." Jonathan runzelte die Stirn. "Sagen Sie mal, Thomas. Was werden Sie jetzt tun? Wohin werden Sie gehen?"

Hikes schob seine Hand in die kleine Brusttasche seines Jacketts und holte einen flachen Display heraus. Ein Satellitenatlas. Er tippte den Bildschirm an und lies in somit kurz aufflackern. Dann drückte er seine Lippen an das winzige Mikro und sprach das Suchwort hinein.

"New Atlanta."

3 Sekunden Wartezeit und man hatte eine detailgetreue Ansicht der gesuchten Stadt in Echtzeit.

Ein wirklich beeindruckendes Gerät, dachte Jonathan.

Aber diese Stadt sah mittlerweile bestimmt genauso aus wie alle anderen, denn auch New Atlanta gehörte zu den fünf Megastädten Eurasias. Sie war die jüngste neben Helenenburg, Hieiko-Chaba, Porto Macira und St. Elias und lag ziemlich weit im Südosten der Kontinentalplatte.

Jonathan war noch nie dort gewesen, da er New Atlanta mit dem Auto, von Molington-Town aus, erst in zwei Tagen hätte erreichen können und die Preise einer Übernachtung in einem der sündhaften teuren Starlight-Hotels sowieso sein Budget um mindestens das dreifache überstiegen. Und aus einem weiteren Grund: Sein hart verdientes Arbeitslosengeld (auch bekannt unter dem angsteinflössenden Namen "Hartz 21") landete nämlich fast täglich in den Kassen diverser Zuhälter, die einem dann natürlich freundlich grinsend eines ihrer Freudenmädchen für 56 Eurachips pro halbe Stunde unterschoben.

Jonathan verstand es zwar den meisten Frauen den Kopf zu verdrehen, aber fand immer nach wenigen Tagen heraus, dass seine ach so große Liebe, die er aufgegabelt hatte, doch nicht seinen Wünschen entsprach.

Er war jemand, der ständig nach der Richtigen suchte, aber doch nicht umhin konnte, jedes weibliche Wesen, das nicht bei drei auf den Bäumen war, hemmungslos anzugraben.

Deswegen hatte er sich nach einiger Zeit auf eine eher unverbindlichere Sache festgelegt: Auf die käufliche Liebe.
 

Nachdenklich betrachtete er den kleinen Bildschirm, als ihm plötzlich etwas auffiel.

"Aber das ist ja unmöglich!" Jonathan riss die Augen auf.

"Ja, nicht wahr?", sagte der Alte nachdenklich, "Ich konnte es auch kaum glauben, dass auch nur eine Stadt völlig verschont geblieben ist. Ich habe vorhin ein paar Leute darüber reden gehört und sofort alles nachgeprüft."

"Ich versteh das nicht! Wie kann das sein?"

"Das weiß keiner. New Atlanta verfügt, meines Wissens nach, über keine Verteidigungssysteme."

Der Satellitenatlas gab ein leises Knistern von sich und die Grafik verschwand.

"Auch das noch!" Argwöhnisch starrte Hikes gen Himmel. "Jetzt haben sie sogar schon die Navigationssatelliten erwischt."

"Wer sind die eigentlich? Und was wollen sie?", fragte Jonathan, der schon den halben Tag auf eine solche Gelegenheit gewartet hatte.

"Du wiederholst dich, mein Junge!" Thomas richtete seinen Blick wieder auf Jonathan. "Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung von alledem."

Ein bedrückendes Schweigen tratt ein. Schließlich entschied sich Jonathan Stalker zu schlafen und rollte sich wieder hinter den Baumstumpf zusammen.

Dennoch sagte er leise, doch deutlich vernehmbar: "Ich wette kein Mensch hat damit gerechnet."

"Das bezweifle ich doch stark!", sagte der alte Mann und lies ein empörtes Glucksen vernehmen, bevor er sich selbst zu seinem Schlafplatz begab.

Jonathan jedoch wollte nicht weiter über die seltsamen Sätze des Mannes nachdenken, denn er brauchte seine Kraft.

Es sollte eine kurze Nacht werden.
 

Am nächsten Morgen rappelte Jonathan sich verschlafen auf. Mitten in der Nacht war das Feuer erloschen und ihm ging es entsprechend schlecht. Schockiert musste er auch noch feststellen, dass die meisten Menschen schon längst aufgebrochen waren. Die kleine Gruppe, die ihm noch am nächsten war, stand schon längst auf dem kleinen Hügel, der 500 m von Stalker entfernt war.

Er keuchte und suchte hastig am Boden nach seinem Rucksack, aber da war er nicht mehr. Als sich Jonathan wieder aufrichtete sah er ihn. Thomas Hikes hielt ihm den Rucksack direkt unter die Nase.

"Na komm schon! Wir sind schon spät dran!"

"Warum haben Sie mich nicht geweckt?", schnauzte Stalker und griff energisch nach seinem Gepäckstück.

Thomas hatte ein liebevolles väterliches Lächeln aufgesetzt. Dieses tröstete Jonathan urplötzlich über die ganze Sache hinweg. Ein seltsames Gefühl, dachte er.

Er fühlte sich das erste Mal seit einigen Jahren wieder geborgen.

"Ach, ist ja auch egal!" Schnell hängte er sich den Rucksack über seine Schultern.

Hikes gab ihm einen sanften Schubs nach vorne. "Wir müssen uns beeilen. Wahrscheinlich werden wir Atlanta City erst in einer Woche erreichen."

