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Die letzten Jahre

von

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Bitterkeit

Kapitel XIII : Bitterkeit
 

„Wieso meinst du, Voldemort gesehen zu haben?“ wiederholte Jakob mit gerunzelter Stirn. Harry konnte es ihm nicht verübeln, dass er ihm nicht glaubte. Er würde sich auch selbst nicht glauben. Jakob seufzte. „Antworte mir.“ sagte er leise.
 

Harry tat es.
 

„Ich … also, bei dem Kampf eben … Auf einmal war alles – nun ja, irgendwie weg. Ich konnte John nicht mehr sehen.“ meinte er mit einem kurzen Seitenblick auf ebenjenen und fuhr dann fort. „Und die anderen auch nicht. Die Todesser. Es waren doch Todesser, oder?“ fragte er Jakob plötzlich. Doch dieser schüttelte nur den Kopf.
 

„Lenk nicht vom Thema ab.“
 

„Jedenfalls stand ich noch im Wald. Aber allein und auf einmal war da … diese Stimme …“Als er das eigentlich Unheimliche an seiner Begegnung erwähnte, fing er urplötzlich zu frösteln an; zudem legte er sich die Arme um den Körper, als sei es körperliche Kälte, die er spürte. Es half nichts, sondern wurde nur noch unangenehmer, als er weiterredete. „Zuerst wusste ich nicht, zu wem sie gehörte, aber dann“ er schluckte, „zeigte er sich. Ich – ich bin ihm schon einmal begegnet. Mehrere Male, um genau zu sein.“
 

„Und deswegen weißt du auch, wie er aussieht.“ stellte Jakob nüchtern fest.
 

„Ja“ Unsicher sah Harry auf. Er hatte keine Ahnung, wie der andere weiter verfahren wollte.
 

„Was ist dann passiert?“ Jakob schien nicht locker lassen zu wollen und so sah er sich gezwungen, weiterzuerzählen und diese Momente noch einmal zu durchleben. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr er sich gefürchtet hatte.
 

„Bevor er irgendetwas machen konnte, habe ich ihn … getötet.“ Harry sah zu Boden, seine Augen wurden wässrig und er kniff sie fest zusammen, um es zu verbergen. Er hörte, wie sich John nervös bewegte.
 

„Nur gibt es da ein Problem, nicht wahr?“ Harry sah auf.
 

„Ja“ wiederholte er, unfähig es auszusprechen.
 

„Der Tote sah nicht wie Voldemort aus, nicht wahr?“ Jakob ließ die Frage im Raum stehen und wartete darauf, dass sie beantwortet wurde.
 

„Ja“ hauchte Harry. Seine Hände verkrampften sich und krallten sich fest in seine Seiten.
 

Eine Weile lang herrschte absolute Stille in dem kleinen Zimmer. Harry konnte noch nicht mal das Geräusch seines eigenen Atems hören, wahrscheinlich aus dem einfachen Grund, dass er zu konzentriert auf das war, was Jakob sagen würde.
 

„Ich glaube dir.“ Die Worte kamen wie aus dem Nichts, stammten jedoch nicht von Jakob.
 

Erschrocken wandte Harry sich zu John um, der ihn anlächelte, als wollte er ihn aufmuntern.
 

„W-Was?“ hakte er nach; Johns Lächeln verschwand und wurde zu einem ernsten Ausdruck.
 

„Ich glaube dir.“ wiederholte er. „Ich hab zwar keine Ahnung, wieso er so eine Nummer abgezogen hat – aber ich schätze, er wird schon Gründe dafür haben.“
 

„Das ist mir schon klar!“ entfuhr es ihm gereizt. Sofort entschuldigte er sich dafür.
 

„Schon klar.“ beschwichtigte John ihn, die Hände abwehrend erhoben. „Das war wohl alles ein bisschen viel für dich, nicht? Ging mir früher auch so. Manchmal auch noch heute.“
 

Auch wenn er es nicht sagte, war er John für seine kumpelhafte Art sehr dankbar. In Gedanken ging Harry noch einmal die Situationen durch, in denen er ohne ihn wohl aufgeschmissen gewesen wäre. Er half ihm nicht nur im Kampf, sondern auch so, wie es ein guter Freund tat. Vielleicht war er das ja auch schon für ihn geworden. Genauso wie Jakob.
 

