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Die letzten Jahre

von

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Wie man nach Hause kommt

Kapitel XV : Wie man nach Hause kommt
 

Aus irgendeinem Grund war es einfach gewesen, aus der 'Nische' zu fliehen. Alexis hatte sich seinen Besen geschnappt, das einzige, was er abgesehen von den Kleidern, die er am Körper trug, und seinem Zauberstab besaß, und als die anderen schliefen, schlich er sich über den Gang hinaus. Er rannte die ersten paar Gassen entlang, versuchte den Gestalten, die ihm entgegenkamen, keine Aufmerksamkeit zu schenken, rannte nur, den Besen in der Hand. Als er schließlich außer Atem stehen blieb, überkam ihn eine ungeheure Welle der Erleichterung. Er hatte es geschafft – er hatte sich die ganze Zeit beobachtet gefühlt, doch nichts war geschehen und aus diesem Grund nahm er auch an, dass ihn weder jemand gesehen hatte, noch, dass er verfolgt worden war.
 

Er kam aus der Nockturngasse, lief die Winkelgasse entlang und tippte mit seinem Zauberstab an die Mauer, die ihn von Muggellondon trennte. Als sich die Steine geräuschvoll auseinander schoben, konnte er es kaum erwarten, die schmutzige Straße dahinter zu sehen. Sie bedeutete sein endgültiges Entkommen.
 

Doch plötzlich zischte ein dunkler Strahl an ihm vorbei und traf die Mauer; die Steine stoppten einen Moment, dann bewegten sie sich aufeinander zu. Die Lücke in der Mauer schloss sich wieder.
 

„Wohin willst du?“
 

Er brauchte sich nicht umzudrehen, um die kindliche Stimme zu erkennen.
 

„Lass mich gehen, John.“
 

Der junge Werwolf trat neben ihn. Der Zauberstab lag noch in seiner Hand.
 

„Das kann ich nicht.“ Er stellte sich zwischen Alexis und die Mauer. „Wenn du hier durchgehst, verrätst du den Clan, das weißt du doch, oder? Noch ist es nicht zu spät; ich bin der Einzige, der mitbekommen hat, dass du die Nische verlassen hast.“
 

Er wollte ruhig klingen, doch seine Stimme zitterte. Alexis dachte in diesem Moment vollkommen klar. Es gab keine Emotion, die ihn in irgendeiner Weise hätte beeinflussen können. Nur der kristallklare Verstand.
 

„Und ich kann nicht im Clan bleiben.“, antwortete er.
 

„Warum nicht?“
 

„Das weißt du ganz genau – Richard und ich ... das klappt nicht. Ich will nicht, dass ihr alles wegen mir aufs Spiel setzt.“ Er legte die Spitze seines Zauberstabes auf den ersten Stein. „Ich habe endlich begriffen, wo mein Platz ist.“
 

„Wo dein Platz ist? Ich glaube, du hast es immer noch nicht begriffen! Es gibt sowas wie 'einen Platz' nicht! Man ist da, wo man ist, und das war's!“
 

Alexis' Hand blieb mitten in der Luft stehen.
 

„Und was ist mit dir?“, hakte er leise nach. „Ich dachte, du wärst froh, im Clan zu sein?“
 

„Das bin ich auch. Aber es ist nicht mein Platz. Ich könnte überall sonst in der Welt sein, in Amerika, wo sie mich gejagt haben, oder hier, wo ich ein bisschen sowas wie Respekt oder Kameradschaft habe! Ich habe es mir ausgesucht, nicht irgendwer da oben!“
 

„Und wenn ich mich dafür entscheide, den Clan zu verlassen, wieso hältst du mich dann auf?“
 

John öffnete den Mund, doch er wusste keine Antwort. Alexis konnte es an seinen Augen sehen, die sich plötzlich für einen Moment weiteten, bevor er sie schloss.
 