"Was?! Solange?" Jonathan starrte Hikes entsetzt an.

"Hör auf zu mäkeln! Geh schon!"

Immer noch reichlich geschockt stolperte Stalker über die Landstraße. "Und was sollen wir solange essen und trinken?!"

"Frag noch mal, wenn du Hunger hast, Kleiner!"

"Aber ich hab doch ... Ist ja schon gut!"

Der strenge Blick von Thomas brachte Jonathan zum schweigen. Irgendwie bekam er plötzlich das Gefühl, dass er besser die Klappe halten sollte.
 

Der strahlende Punkt am Himmel ging langsam unter. Es war wieder Abend geworden und ein komisches Knurren hallte die Ebene entlang.

"Scheiße, hab ich einen Hunger!" Jonathan hielt sich seinen revolutionierenden Bauch.

"Tja", sagte Thomas und stellte seinen Koffer ab, "Da du das jetzt schon zum zweiundfünfzigsten Mal gesagt hast, muss ich dir ja mal Gehör schenken."

"Schön, aber was sollen wir hier draußen zu essen finden?" Stalker stemmte die Hände in die Seiten und suchte die Ebene nach Essbarem ab.

"Überlass das ruhig mir." Thomas löste die Schnallen an seinem Koffer und öffnete ihn.

Eine Weile lang kramte er darin herum und holte schließlich eine längliche Metallstange heraus. Ein Elektroschocker.

"Was zum Teufel wollen Sie damit?!"

"Ich werde versuchen Fleisch aufzutreiben, falls ich nichts finden sollte, dann haben wir immer noch dieses komische Gras da." Hikes deutete auf die vertrockneten und halb schwarzen Pflanzenbüschel.

Jonathan vertraute dem alten Mann, aber er fragte sich auch, ob Thomas auf Grund seines Alters in dieser Mondlandschaft fündig werden würde und rupfte deshalb schon einmal einige Grashalme heraus, um sie sorgfältig auf einen Haufen zu legen.

Hikes war schon seit einigen Minuten hinter einer Mauer aus Sand, Asche und Gestein verschwunden, als Jonathan plötzlich ein seltsam entfremdetes Geräusch hörte. Es klang so ähnlich wie das Schreien eines Babys.

Er wird doch nicht, dachte Stalker panisch, griff automatisch in die vordere Tasche seines Rucksackes und schloss seine Finger fest um den Griff seines Materiemessers.

Wieder ertönte der spitze Schrei und aus einer hervorgewirbelten Sandsäule tratt Thomas hervor. Er hielt etwas Kleines, Zappelndes in der Hand. Etwas Pelziges.

"Was ist das?", fragte Jonathan mit etwas hysterischer Stimme, als ihn das vermeintliche Ding zornig aus seinen Augen anfunkelte.

"Das, mein lieber Junge," Thomas hob das strampelnde Etwas hoch. "ist unser Abendessen."

"Aber ... aber ist das nicht eine Katze?" Stalker wich langsam zurück.

"Ich bin beeindruckt! Du scheinst ja doch nicht ganz auf der Strecke geblieben zu sein."

"Das ist unmöglich! Diese Tiere können auch in der Wildnis überleben? Und ich dachte sie bräuchten bestimmte Bedingungen."

Jonathan kannte diese Spezies nur aus dem Schulunterricht. In diesem Jahrhundert war es fast unmöglich geworden sich ein Haustier zu halten. Diese verwöhnten Biester vertrugen die Tablettennahrung nicht und mussten so von teuren Fleischrestbeständen ernährt werden. Deshalb wurden sie meist nur von reicheren Familien gehalten.

"Was guckst du so?!" Thomas Hikes packte die Katze noch fester am Nackenfell, was ziemlich brutal aussah.

"Es ist nur ... Kann man das essen?"

"Ich weiß nicht, aber wenn wir das Fell abgezogen haben, müsste es gehen." Der alte Mann streckte Jonathan die Katze entgegen. "Hier, halt mal! Ich geh Feuerholz suchen."

Stalker packte das Tier zaghaft zwischen den Hinter- und Vorderläufen und hielt es, soweit es ihm seine Arme erlaubten, vom Körper weg.

So verharrte er einige Minuten, bis er ungeduldig in die Dämmerung hinaus fragte: "Dauert das noch lange? Sie könnten mir ja mal helfen!"

Nichts.

"Na klasse!", murmelte er schließlich resignierend.

Das kleine Monstrum in seinen Händen fauchte, hielt aber still.

"Na gut." Jonathan kniete sich hin und setzte die Katze auf seinen Schoß. "Du wolltest es ja nicht anders."

Seltsamerweise ergriff sie nicht die Flucht, sondern beschnupperte stattdessen ihr Gegenüber.

"Nein, nicht!" Doch Jonathans Abwehrversuche zeigten keine Wirkung. Sie trieben das verspielte Tier nur noch weiter an.

Nun stemmte es plötzlich seine Vorderpfoten gegen die Brust des jungen Mannes und lies ihn vor Schreck derartig zusammenfahren, dass er hintenüber kippte und hart auf dem kargen Steppenboden landete. Erschreckt durch dieses Ereignis machte die Katze einen Buckel und verschwand hinter dem nächsten Sandhügel.

"Was ist denn hier los?!" Thomas war zurückgekehrt.

Er trug einen großen Stapel Holzscheite.

"Ich wollte ... doch ... nur ...", stammelte Jonathan, der immer noch reichlich geschockt war.