Dieser saß immer noch stillschweigend an der gleichen Stelle, in der gleichen Position und das Einzige, was sich an ihm verändert hatte, war sein Gesichtsausdruck, der sich von besorgt zu sehr besorgt und von dem Hauch schlechter Laune in ein, zwei pochende Äderchen an seiner Schläfe verwandelt hatte.
 

„Jakob?“ Er zuckte kurz mit den Wimpern, antwortete jedoch nicht, sondern begann seine Hände zu Fäusten und wieder auseinanderzufalten. „Jakob!“
 

„Was?“ wurde Harry angeschnauzt. Er zuckte kurz zurück, ehe er eine entschlossene Miene aufsetzte.
 

„Wieso sagst du nichts? Ich – ich kann ja verstehen, dass das mit Voldemort keine, nun ja, gute Sache ist, aber-“
 

„Kannst du mal still sein, verdammt?“ Sofort verstummte Harry, ein ungutes Gefühl im Magen. Jakob schien jedoch gewillt zu sein, mit ihm zu reden. „Du hast Recht, es ist wirklich keine gute Sache. Es ist sogar eine sehr schlechte Sache.“ Harry, der zu wissen meinte, was Jakob damit andeuten wollte, setzte zum Sprechen an, doch Jakob hob seine Hand und zeigte ihm damit, dass er schweigen sollte. „Es ist komplizierter, als du wahrscheinlich denkst.“ sagte er zur Erklärung und sah flüchtig zu John. „Vielleicht wäre es besser, wenn er es dir erklärt.“
 

Etwas zweifelnd warf John den Blick zurück, sagte aber zunächst kein Wort, sondern rutschte nur unruhig hin und her, die Hände beinahe schüchtern in den Schoß vergraben. Jakob, der zu weit entfernt von ihm saß, um ihn mit seinen Händen zu erreichen, streckte seinen Fuß aus und tippte ihm damit ans Knie, einmal leicht, dann noch einmal nachdrücklicher. John zuckte zusammen.
 

„Es ist wirklich keine schöne Geschichte.“ begann er, als wollte er jedes Argument auskosten, um sie nicht erzählen zu müssen. Er sog die Luft in tiefen Zügen ein, als er bemerkte, dass es keinen Weg drum herum gab. „Natürlich hat hier jeder seine eigene.“ fuhr er fort. Seine Augen ruhten auf einem Punkt, der fern von jeder Gegenwart war. „Meine beginnt in Amerika. In den Vereinigten Staaten … ich bin dort geboren.“ Er holte noch einmal tief Luft, als müsste er Kraft für das Kommende sammeln. „Und auch gebissen worden. Ich – ich war noch relativ jung, zwölf, dreizehn Jahre, ich bin mir nicht mehr sicher. Ich hatte Glück, dass ich die ersten Verwandlungen überhaupt überlebt habe. Trotzdem … irgendwann kam es raus und“, er schluckte, „man hat mich verjagt. Oder besser, ich bin geflohen, denn am Leben lassen wollte man mich natürlich nicht. – Selbst die Eltern der Jungen, die einmal meine Freunde gewesen waren, taten auf einmal so, als kannten sie mich nicht mehr und – und sie sprachen davon, dass sie schon immer gewusst hätten, dass mit mir etwas nicht stimmte.“ Verbittert sah er Harry an. „So, als wäre ich als Werwolf geboren worden.“
 

Er ließ Harry eine Weile Zeit, um das Erzählte zu verdauen.
 

„Tut mir Leid, wenn ich dich jetzt so taktlos frage“, begann dieser schließlich zögerlich, „aber was hat das bitte sehr mit Voldemort zu tun?“
 

Jakob schmunzelte, auch wenn es in diesem Zusammenhang sehr zynisch wirkte.
 

„Lass ihn nur zum Ende kommen. Fass dich bitte etwas kürzer, John.“ tadelte er ihn jedoch schließlich und meinte mit einem Seitenblick auf Harry: „Er ist der geborene Geschichtenerzähler, weißt du?“
 

„Haha“ meinte Harry jedoch nur, der diesen Spruch momentan ganz und gar nicht gut auffassen konnte. Jakob hob eine Augenbraue hoch.
 