„Ja. Da hast du wohl Recht.“ Er zielte mit dem Zauberstab auf ihn. „Aber ich will, dass du da bleibst!“
 

Das wiederum machte Alexis sprachlos.
 

„Weißt du, ich ...“ Johns Hand zitterte. „Du bist genau wie ich. Wir tragen beide ein schlimmes Schicksal – ich als Werwolf und du ... du bist abgehauen, weil du es nicht mehr ertragen konntest, oder? Und dann hast du durch Glück diesen Clan gefunden und jetzt – jetzt willst du uns wieder verlassen? Ich würde auch nie wieder auch nur einen Gedanken daran verschwenden, nach Amerika zu gehen! Dort hassen mich alle! Sie verachten mich und wenn du gehst, was hast du dann davon? Du wirst irgendwann irgendwo einsam sterben, ohne jemanden an deiner Seite, ist es wirklich das, was du-“
 

„Geh!
 

Alexis stieß ihn von sich. Wieso sagte John all diese Dinge? Wollte er es ihm noch schwerer machen? Er wusste, dass ihn Mitleid erwarten würde, doch er hätte, und da lag John falsch, Freunde an seiner Seite. Freunde, mit denen er schon so viel durchgestanden hatte und denen er sein Leben und schließlich auch seinen Tod schuldig war. Und er konnte sonst nichts erreichen, das hatten ihm die letzten Monate gezeigt. Was für eine Verschwendung war die Zeit hier gewesen.
 

Er wandte sich wieder der Mauer zu.
 

„Alexis! Wenn du gehst, werde ich dich aufhalten!“
 

„Lass es!“
 

Doch John hatte bereits den ersten Fluch ausgesprochen, ohne dass er die Worte verstanden hätte. Er verfehlte ihn nur um Haaresbreite und knallte blitzend in die Mauer hinter ihm ein. Zurück blieb schwarzer Stein.
 

„Ich sagte, du sollst es lassen!“
 

Doch John war offensichtlich nicht zu einem Gespräch bereit: Er stellte sich breitbeinig vor ihn hin, den Zauberstab erhoben und den nächsten Fluch schon auf den Lippen. Alexis erkannte, dass er im Nachteil war – er stand mit dem Rücken zur Mauer, in einer Hand den Besen, den er garantiert nicht loslassen würde, während John ihm jeglichen Weg abschnitt. Die Mauer mit dem Zauberstab zu berühren, kam nicht infrage, John würde sie wieder schließen, bevor sich die Steine auch nur so weit auseinander schoben, dass er seine Hand hindurch schieben könnte. Wenn John nicht aufgab, blieb ihm keine andere Wahl.
 

Und er wusste nicht, ob er ihn besiegen konnte, ohne ihn zu töten.
 

„Tut mir echt Leid, Harry.“
 

John schloss kurz, nur für den Bruchteil einer Sekunde, seine Augen, um sie dann mit umso wilderen Blick wieder zu öffnen. Alexis erkannte sofort, dass er von an tatsächlich keine andere Wahl mehr haben würde.
 

Ein weiterer Fluch kam mit rasanter Geschwindigkeit auf ihn zu; er konnte ihn dank seiner Gedankenlosigkeit nur knapp ausweichen. Die Wand hinter ihm wies schon die ersten Brandflecken auf.
 

„Ich hab dich gewarnt!“, versuchte er es noch ein letztes Mal, jedoch nur halbherzig, denn er wusste, dass es nichts bringen würde. John würde nicht aufgeben, ebenso wenig wie er.
 

„Stupor!“ Er feuerte den Fluch ohne nachzudenken ab.
 

John wich mit Leichtigkeit aus; Alexis wusste nicht, ob es an seiner Erfahrung aus Amerika oder einfach nur daran lag, dass er ein Werwolf war, vielleicht aber auch deshalb, weil er mehr bei der Sache war.
 