"Ich seh schon! Du bist nicht grad der Stärkste.", sagte Hikes kopfschüttelnd, "Lässt dich sogar von einer Katze überwältigen! Dafür musst du jetzt Feuer machen!"

Widerwillig fing Stalker an, die trockenen Holzscheite aneinander zu reiben. An diesem Abend würde er wahrscheinlich nicht satt werden. Sein Blick fiel auf sein gepflücktes Büschel Gras, das sich nun durch den aufkommenden Wind langsam auf der Ebene verteilte.
 

Die nächsten drei Tage passierte nur wenig. Die Ernährung variierte zwischen dürren Pflanzenwuchs, einigen Nahrungstabletten, die die beiden in alten Hausruinen gefunden hatten, und einem seltsam anmutendem Vogel, den Jonathan erst nicht anrühren wollte. Ansonsten war die gesamte Landschaft nicht sehr ansehnlich. Wie schon immer. Im Jahre 2151, also genau zu diesem Zeitpunkt, existierten nur noch Megametropolen. Keine Dörfer. Der Grund dafür war eine Reihe von Kriegen, die erst vor einem halben Jahrhundert aufgehört hatten zu wüten. In diesen Kriegen gab es fast keine Bodenkämpfe mehr. Sie erfolgten meist auf biologischer und chemischer Basis und verseuchten somit den Großteil der bewohnbaren Gebiete. Nun hatte sich die Menschheit um mehr als die Hälfte reduziert. Der meisten Menschen dieser "Kriegsgeneration" waren durch die strategische Verseuchung gänzlich unfruchtbar geworden und die Geburtenrate sank fast auf Null. Aber nicht nur unter den Menschen hatte die Kriegsjahre Spuren hinterlassen. Die giftigen Chemikalien hatten den gleichen Einfluss auf die Tier- und Pflanzenwelt. Das war auch der Grund dafür, dass man die Ernährung derartig umstrukturieren musste. Die Seen und Flüsse waren einfach ausgetrocknet oder mit Krankheitserregern infiziert, deshalb wurden riesige unterirdische Wasserreservoirs gebaut, die einen speziellen Schutz besaßen, damit der saure Regen nicht durch die Erde hindurch in das verbliebene Trinkwasser sickerte. Auch in weiteren Punkten hatte das Syndrom Konzept, das es schon seit Beginn des 21. Jahrhunderts gab, angeschlagen. Da es keine großen Wälder mehr gab, wurde der fehlende Sauerstoff durch künstliche Fotosynthese gewonnen und als Energiegewinnung (wegen fehlender Rohstoffe) wurden erneuerbare Energiequellen genutzt, wodurch sich auch die Ozonschicht wieder erholte.

Die Menschheit würde sobald keinen neuen Krieg führen können, so hoffte man.

Jonathan war froh nicht in dieser unruhigen Zeit geboren worden zu sein, vielleicht hätte er dann auf Grund der Verseuchung irgendwelche Auswüchse gehabt, oder so was Ähnliches.

Aber jetzt im Moment konnte er sich noch nichteinmal über die Tatsache freuen ein vollkommen gesunder Mensch zu sein. Das Einzige was er tun konnte war der Sonne beim Auf- und Untergehen zuzusehen und sich körperlich über Wasser zu halten und, was sehr wichtig war, nicht durchzudrehen.

In der Mitte des vierten Tages geschah etwas, was Jonathan verblüffte und zugleich auch faszinierte. Während er den schleierhaften Luftspiegelungen am Horizont zusah, bemerkte er aus dem Augenwinkel heraus einen Schatten. Ruckartig zuckte sein kopf in die entsprechende Richtung. Und tatsächlich. Hinter der kleinen Sanddüne war etwas. Thomas war ebenfalls stehen geblieben und versuchte Jonathans Blick zu folgen.

"Ach, du liebes Bisschen!", sagte er amüsiert.

Das kleine Etwas zuckte zusammen, als der Alte laut lachte. Das Nackenfell sträubte sich und die Augen verengten sich zu Schlitzen.

"Warum ist sie uns gefolgt?", fragte Stalker und starrte wie gebannt die grau-schwarz getigerte Katze an.

"Sie wird Hunger gehabt haben. Wahrscheinlich hat sie auch die Überreste des Vogels vor zwei Tagen gefressen." Thomas stellte sein Gepäck ab. "Wie auch immer. Diesmal wirst du das Feuerholz suchen und ich halte dieses kleine Biest!"

Er war gerade dabei den langen Elektroschocker hervor zu kramen, als Jonathan nach vorne stürzte und ihn am Handgelenk packte.

"Nicht!"

Thomas sah ihn verwundert an. "Warum nicht?"

"Weil ... weil ..." Er atmete tief ein. "Weil ich Vegetarier bin!"

Innerlich schlug er sich vor den Kopf. Er hatte doch erst vor ein paar Tagen gierig einen Vogel verspeist und außerdem: Was sollte Thomas daran hindern dieses Geschöpf nicht alleine zu essen.

Als könne der alte Mann Gedanken lesen, fing er erneut an zu grinsen. "Gib´s doch zu! Das kleine Tier hat es dir angetan!"

Betreten starrte Jonathan zu Boden.

"Ich verstehe ..." Seufzend klappte Hikes seinen Koffer wieder zu.
 

Den ganzen Tag lang versuchte Jonathan mit der Katze anzubandeln. Der Versuch glückte als Thomas am Abend eine Klapperschlange grillte. Unter den strengen Blicken des Grauhaarigen, warf der junge Mann dem Tier immer wieder kleine Fleischstückchen zu und freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind wenn die Katze sich gierig den Brocken entgegen stürzte.