„Ich mein’s ernst!“ beharrte er. „Wir müssen mal wieder zusammen sitzen …“ murmelte er dann. „Seit du hier bist, haben wir das irgendwie nicht mehr getan.“
 

Unterschwellig verstand Harry die Botschaft; sie waren einfach noch nicht dazu bereit gewesen, sich so entspannt zu geben. Dieses ‚zusammen sitzen‘, wie er es bezeichnete, würde weitaus mehr als nur ein gemütlicher Abend sein. Es war wie eine weitere der sich mittlerweile häufenden Bestätigungen, die er brauchte, um die nötige Selbstsicherheit im Alltag des Zusammenlebens mit den Werwölfen zu erlangen.
 

„Sprich weiter.“ wurde John schließlich von Jakob aufgefordert.
 

„Jedenfalls …“, fuhr dieser nach einem kurzen Nicken fort, „bin ich dann über einige Ecken nach England gekommen.“
 

„Und auf Jakob gestoßen.“ schlussfolgerte Harry.
 

„Nicht sofort.“ widersprach er. „Erst – nun ja, wie du dir vorstellen kannst, war ich ziemlich verzweifelt und da hab ich auf einmal von … Du-weißt-schon-wem gehört. Dass er für die Werwölfe kämpfe.“ Harry schluckte krampfhaft, als er verstand.
 

„Du warst ein Anhänger von ihm?“ fragte er heiser. John sah ihn nicht an, krempelte jedoch den Ärmel seines Umhanges hoch. Auf der blassen, jungen Haut war ein schwarzes Mal eingebrannt, das einen Totenschädel und eine sich daraus windende Schlange darstellte. Das Dunkle Mal.
 

„Ja“ Die Bestätigung war leise – Harry wurde bewusst, wenn er es nicht auch schon vorher gewusst hätte, dass John sich für diese Tatsache schämte. „Allerdings habe ich schnell bemerkt, dass es Ihm, dessen Name nicht genannt werden darf, um ganz andere Dinge ging.“ fügte er schnell hinzu, als wollte er seinen Namen rein waschen. „Es dauerte auch nicht lange, da traf ich bei einem meiner Aufträge auf Ismael, der damals noch der Anführer war – aber was heißt damals!“ lachte er, wenn auch nur wenig befreit. „Ich war 14, es war also vor drei Jahren.“
 

„Ich wusste gar nicht, dass du so jung bist.“ meinte Harry erstaunt.
 

„Wir sind im gleichen Alter.“ lächelte John, doch nur kurz, ehe er weitersprach und wieder eine ernste Miene aufsetzte. „Ich wurde recht schnell aufgenommen, nachdem man mir auch noch die letzten Hoffnungen in Du-weißt-schon-wen genommen hatte.“
 

Harry stutzte und sah verwirrt zwischen Jakob und John hin und her.
 

„A-Aber … er wird dich doch nicht einfach gegangen lassen haben?“ hakte er skeptisch nach. John schüttelte den Kopf.
 

„Nein, natürlich nicht. Sonst wäre ich schon längst …“ Er machte eine schneidende Bewegung über seine Kehle und ein Geräusch, das in diesem Moment sehr makaber wirkte. „Du verstehst?“
 

Harry nickte.
 

„Aber wie-“
 

„Jaja, ich seh‘ schon, du gibst nicht auf!“ John schien seine Position ein wenig zu genießen. Wahrscheinlich, so glaubte Harry, versuchte er sich selbst von seiner unschönen Vergangenheit abzulenken. John streckte den Unterarm in seine Richtung. „Was glaubst du? Was könnte passiert sein? Wieso wurde ich nicht schon längst massakriert?“
 

Harry starrte auf das Mal, als könnte es ihm die Antwort liefern und dachte angestrengt nach. Innerlich ärgerte er sich darüber, dass man ihn die Sachverhalte raten ließ, doch er wagte es nicht, sich darüber zu beschweren. Er blinzelte nicht und vor seinen Augen begannen bunte Punkte zu tanzen, die seine Augen schmerzen ließen.
 

„Tut mir Leid.“ sagte er schließlich und lehnte sich zurück. „Ich komm nicht drauf.“ Und er hatte auch keine Lust mehr, weiter darüber nachzudenken, wenn er keinen Anhaltspunkt hatte.
 

Jakob sah ihn mir gerunzelter Stirn an.
 

„Ehrlich gesagt habe ich dich für klüger gehalten.“ meinte er; mit einem schlechten Gefühl bemerkte Harry, dass Enttäuschung in seiner Stimme mitschwang.
 

„Ich-“ setzte er an, um sich zu verteidigen, doch Jakob hob einen Finger und wedelte ihn tadelnd hin und her.
 