„Ist das dein Ernst?“, rief John. „Ein Lähmungsfluch und dabei auch noch so ein schwacher? Wenn ich ein stärkerer Zauberer wäre, würde der mich noch nicht mal fesseln!“
 

Alexis biss sich auf die Lippe. Bei Johns Worten war ihm seine Übungsstunde mit Jakob eingefallen, der ihn angeschrien hatte, als er ihn mit genau dem gleichen Fluch angegriffen hatte. Wieso verstand bloß keiner, dass er niemanden aus dem Clan verletzen wollte?
 

„Saltatio Ignis!“
 

Flammen schossen aus Johns Zauberstab, die ihm den Weg abschnitten; er wollte nach rechts entkommen, doch auch dort gab es keinen Ausweg mehr.
 

„Aquato!“
 

Die Flammen erloschen nicht ganz, doch der Zauber reichte aus, um über sie hinweg zu springen.
 

„Du willst es also nicht anders. Sectumsempra!“
 

Der Fluch mochte mächtiger sein, doch er blieb wirkungslos. John war ein Meister des Ausweichens und endlich erkannte Alexis, wieso er im Nachteil war: John hatte Erfahrung als Spion. Er konnte sich leise und wie unsichtbar bewegen, wenn er wollte. Und er konnte allem ausweichen, als sei es ihm in die Wiege gelegt worden.
 

Panik stieg in ihm auf, denn auf einmal wurde ihm bewusst, in welcher Lage er sich befand. Vorher hatte er es noch gar nicht realisieren können, dass seine Flucht beobachtet worden war und man ihn aufhalten wollte – nicht, weil er damit eine Gefahr für den Clan darstellte, sondern, weil er bei wenigstens einem Werwolf willkommen war – all das war unwirklich für ihn gewesen. Und noch viel mehr hatte er John unterschätzt, dabei war er nicht viel jünger als er selbst.
 

Plötzlich kam aus dem Dunkel der Nacht hinter John ein gleißender Strahl. Alexis schaffte es nicht mehr rechtzeitig, auszuweichen und der Fluch traf seine rechte Hand. Sein Zauberstab flog in hohem Bogen davon und blieb einige Meter weit entfernt von ihm liegen. Er erstarrte, die offene Hand in der Luft.
 

Aus der Dunkelheit sah er mehrere Gestalten auftauchen, deren verschwommene Gestalt nur langsam sichtbar wurde. Doch Alexis wusste auch so, was ihm bevorstand.
 

Jakobs Gesicht war das Erste, was er klar erkennen konnte. Es war nicht wütend, nicht traurig, es lag gar kein Ausdruck in seinen Zügen. Er besah nur kurz John mit einem strengen Blick, der rasch in eine andere Richtung sah, dann wandte er den Kopf zu Alexis.
 

„Alexis.“
 

„Jakob ...“
 

Der restliche Clan trat hervor. Alle standen vor ihm, Ismael, die Stirn gerunzelt, Andreas und Thomas, die etwas weiter zurückblieben, und Richard, die Lippen zu einem schmalen Strich verzogen. Von Jakobs Zauberstab fiel lautlos ein Tropfen herunter. Er hatte ihn wieder mit irgendeiner Flüssigkeit getränkt.
 

„Warum du das hier tust, frage ich gar nicht.“, sagte er. „Das tut nichts zur Sache. Aber ich sage dir hiermit deutlich: Entweder du kommst jetzt mit uns, oder du bist tot.“ Alexis kniff die Augen zusammen. „Versuch nicht zu fliehen. Du hast keine Chance gegen uns.“
 

Er trat einen Schritt vor.
 

Alexis einen zurück.
 

„Es tut mir Leid.“
 

Er schwang sich auf seinen Besen und schnellte beinahe senkrecht in den Himmel.
 