Nach einer Weile bekann Thomas ein Gespräch: "Wir sind jetzt schon seit ungefähr sechs Tagen unterwegs. Bald werden wir da sein."

Jonathan Stalker wendete seinen Blick von der jetzt schlafenden Fellkugel ab und blickte seinen Weggefährten aufmerksam an.

Dieser redete ungestört weiter: "Die Unterkünfte dürften rar sein und die Preise immens hoch. Wie wäre es wenn wir uns eine Wohnung teilen?"

"Ich habe kein Geld.", fiel Jonathan auf, denn er hatte in der Hektik seines Aufbruches seine Portemonnaie liegengelassen.

"Ach, irgendwie werden wir schon über die Runden kommen." Der Alte winkte ab. "Wenn nicht, können wir ja immer noch die Katze verkaufen. Die bringt bestimmt ne Menge Geld."

Schockiert blickte Stalker ihn an.

"Es ist besser du schläfst jetzt! Morgen wird ein schwerer Tag!", sagte Thomas und legte sich selbst in den warmen Sand.

"Ich frage mich, wann die Tage endlich mal wieder leichter werden.", murmelte Stalker vor sich hin und drehte sein Gesicht von der schlafenden Katze weg, um einschlafen zu können.
 

12 Stunden später standen alle drei schon längst wieder auf den Beinen und hatten schon sieben Kilometer zurückgelegt. Die Landschaft war schon seit zwei Tagen hügeliger geworden und machte das Sehen auf einer gewissen Distanz fast unmöglich. Umso mehr wurde das Hörvermögen gefördert.

"Wir sind bald da." Thomas hielt den Satellitenatlas circa eine Hand weit von seinem Gesicht entfernt und studierte die Karte.

"Wie kannst du das so genau wissen? Bei dem ganzen Sand hier." Jonathan blinzelte umher. "Außerdem könnten die ja die Satelliten manipuliert haben."

Thomas zuckte mit den Schultern und hämmerte plötzlich auf das Gerät in seiner Hand ein, da das Bild in einer Störung verschwand. "Es zieht ein Sturm auf!"

Stalker blickte nach oben.

"Nein, nicht so ein Sturm! Ein Sandsturm!" Thomas beschleunigte sein Tempo. "Komm mit, ich zeig´s dir!"

Verwirrt folgte ihm Jonathan und musste ein weiteres Mal feststellen, wie schwer es war eine Sanddüne hinauf zu laufen.

Je näher Jonathan dem Gipfel des Hügels kam, umso mehr nahm er ein seltsames Geräusch war. Eine Art Surren oder Summen, wie von elektrischem Strom. "Thomas! Was ist das? Hörst du das auch?"

Hikes war inzwischen oben angekommen, gab aber keine Antwort.

"Verdammt noch mal!", knurrte Stalker als mal wieder seine Knie nachgaben und er haltlos vornüber stürzte. "Thomas! Siehst du was? Sind wir schon da?"

"Nicht ganz, aber wir sind auf dem richtigen Weg ...", erwiderte der alte Mann, als Jonathan neben ihm auftauchte und erstaunt zusammenzuckte.

Das surrende Geräusch war schlagartig lauter geworden und kam aus allen Richtungen.

"O mein Gott ..." Dem Jungen verschlug es die Sprache und er musste sich ersteinmal aufrichten, weil er die letzten Meter kriechend zurückgelegt hatte.

Vor ihm erstreckte sich eine weite Ebene, so weit wie das Auge sehen konnte. Und das war nicht sehr weit, da eine riesige Staubwolke in der Ferne auf sie zu kam. Aber das war es nicht, was Jonathan und Thomas so beeindruckte, sondern die Tatsache, dass die gesamte Ebene von hunderten von Windkraftwerken bedeckt war, die unabhängig voneinander mit Hilfe der Windenergie Strom erzeugten. Das war kein Vergleich zu den paar "Windmühlen" von Molington-Town. Das hier war die Energiequelle für eine weitaus größere Stadt.

Fassungslos starrte Jonathan die riesigen Propeller an, die in ungefähr in einer Höhe von 200 Meter und einer geschätzten Spannweite von zwei Fußballfeldern ihre Runden drehten und vehement summend Strom lieferten.

"Beeindruckend, was?", flüsterte Jonathan.

Thomas hatte sich jedoch schon wieder von dem imposanten Anblick losgerissen und steuerte zielstrebig eine dieser Bauten an. "Komm! Es ist besser, wenn wir hier solange warten bis der Sturm vorüber ist."

Er hatte recht. Die Wand aus Staub und Sand war deutlich näher gekommen.

"Wo ist die Katze?", fragte Stalker.

"Ist doch egal!", sagte Thomas, ergänzte dann aber schnell, "Die wird sich schon in Sicherheit gebracht haben."

Der Alte war gerade dabei die kleine Metalltür zu öffnen, als Jonathan plötzlich etwas brüllte, jedoch von den Nebengeräuschen übertönt wurde.

"Was?!" Thomas hatte nicht verstanden.

Zur Aushilfe deutete der junge Mann in Richtung Staubwolke. Dort bewegten sich fünf Schatten aufgeregt hin und her. Es waren Menschen und sie kamen näher.

Thomas riss die Tür mit einem Ruck auf und gab Jonathan ein Zeichen. Doch dieser rührte sich nicht.