„Lass mal, Alexis, ich weiß was du sagen willst.“ Er beugte sich zu ihm vor, so weit, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. „Du meinst, du bräuchtest nicht großartig darüber nachzudenken, denn wir sagen es dir ja eh – stimmt’s?“ fragte er, die Augenbrauen hochgezogen.
 

Harry biss sich auf die Lippe – ja, es stimmte natürlich.
 

„Was ist falsch daran?“ Kaum hatte er es ausgesprochen, bereute er es schon, denn er sah an den Gesichtsausdrücken der beiden, dass sie reichlich entsetzt waren. Jakob hob seine Hand und schnippte ihm einmal fest gegen die Stirn. Erschrocken von dem plötzlichen Schmerz fuhr Harry zuerst zurück und rieb sich dann die Stelle, auf der sich ein roter Fleck bildete.
 

„Du bist ganz schön frech!“ klagte Jakob ihn an. „John hat sich sowas seinerzeit nicht erlaubt.“ Harry schwieg. Er hielt es für das Beste, ehe er noch einen Fehler machen konnte. „Sinn der Sache ist nur, dass du lernst, dein Hirn richtig zu benutzen!“ wurde er dann aufgeklärt. „Bei bestimmten Dingen wird dir niemand mehr sagen, was läuft – klar?“ Das letzte Wort betonte er so eindringlich, dass Harry sich beinahe wie von einer unsichtbaren Macht gezwungen fühlte, artig und brav zu nicken.
 

„Also? Was denkst du, ist passiert, nachdem ich aufgenommen wurde?“ fing John noch einmal an. Harry seufzte.
 

„Hm …“ murmelte er. „Wenn du nicht ausgetreten sein kannst … dann müsstest du immer noch – oh Merlin!“ rief er aus, seine Pupille weitete sich unnatürlich und ließ seine Augen beinahe schwarz erscheinen. „Du – du bist immer noch bei Voldemort?“ John nickte. Diese Feststellung schien ihm einiges an Unbehagen zuzuspielen. Harry wedelte mit den Händen. „Wissen die anderen denn davon?“ Jetzt sah er auch zu Jakob.
 

„Ja“ bestätigte er. „Natürlich“
 

„A-a-aber, das hieße ja – das wäre ja-“ Harry war sehr verwirrt. John und ein Anhänger Voldemorts? Das passte nicht zusammen, schließlich hatte er gegen die Todesser gekämpft, ihn nicht verraten – und auch wenn er wusste, dass dies keine gute Begründung war, konnte John doch auch kein wirklicher Todesser sein, weil er doch mit ihm befreundet war.
 

„Beruhig dich erstmal.“ John legte den Kopf schief. „Ich weiß, wie sich das alles für dich anhören muss.“
 

„Um es endlich mal“, betonte Jakob besonders mit einem genervten Seitenblick auf John, „kurz zu machen: John ist, wie du weißt, ein Spion. Ich denke, jetzt sollte es endlich ‚Klick‘ machen!“
 

Das tat es auch.
 

„Er … ist ein Spion in Voldemorts Reihen …“ sagte er langsam. Die beiden nickten; John ließ seine Schultern nach unten sinken. Harry hatte gar nicht bemerkt, dass er so angespannt dagesessen hatte.
 