Die Nachtluft sauste schneidend an ihm vorbei, es war so kalt, dass der Griff an dem harten Holzgriff wehtat und die Augen brannten. Doch er treibte ihn nur noch mehr zur Eile an; er durfte keine Zeit verlieren. Und schon bald, keine Minute nachdem er sich in die Lüfte erhoben hatte, sauste der erste Fluch an ihm vorbei.
 

Er hatte bereits geahnt, dass sie irgendwo Besen versteckt hielten.
 

In diesem Moment dankte er seinem Paten dafür, ihm den Feuerblitz geschenkt zu haben.
 

„Alexis!“
 

Der Ruf war schwach im Wind, doch instinktiv drehte er sich um. Zuerst registrierte er, ganz der Quidditchspieler, dass sie alle die Besen einer Marke flogen – dann stellte er mit Erschrecken fest, dass die Anderen ihm schon dicht auf den Fersen waren. Und sein Zauberstab lag unter ihm in der Winkelgasse. Er konnte nur noch fliehen.
 

Er versuchte mit aller Macht, seinen Besen schneller zu bekommen, doch er schaffte es nicht, den Abstand zwischen sich und den Werwölfen zu verringern. Immer wieder ließ seine Geschwindigkeit nach, und sie kamen ihm immer näher, als sei sein Besen alt geworden – doch das konnte nicht sein, er hatte ihn gerade mal vor zwei Jahren bekommen.
 

„Ich habe halt vorgesorgt.“
 

Alexis erschrak und wäre beinahe vom Besen gefallen, als Jakob plötzlich und ohne sichtbare Mühe neben ihn flog.
 

„Was-“
 

„Der Clan hat sich in einer Sache geirrt“, rief Jakob ihm über den Wind hinweg zu, „ich habe dir nicht völlig vertraut. Vor allem dein Gejammer war schuld daran, dass ich deinen Besen etwas präpariert habe.“
 

„Verschwinde!“
 

Alexis tauchte ab, stürzte sich im halsbrecherischen Flug nach unten, doch alle sechs Werwölfe folgten ihm. Er versuchte, sie durch andere Manöver abzuhängen und gleichzeitig den Flüchen, die sie wieder abschossen, zu entkommen, doch jedes Mal, wenn er wieder eine scharfe Kurve flog, kam einer von ihnen näher und jedes Mal, wenn er den Besenstiel wieder nach oben riss, zischten die Flüche näher an ihm vorbei, bis einer ihm schließlich die Borsten seines Schweifes ankokelte.
 

Flucht war unmöglich. Genauso, wie Jakob gesagt hatte.
 

Urplötzlich riss er seinen Besen herum und raste genau in die entgegengesetzte Richtung.
 

Alexis wusste: Entweder war es Selbstmord, was er tat, oder die einzige Rettung.
 

Er flog mitten durch die sechs Werwölfe hindurch, die erschrocken auseinander stoben und riss seinen Besen scharf nach oben. Die Welt drehte sich einmal um ihn, der Himmel unter ihm, die Erde über ihm, dann war er wieder umgekehrt und hängte sich direkt an den Besen dran, der ihm am nächsten war.
 

Es war Andreas. Es war Pech, dass er ausgerechnet auf ihn getroffen war, denn schon bei ihrer ersten Begegnung hatte er ihn stark an Ron erinnert. Doch er durfte jetzt nicht schwach sein. Er musste es irgendwie schaffen, nach Hogwarts zu seinen Freunden zu gelangen. Er hatte keinen Zauberstab mehr, das machte es schwieriger – doch er besaß noch eine andere Waffe.
 

Zitternd vor Aufregung zog er sein Messer aus seinem Platz neben seinem Knöchel und holte noch mehr auf. Er hatte keine Zeit, wenn er gegen den Clan etwas ausrichten wollte, die anderen kamen schon näher, doch Andreas versuchte, ihn abzuhängen und machte es ihnen somit auch schwieriger, bei ihm und Alexis zu bleiben.
 