"Komm jetzt!", schrie Hikes, konnte aber gegen den nahenden Sturm nicht ankommen.

Die fünf Fremden waren nur noch einige Meter von Jonathan Stalker entfernt und Thomas gab endlich nach. Er öffnete die Tür noch weiter, damit jeder so schnell wie möglich hindurch konnte. Wortlos, aber sichtlich dankbar, drängten sich die zwei Frauen und drei Männer unterschiedlichen Alters an Thomas vorbei ins Innere der Windkraftstation.

Den Raum, den sie betraten, nahm größtenteils der gläserne Fahrstuhl ein, der nach oben führte. Dorthin, wo sich die ganzen Sicherungen und Schaltkreise der Anlage befanden.

Von draußen drang das Rauschen des Sturmes herein, der jetzt über der Ebene wütete, ansonsten herrschte absolute Stille. Keiner wagte etwas zu sagen. Die fünf Fremden waren erschöpft und hatten sich an eine Wand gekauert. Jonathan stand mitten im Raum und blickte von einem zum anderen. Niemand kam ihm bekannt vor. Schließlich entschloss er sich den Fahrstuhl etwas näher zu betrachten, denn schließlich hatte er schon seit fast einer Woche keine Elektronik gesehen, bis auf den simplen Satellitenatlas von Thomas. Jonathan drückte auf den silbernen Knopf, der kurz darauf die Tür des Fahrstuhles aufgleiten lies, und stieg ein. Neugierig untersuchte er die Tafel mit den Stockwerken. Sichtlich enttäuscht musste er feststellen, dass es nur drei gab, bis auf ... Er hielt inne. Sein Blick wanderte von der aufleuchtenden 1 auf die

darrunterliegende -1. Stalker zog die Augenbrauen hoch und berührte die Taste. Der Fahrstuhl schloss sich und setzte sich geräuschlos in Bewegung. Angekommen in der unterirdischen Etage, tat sich vor dem Jungen ein endlos langer Tunnel auf. Wände und Boden waren mit wasserabweisenden ockerfarbenen Linoleum ausgekleidet und es war entsprechend kühl und steril. Die durchsichtige Tür öffnete sich zur Seite hin und Jonathan trat auf den erleuchteten Gang hinaus, durch den eine Reihe von Rohren führte, in denen sich wahrscheinlich Kabel befanden. Das helle Licht stammte von den langen Neonröhren, die den gesamten Tunnel entlang angebracht waren, im hinteren Teil jedoch schon bedenklich flimmerten. Er drehte sich einmal im Kreis. Hinter ihm ging das Gewölbe genauso lang weiter und ein kühler Wind wehte hindurch. Das Geräusch, das er dabei verursachte, war irgendwie ... angsteinflößend.

Jonathan drehte sich wieder zurück und da sah er es. Dort hinten, wo sich die kaputte Neonröhre befand stand etwas. Stalker konnte es nicht genau erkennen. Es war an die

2 ½ Meter groß und füllte somit fast die gesamte Höhe des Tunnels aus. Es hatte lange Gliedmassen und sah irgendwie abgemagert aus. Der Brustkorb war klar erkennbar. Jonathan konnte die Augen des Wesens in der Dunkelheit zwar nicht sehen, aber er erkannte wie sich die restlichen Neonröhren darin spiegelten. Mit Entsetzen beobachtete er, wie sich am Kopf des Geschöpfes etwas bewegte. Jonathan hielt die Luft an. Es war eine Art riesiger Tentakel, die sich wanden und aufbäumten, bis sie mit einem einzigen schnellen Ruck zu allen Seiten ausscherten.

Nun schrie er und erwachte aus seiner Schreckstarre. Er drehte sich um und stellte mit rasendem Herz fest, dass sich die Tür des Fahrstuhles mittlerweile wieder geschlossen hatte. Doch er wagte es nicht noch einmal nach hinten zu schauen, denn er wusste es war noch da. Stattdessen drückte er wie verrückt den silbernen Knopf. Hinter sich konnte er deutlich das Klackern der Schritte auf dem Linoleum hören und das versetzte ihn in Todesangst.

"Oh, Gott! Oh, lieber Gott! Lass mich nicht sterben! Nicht jetzt! Nicht hier!"

Die Tür glitt auf. Jonathan zwängte sich hinein und fing wieder an auf den Armaturen herumzuhämmern. Nun konnte er genau beobachten, wie der Alien den Gang entlang auf ihn zustürzte. Die Tentakel streckten sich gut drei Meter weiter vor und hatten schon fast den Fahrstuhl erreicht, als sich dieser schloss und nach oben fuhr. Durch die Glaswand beobachtete Jonathan, wie der Außerirdische stehen blieb und ihm mit seinen tiefschwarzen Augen nachstarrte. Plötzlich lies er einen solchen Schrei von unbegreiflichen Ausmaßen ertönen, dass der Fahrstuhl erzitterte. Es war ein Ton, den man nicht in Worte fassen konnte. Weder Mensch, noch Tier, höher als Ultraschall und von einer Intensität, die kein Computer je hätte erzeugen können.Reflexartig presste er sich die Hände auf beide Ohren und kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, tauchte vor im das Erdgeschoss auf. Die Leute waren aufgesprungen und Thomas kam auf ihn zugeeilt.

"Was war das?!" Anscheinend hatten sie den Schrei ebenfalls gehört.