„Wurde auch Zeit, dass du’s raffst.“
 

~~~~~*~~~~~
 

Nachdem Alexis, der inzwischen wieder seine Illusion trug, ein weiteres Geheimnis der Gruppe um Jakob erfahren hatte, entspannte sich die Atmosphäre unter den Werwölfen zunehmend. Dies zeigte sich zwar vor allem dadurch, dass man Witze über ihn und die Tatsache, dass er nun als schwer von Begriff galt, machte, doch unter den gegebenen Umständen machte ihm das nicht viel aus. Schließlich kam er so dazu, mit ihnen zu lachen und das Gefühl zu erringen, nicht doch so einsam zu sein, wie er sich manchmal fühlte.
 

Und wie er auch wohl war, dachte er eines Abends, als die meisten sich schon von ihnen verabschiedet hatten – von ihm mit abnehmender Nervosität – und er neben Jakob saß, der als Einziger übrig geblieben war und mit geschlossenen Augen an einem dampfenden Glas nippte.
 

Alexis beobachtete ihn, sich bewusst, dass es auch Jakob bewusst war. Dieser sah schließlich auf und blickte ihm über den Rand des Glases an. Seine Finger fuhren langsam über dessen Kante.
 

„Was macht dir Sorgen?“ Seine Stimme war von der Hitze des Getränks und dem darin enthaltenen Koffein rau. Alexis starrte ihn an, betroffen.
 

„Ich frage mich, wann es zu Ende ist.“ gestand er leise. Jakobs Finger stockten kurz, dann nahmen sie ihre Tätigkeit wieder auf. Er konnte ehrlich sein. Er musste es sogar, denn vor Jakob konnte er nichts verbergen.
 

„Aha“ Das war seine einzige Antwort. Seine Finger verharrten kurz zitternd auf dem Rand der Tasse, ehe er sie abstellte. „Willst du wissen, was mein Bruder getan hat?“
 

Alexis wusste im ersten Moment nicht, was er damit meinte. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen – Jakobs Bruder, der an dem gleichen Gift gelitten hatte wie er, an der gleichen Qual zu nagen gehabt hatte. Er war schon seit Jahren tot.
 

„Ja“ flüsterte er, heiser vor Aufregung. Jakob schob ihm eine zweite Tasse zu, gefüllt mit der schwarzen, heißen Brühe. Alexis mochte keinen Kaffee, nahm das Getränk jedoch dankbar an, um sich mehr als nur die Hände daran zu wärmen. „Bitte“ fügte er hinzu.
 

Jakob seufzte, sodass man fast den Eindruck hätte bekommen können, dass er gehofft hatte, dass Alexis sein Angebot abwies und lehnte sich dann zurück, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Das leichte Wehen seiner Haare sowie ein geisterhafter Laut zeigten an, dass das zugenagelte Fenster einige nicht winddichte Lücken aufwies.
 

„Als er erfuhr … was mit ihm geschehen würde“, begann Jakob zögerlich, den Blick auf die niedrige Decke gerichtet, als suchte er nach Worten, „war er natürlich genauso verzweifelt wie du. Er hat sich gefragt, wie er seine verbleibende Zeit am besten nutzen sollte. – Er hat zwar nicht mit mir darüber geredet, am Anfang, aber ich habe es bemerkt.“ Er blickte langsam umher, als erinnerte ihn die spärliche, aber unordentliche Einrichtung der Küche an alte, längst vergangene Zeiten. „Er fragte sich, ob er versuchen sollte, so viel Spaß wie möglich zu haben. In den ersten paar Wochen schlief er reihenweise mit Frauen. Er war ja auch gutaussehend!“ lächelte Jakob verschmitzt. „Bei Merlins Töchtern, das war er.“ Das Lächeln verblasste. „Dann hat er irgendwann die Lust daran verloren und fing an zu spielen. Karten meistens. Er hatte kein Glück. Er verlor jedes Mal und schließlich verspielte er seinen ganzen restlichen Besitz. – Ich habe ihn aufgenommen. Da hat er dann das erste Mal mit mir gesprochen. Aber ich konnte ihm natürlich nicht helfen.“
 

Jakob schwieg und starrte in seine leere Tasse, aus der immer noch heißer Dampf aufstieg und sich schließlich in der Kühle der Luft verlor. Alexis wartete ab, ob er seinen Faden wieder auffassen würde, doch es schien nicht so, als würde Jakob von alleine wieder zum Sprechen ansetzen.
 

„Jakob?“ Der Kopf zuckte hoch. „Was ist dann passiert?“ Alexis versuchte, soviel Takt und Mitgefühl wie möglich in diese Frage zu legen.
 

„Nun …“ Er atmete schwer durch die Nase. „Die Idee, seinem Leben einen Sinn zu geben, ist ihm nie gekommen. Aber dafür könnte ich wetten – wenn ich mich auf Wetten einlassen würde – dass dir noch nie in den Sinn gekommen ist, mit dir selbst Frieden zu schließen … oder?“ sprach er langsam. Seine Worte vibrierten vor Bedeutung.
 

Seine verschiedenfarbigen Augen sahen ihn aufmerksam an, als wollte er jede seiner Bewegungen genauestens registrieren.
 

‚Frieden mit mir selbst schließen‘? Er wiederholte die Worte im Stillen für sich. natürlich war ihm bekannt, was sie bedeuteten, doch er wusste trotzdem nichts mit ihnen anzufangen. Wie sollte er das bewerkstelligen?
 

Erst als er sich den Finger an der durchdringenden Hitze des Getränks verbrannte, kam er wieder zu sich.
 

„Es scheint mir, dass du nicht so richtig weißt, was ich von dir verlange.“ Er kam nicht dazu, sich zu ärgern, dass ihm Jakob wieder einmal einen Schritt voraus war, denn dieser sprach sofort weiter, als er sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein konnte. „Ich werde es dir erklären: Du“, sagte er betont, „willst nur eines erreichen – Ruhm, Macht, Ehre, irgendetwas, damit sich später noch jemand an dich erinnert. Meinem Bruder jedoch … war das alles egal. Er wollte, dass er selbst mit seinem Leben zufrieden sein konnte, nicht die Anderen. Und wenn du mich fragst, hatte er Recht. Sein Tod war zwar bedauernswert, aber nicht traurig.“
 

Jakob hätte ihn besser auch während seiner Rede ansehen sollen, denn so hätte er möglicherweise mitbekommen können, dass Alexis sich mehr und mehr verkrampfte: Seine Hände ballten sich auf dem Tisch zu Fäusten und jede Faser seines Körpers war angespannt. Seine Augen hatten sich vor Wut verdunkelt.
 

„Du willst mir also sagen, dass es falsch ist, was ich tue?“ presste er hervor.
 

„Nein“, meinte Jakob neutral, „ich wollte dir höchstens einen Stoß in die richtige Richtung geben.“
 

Ohne Vorwarnung schlug Alexis mit seiner Faust auf das massive Holz, dass der Tisch erzitterte und der heiße Kaffee überschwappte und ihm die Haut verbrannte.
 

„Verdammt!“ Doch es störte ihn nicht besonders. „Wieso versuchst du mir Vorschriften zu machen?“ Ihm war kaum bewusst, dass er zu laut war.
 

„Du wolltest wissen, wie mein Bruder mit der Vergiftung umgegangen ist.“ meinte Jakob ruhig.
 

„Aber nicht, dass du mir Vorschriften machst!“ wiederholte sich Alexis wutschnaubend.
 

„Das habe ich doch auch gar nicht.“ Jakob sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
 

„Hast du- verdammt!“ Er ließ seine Hände flach auf den Tisch niedersausen und stützte sich dann dort auf, den Kopf gesenkt. „Verdammt …“ wisperte er erneut.
 

„Das sagst du heute ziemlich oft.“ witzelte Jakob geschmacklos.
 

„Sei still.“ Alexis war nicht nach Spaß zumute. Seine Finger krallten sich zusammen.
 

Die Stille kam ihm nach dem viel zu hohen Geräuschpegel des Streits noch leiser als gewöhnlich vor. Doch Jakobs Atem konnte er überdeutlich hören. Er war viel zu ruhig geblieben.
 

„Hast du eigentlich gar keine Gefühle?“ kam es nach einigen Minuten leise von ihm. Es dauerte ebenfalls eine Weile, bis Jakob antwortete.
 

„Wie meinst du das?“ Alexis‘ Körper spannte sich weiter an.
 

„Du – du bist immer so … beherrscht und ich“, presste er hervor, „will am liebsten die ganze Zeit schreien!“ rief er.
 

„Was du ja ausgiebig getan hast.“ meinte Jakob trocken.
 

„Ich bin so wütend …“ flüsterte er.
 

„Warum?“
 

„Was?“ Alexis hob den Kopf und starrte ihn an. Jakob hatte die Hände auf den Tisch gelegt, seine Fingerspitzen lagen in der Pfütze, die das Überschwappen seiner Tasse verursacht hatte. Als er es bemerkte, zog er sie zurück und leckte sich den Kaffee von den Fingern.
 

„Warum bist du wütend?“ drückte sich Jakob klarer aus. „Ich möchte dich nicht ärgern – und die Todesser wollen das auch nicht. Die wollen etwas Anderes.“
 

„Ich weiß!“ erwiderte er genervt. Mit Unwillen stellte er fest, dass seine Augenwinkel feucht waren; doch er wagte es nicht, sich die Tränen wegzuwischen. „Aber … ich bekomme jedes Mal so ein Gefühl – als würde – als würde-“
 

„Als würdest du innerlich verbrennen?“ fragte Jakob mit einem seltsam melancholischen Blick, den er noch nie bei ihm gesehen hatte. Alexis stockte.
 

„Ich … ja.“
 

Jakob seufzte. Er stand auf und umrundete den Tisch, bis er bei Alexis angekommen war und sah auf ihn hinab.
 

„Bei Merlin“, meinte er leise, als spräche er nur zu sich selbst, „du erinnerst mich an mehr an meine Vergangenheit, als ich anfangs gedacht hatte.“
 