Jonathan starrte ihn mit angsterfüllten Augen an. Plötzlich hob sich der Fahrstuhl aus seiner Verankerung und durch die Ritzen an den Seiten, schlängelten sich vielgliedrige Tentakel am Boden entlang auf die kleine Menschengruppe zu. Nun gab es kein Halten mehr. Während hinter ihnen der Fahrstuhl nach oben geschleudert wurde, versuchten sich die sieben in Panik geratenden Menschen alle gleichzeitig durch die Ausgangstür zu zwängen. Jonathan schaffte es als Dritter nach draußen. Kurz nach ihm, kam Thomas heraus gestürzt. Die zwei Frauen und einer der drei Männer konnten sich ebenfalls noch rechtzeitig ins Freie retten. Die anderen beiden riss es von den Füßen. Der Alien war durch die Lücke im Boden, die der Fahrstuhl hinterlassen hatte, hinauf geklettert und verging sich nun an den zwei zurückgebliebenen. Er schleuderte sie durch die Luft und lies sie immer wieder gegen die harten Metallwände krachen, bis sie das Bewusstsein verloren. Dann brach er ihnen mit Hilfe eines weiteren Kopfauswuchses das Genick. Jonathan keuchte bei dem knackenden Geräusch laut und währe wohlmöglich in Ohnmacht gefallen, hätte Thomas ihn nicht hinter sich her gezogen.

Draußen war der Sturm im vollen Gange. Um sie herum war nichts weiter als Sand, der ihnen in den Augen brannte und sie somit blind machte. Wie Hühner stoben sie in unterschiedliche Richtungen davon. Hikes und Stalker verloren sich aus den Augen. Nun war jeder von ihnen allein.

Jonathan fiel auf die Knie. Es hatte keinen Sinn mehr wegzulaufen. Er war blind und schwach. Nun konnte er sich weder auf seine Augen, noch auf seine Ohren verlassen. Und er war allein. Mühsam öffnete er seine brennenden Lieder und versuchte blinzelnd etwas zu erkennen. Eine Weile lang sah er nichts, doch dann tauchte unmittelbar vor ihm ein Schatten auf.

"Thomas?", keuchte er.

Als die Gestalt jedoch näher kam, wurde ihm klar, wer es war, oder besser gesagt, was es war. Er wollte aufstehen und wegrennen, aber es war zu spät. Er spürte wie ihn etwas kaltes am Knöchel packte und nach oben zog.

Da, ein Geräusch! Ein lautes klares Zischen am Himmel. Auch das fremde Wesen schien es bemerkt zu haben und hielt deshalb inne. Jonathan hing kopfüber in der Luft und plumpste von einem Moment auf den anderen wieder zu Boden. Er traf hart auf der Schulter auf.

Jedoch hatte er keine Zeit über den Schmerz nachzudenken. Er musste weg. Mit letzter Kraft kroch er auf allen Vieren in irgendeine Richtung davon.

Aber dann passierte etwas, das ihn abermals dazu bewegte sich umzudrehen. Der Außerirdische machte urplötzlich ein fauchendes Geräusch, das um einiges lauter war, als das einer Katze. Hinter ihm war eine weitere verschwommene Silhouette aufgetaucht. Aber dieser Schatten war bei weitem nicht so riesig, wie der des Geschöpfes, aber er bewegte sich schnell. Eine menschliche Gestalt rannte auf den überraschten Alien zu und schwang irgendeinen langen Gegenstand in der Hand wie wild umher. Das Ungeheuer wich zurück. Die Person machte einen Satz und flog durch die Luft. Dann, und das verblüffte Jonathan, trat sie zu (einmal, zweimal, dreimal), holte mit dem länglichen Waffe aus und stach zu. Der Schrei des Aliens dröhnte die gesamte Ebene entlang. Ein unglaublich tiefer Ton, ein Todesschrei.

Jonathan Stalker konnte nicht glauben, was da geschah. Ein einzelner Mann hatte das Monster getötet, das mindestens so stark war, wie zehn ausgewachsene Männer. Nein, das konnte er nicht glauben.

Die Person schritt auf ihn zu. Nun war sie so nahe, dass Jonathan Einzelheiten erkennen konnte. Es war ein relativ großer Mann mit schulterlangem, schwarzem lockigem Haar.

Er trug seltsame Kleidung, hauptsächlich in den Farben Schwarz und Weiß und er hatte sich ein graues Tuch um die untere Gesichtshälfte gebunden zum Schutz vor dem Sandsturm. Die tödliche Waffe war eine Art langes Schwert, von dessen Schneide irgendeine plastische Flüssigkeit tropfte. Blut.

Jonathan starrte zu dem Mann hinauf und bemerkte, wie die Dunkelheit langsam von den Seiten her in sein Blickfeld kroch und ihn schließlich zu Boden riss.
 

Er lief einen langen Gang entlang. Eine Art altes Gewölbe. Von den kalten Steinwänden tropfte das Wasser. Über ihm, hoch oben in dem Gemäuer, waren rostige Gitter angebracht, durch die vereinzelte Sonnenstrahlen auf den Boden fielen. An den Seiten zogen sich Moose und Farne die Wände entlang, dort wo es noch genug Licht zum Leben gab.

Am Ende des feuchten Tunnels war ein helles Licht zu erkennen. Jonathan wollte wissen, was es war. Er beschleunigte seine Schritte und hörte wie sie an den steinernen Mauern als Echo hundertfach zurückgeworfen wurden. Plötzlich vernahm er Wortfetzen. Er wusste nicht woher sie kamen, aber er hörte sie ganz deutlich:

"sechs Tote, ein Überlebender - keine schweren Verletzungen - wir setzten ihn in der Stadt ab - komme bald zurück"

Wieder konzentrierte sich Jonathan Stalker auf das gleißende Licht vor ihm. Bald war er da, bald würde er sehen können, was sich dort befand.

Doch plötzlich schwoll das leise Geräusch, das seine Schuhe machten, an zu einem gigantischen metallenen Klopfen. Der Boden erzitterte, wie unter den rhythmischen Herzschlägen einer riesigen Maschine. Der Boden unter ihm brach auf und er stürzte haltlos in die Tiefe ...

Langsam öffnete er die Augen. Ein Traum? Anscheinend. Er rieb sich die Lider und zog gleich darauf wieder die Hand zurück, denn er hatte gemerkt, dass er sich damit den Sand, der sein ganzes Gesicht bedeckte nur noch mehr einrieb.

Wo war er überhaupt? Er blinzelte in alle Richtungen, konnte jedoch nichts Eindeutiges erkennen und er konnte sich auch nur noch schwach erinnern. Er erinnerte sich an Thomas und an den Vorfall in der Windstation, an das Wesen ...

In seinen Ohren wummerte es immer noch.

Was war überhaupt mit Thomas geschehen? Vielleicht würde er es ja erfahren, wenn er nur endlich etwas sehen könnte. Erneut versuchte er den stechenden Sand aus seinen Augen zu entfernen.

"Mach die Augen auf!"

"Was?!" Verwirrt drehte Jonathan seinen Kopf und versuchte der fremden Stimme zu folgen. "Schon gut, mach die Augen auf ..." Es war die Stimme einer Frau.

"Wer sind Sie? Was ..." Er verstummte mit einem Mal, weil man ihm Wasser ins Gesicht schüttete, das ihm nun auch in den Mund lief.

"Jetzt halt doch still!" Die Person seufzte. "Ich versuche doch nur zu helfen."

Langsam klarte seine Sicht wieder auf und er bekann die ersten Konturen seines Gegenübers zu erkennen. Es war eine junge Frau, wahrscheinlich jünger als er selbst, mit leichten asiatischen Zügen, langen schwarzen Haaren und schmalen Lippen.

"Wo bin ich hier?", fragte Jonathan, während das letzte Wasserrinnsal an seinem Kinn herunterlief.

"New Atlanta. Warum fragst du?"

"New Atlanta.", wiederholte er leise, "Und wie bin ich hierher gekommen?"

"Keine Ahnung. Muss ich denn alles wissen!?", fuhr das Mädchen ihn an.

Sie war hübsch, schlank und gleichzeitig kraftvoll. Ihre Kleidung bestand aus einem körperbetonenden Ganzkörpersuite in den Farben weiß, grau und schwarz, genau wie ihre Stiefel.

"Was starrst du mich so an?"

Und sie ist frech, dachte Jonathan automatisch weiter.

"Ich starre Sie nicht an. Ich bin froh, dass ich überhaupt etwas sehen kann!", sagte er und richtete sich leicht schwankend auf, "Aber trotzdem Danke für die schnelle Hilfe."

"Keine Ursache!" Sie strich sich die Haare zurück. "Du hattest Glück! Hier kommt fast nie jemand vorbei."

Sie befanden sich in einer schmalen Gasse. Rechts und Links von ihnen ragten zwei Hochbauten in den Himmel, an deren Seite sich keine Fenster befanden. Es war wirklich fast unmöglich, dass man hier rechtzeitig gefunden wurde. Die Höhe der Bauten war beeindruckend, auch wenn das Material aus dem sie bestanden nicht sehr hochwertig war.

"Ich war gerade unterwegs zum Moonside - Club, als ich dich hier liegen sah. Erst hab ich gedacht man hätte dich erschossen, oder so. In diesem Viertel passiert das oft."

Sie machte eine kurze Atempause und redete dann munter weiter.

"Ich hatte zum Glück etwas Wasser dabei." Sie tippte auf eine silberne Thermosflasche, die sie die ganze Zeit in der Hand gehabt hatte.

Jonathan schien sie nicht zu beachten. Er versuchte sich immer noch krampfhaft an das zu erinnern, was geschehen war.

"Es ist schon seltsam, was in diesem Teil der Stadt so alles passiert. Und ich dachte immer, dass ... Hörst du mir überhaupt zu? Also ich --"

"Da war ein Mann!", dachte Stalker ein wenig zu laut.

"Was? Wo?" Die Asiatin blickte verschreckt in alle Richtungen.

"Nein, ich meine ein Mann hat mich gerettet. Er hat mich hergebracht."

"Wovor hat man dich gerettet? Was für ein Mann?"

Jonathan sah sie an und als ob sie ihm alles von den Augen ablesen konnte, antwortete sie langsam: "Du bist auch ein Flüchtling. Ich habe es doch gewusst!" Sie drehte sich nervös im Kreis. "Bist du durch die Steppe hierher gekommen?"

Der junge Mann nickte kurz.

"Oh, mein Gott! Du hast sie gesehen, oder? Die Außermenschlichen ..."

"Ja, wenn Sie diese Kreaturen meinen." Viel mehr wollte er nicht zu diesem Thema sagen, denn die Erinnerung lies ihm einen kalten Schauer über den Rücken laufen.

"Und dieser Mann, den du gesehen hast. Was hat er getan?" Die Frau blickte ihm direkt in die Augen, was ihm sehr unangenehm war.

"Er ... er hat es getötet. Er hat eines dieser Dinger getötet. Einfach so."