~~~~~*~~~~~
 

Alexis‘ Wut war noch lange nicht verraucht, als Jakob ging und auch dann nicht, als er schon unzählige Minuten allein in der Küche zugebracht hatte. Allerdings hatte er gar keine Zeit dazu, sich dieser zu widmen. Jakobs Worte streiften durch seine Gedanken.
 

Jakob mochte ihn. Er mochte Jakob, auf eine seltsame Art und Weise. Trotzdem wurde er automatisch wütend, wenn er von ihm zu solchen Gesprächen angehalten wurde. Einerseits war er dankbar dafür, dass sich zumindest Einer auf der Welt für seine seelischen Schmerzen zu interessieren schien, andererseits glaubte er jedoch nicht daran, dass ihm diese Gespräche helfen konnten.
 

Jakob war mindestens genauso hilflos wie er.
 

Vielleicht würde er sich selbst helfen können, wenn er seinen baldigen Tod endlich akzeptieren konnte. Aber er war nicht so. Er konnte es nicht.
 

Er hatte Recht. Was würde es ihm selbst bringen, wenn er in dem Wissen sterben würde, etwas für die Welt getan zu haben? Möglicherweise würde er es noch nicht einmal so weit bringen, möglicherweise würde er irgendeinen kleinen Tod sterben, wenn er hinterrücks von einem Todesser überrumpelt wurde. Oder er würde vom Besen fallen und sich das Genick brechen, dachte er ironisch.
 

Etwas Unangenehmes durchzuckte ihn, als ihm ein weiterer Gedanke kam: Er konnte sich selbst seine ganzen Sorgen nehmen. Ein kleiner Fehltritt, oder ein Spruch, eine kurze Bewegung seiner Hand – dann wäre es vorbei. Und die Welt konnte ihm so egal sein, wie er ihr war.
 

Doch das wäre feige. Furchtbar feige, flüsterte ihm eine Stimme zu, die seltsamerweise eine starke Ähnlichkeit mit der Stimme aus dem Wald aufwies. Alexis verscheuchte sie, brannte sich ihre Worte jedoch in sein Herz ein. Egal wie, so würde es jedenfalls nicht enden. Das wollte er sich schwören.
 

Jakob besaß womöglich mehr Erfahrung, als er bisher angenommen hatte. Nicht nur, weil er einfach älter war als er. Er hatte viel mehr Gelegenheiten gehabt als er über diese Dinge nachzudenken. Harry hatte nie einen Bruder gehabt, um den er trauern konnte. Eltern, ja, aber er hatte sie kaum gekannt. Wie sollte er um zwei fremde Menschen trauern?
 

Und Sirius. Er hatte ihn geliebt – als eine Art Vater, als Freund. Sein Verlust war schmerzhaft gewesen und anfangs hatte er sich nicht damit abfinden können. Doch auch ihn hatte er nicht allzu lange, nicht von Geburt an gekannt.
 

Auf einmal fragte er sich, wie alt Jakobs Bruder gewesen war. Wie alt, als er starb; ob er jünger oder älter als Jakob gewesen war. Alexis war sich nicht sicher, ob es unfair oder dumm war, wenn er dachte, dass es weniger schlimm war, wenn man mit vierzig oder fünfzig starb als in seinem Alter. Ein Leben war ein Leben, solange man noch etwas zu verlieren hatte.
 

Hatte er das?
 

Er hatte Hermine, Ron – seine Freunde. Er versuchte, sich ihre Gesichter vor seinem inneren Auge vorzustellen, doch es gelang ihm nicht. Die Erinnerung an sie schwand von Tag zu Tag. Auch Hogwarts wurde zu einem grauen Etwas und wenn er sich zu sehr anstrengte, kam ihm irgendein Schloss in den Sinn, das er einmal zufällig im Fernsehen gesehen hatte.
 

Nicht nur er war vergänglich. Sie waren es auch. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie abhängig er gewesen war. Wie immer war er hilflos.
 

Ein Leben war ein Leben. Doch seines würde in absehbarer Zeit enden.
 

Er wünschte, er hätte Jakob früher kennen gelernt.



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