Ehrfürchtig blickte sie nun zu ihm hinauf. "Du bist echt ein wahrer Glückspilz. Du wurdest von einem Engel gerettet."

"Ein Engel?!" Diese Bezeichnung verwunderte Jonathan doch ein wenig. "Ich weiß nicht, ob man dazu Engel sagen sollte. Natürlich, er hat mich gerettet, aber er war nun mal real und --"

"Nicht so ein Engel!" Das Mädchen verdrehte die Augen. "Komm mit! Ich erklähr`s dir unterwegs."

"Unterwegs?" Plötzlich hatte Jonathan das dringende Gefühl ersteinmal etwas Zeit zu benötigen um seine Gedanken wieder zu finden.

"Ich werde dich mit zum Moonside - Club nehmen. Da bekommst du vielleicht auch gleich eine billige Herberge."

Sie nahm den verwirrten Mann an der Hand und zog ihn in Richtung Straße.

"Die Gebäude sind wahnsinnig hoch und modern gebaut.", sagte er erstaunt.

"Das ist nur das Armenviertel." Sie setzte mit den Fingern kleine Gänsefüßchen in die Luft. "Gleich wirst du sehen, was wahre Baukunst ist! Ich heiße übrigens Èmalia Xi-Lin."

"Jonathan Stalker."

"Stalker? Heißt das nicht ... ?" Ihre Stimme versagte, als sie den bösen Blick bemerkte, der ihr zugeworfen wurde.

Jonathan wusste genau, was sein Name bedeutete und er selbst war nicht sehr erfreut über diese Tatsache, die ihn dank seiner Eltern schon sein ganzes Leben verfolgte. Doch die Vergangenheit war nun unwichtig, in dem Moment, wo man sich nicht einmal der Gegenwart sicher war.
 

Kaum hatten sie aber einen Fuß aus der engen Gasse gesetzt, verschlug es auch Jonathan die Sprache. Er war ja noch nie in einer der Hauptstädte gewesen, aber das ...

Wolkenkratzer, die doppelt so hoch waren, wie die in Molington-Town, überzogen von einer kupfern glänzenden Schicht, die die Sonne zurück warf, aneinander gereiht und zusammengedrängt. Die Dächer sahen manchmal recht bizarr aus. Oft waren es Pyramiden oder gläserne Kuppeln und Pavillons. Alles hatte eine klare, kristallene Struktur und Farbe. Auch gab es breite Highways, die sich um die archetektonischen Meistehrwerke wanden und einen nicht enden wollenden Verkehrsstrom beförderten.

Auf dem riesigen Platz vor ihnen drängte sich eine bunte Menschenmasse. Unter ihnen wandelten ebenfalls Roboter und wahrscheinlich, so vermutete Jonathan, auch Cyborgs, die sich rein äußerlich nicht von all den anderen Leuten unterschieden. Das leise Summen der kugelähnlichen Fahrzeuge und der hoch über ihnen schwebenden Gleiter erfüllte die Luft, konnte jedoch das gewaltige Raunen der vielen unterschiedlichen Menschen nicht übertönen.

"Heh, du! Wie heißt du noch mal? Stalker? Vergiss nicht zu atmen!" Èmalia stupste ihn an und erst jetzt bemerkte Jonathan, dass sein Mund speerangelweit offen stand und auf einmal fühlte er das etwas fehlte.

"Thomas!", rief er erschrocken.

"Was?" Die junge Asiatin sah ihn fragend an.

Jonathan ergriff sie plötzlich an den Schultern. "Hör zu! Diese Engel ... Retten sie alle? Alle Flüchtlinge?"

"Jeden, denn sie finden können. Warum?"

"Ich vermisse einen Freund. Wo kann ich sie finden?" Er überschlug sich fast, während er redete.

Sie lächelte und fing plötzlich laut an zu lachen. Es dauerte eine ganze Weile ehe sie sich wieder gefangen hatte.

"Du willst zu den Engeln?", fragte sie spöttisch. "Niemand ist bis jetzt zu ihnen gegangen. Das tut man einfach nicht! Manche sagen sogar sie wären nicht normal."

"Aber ich muss dorthin!" Verzweifelt gestikulierte Stalker mit beiden Händen und malte seltsame Strukturen in die Luft. "Wo kann ich sie finden?"

Beeindruckt und überrumpelt zugleich, deutete Èmalia über den gefüllten Platz hinweg in Richtung der bereits untergehenden Sonne. "Geh einfach in diese Richtung. Es ist ein großes brückenähnliches Gebäude. Du kannst es nicht verfehlen. Ich ... Ich bin sicher wir werden uns wiedersehen."

Jonathan nickte knapp, drehte sich schnell um und bekann sich einen Weg durch die Massen zu bahnen.

"Viel Glück!!!", rief das Mädchen ihm hinterher und sagte dann etwas leiser: "Ich hoffe du kommst zurück."

Er hörte sie schon längst nicht mehr, denn eine warme Woge von Gesprächen und Atemzügen hatte ihn eingehüllt und trug ihn weiter. So viele Menschen unterschiedlicher Nationalitäten an einem Ort hatte er noch nie gesehen. Er war erstaunt und eingeschüchtert. Zugleich wusste er auch nicht, wo er die Nacht verbringen sollte. Er hatte noch nichteinmal genug Geld für Essen und Trinken. Thomas hätte ihm in dieser Situation bestimmt weiterhelfen können. Doch wo war er jetzt, wenn man ihn brauchte?



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