Für Harry stellte es jedoch kein Problem dar. Sein Besen mochte lahm sein, dennoch war er einer der besten Sucher im Quidditch gewesen – es war leicht, sich Andreas als Schnatz vorzustellen. Nur, dass es diesen Schnatz nicht zu fangen, sondern zu töten galt.
 

Alexis merkte nicht, wie sich seine Gedanken verwirrten. Das Messer in seiner Hand fühlte sich heiß an und er wusste, so, wie man etwas wusste, wenn man träumt, dass er es nur irgendwo reinzustechen brauchte, um diese Hitze loszuwerden. Andreas' wehrloser Rücken bot sich ihm dafür geradezu an-
 

„Pass auf!“
 

Thomas' Schrei hallte dumpf und unwirklich in seinem Kopf wider. Er spürte nur den kurzen Druck, als er das Messer beinahe blind in irgendeine Stelle von Andreas' Rücken stach. Es war nicht so, wie er es erwartet hatte – er fühlte ein seltsames Zucken der Erleichterung, nur einen Moment lang – dann tauchte vor ihm ein bleiches Gesicht auf, schmerzverzerrt, von Rot umrahmt – Thomas, der vor ihn flog und ihm den Weg abschneiden wollte.
 

Er flog drunter durch.
 

Unter ihm fiel Andreas' Körper gen Erde.
 

„Andreas!“ Thomas drückte seinen Besen steil nach unten und raste dem anderen Werwolf hinterher.
 

Alexis dachte nicht mehr darüber nach. Er dachte überhaupt nicht mehr nach.
 

Die Nacht wurde für ihn auf einmal klar, das Dunkel wich einer anderen Farbe, und er spürte keine Angst mehr, keine Angst davor aufgehalten zu werden, gefangen zu werden, getötet zu werden. Er war frei – das Gefühl, das er schon früher immer auf einem Besen gespürt hatte – und nichts konnte ihn aufhalten.
 

Nichts und niemand, erst recht keiner der Werwölfe. Etwas Helles zischte auf ihn zu, doch er wich dem blonden Werwolf mit Leichtigkeit aus. Richard versuchte ihn – ihn! – aufzuhalten. Als ob er eine Chance gegen ihn hatte.
 

Und da war noch etwas anderes.
 

Ein Gefühl, dunkel und heiß wie die Klinge in seiner Hand, das plötzlich in ihm aufloderte und seine Augen auf Richard bannte. Richard, der ihn damals hatte töten wollen, Richard, der ihn verachtete und ihn von seinem Plan abbrachte, Richard – Hass flammte in ihm auf und machte ihn blind für alles, was sich neben, über und unter Richard befand. Er musste es sein. Richard musste es sein, den er töten würde. Er konnte sein Gesicht genau sehen.
 

Doch dann riss Richard seinen Besen plötzlich herum, so heftig, dass er beinahe fiel. Erst da begriff Alexis irgendwo am Rande seines Bewusstseins, dass sie aufeinander zugerast waren und Richard bloß einen Zusammenstoß hatte vermeiden wollen.
 

Feigling, dachte Alexis nur, als er die Verfolgung wieder aufnahm.
 

Es war ein Fehler nur Richard zu fixieren. Die anderen Werwölfe flogen hinter ihm her, immer näher kommend, während er Richard hinterherjagte. Er wunderte sich noch, wieso Richard ihn nicht endlich angriff. Es musste doch die Chance für ihn sein, ihn endlich loszuwerden. Wieso flog er nur die ganze Zeit davon?
 

Ein plötzlicher Ruck ging durch seinen Besen, so stark, dass er beinahe in die schwarze Tiefe gefallen wäre. Als er sich umdrehte, um die Ursache dafür zu entdecken, sah er, dass sein Besen eine schwarze Rauchfahne hinter sich herzog. Und nur knapp hinter ihm war John, der sich mit einer Hand an seinen Borsten festhielt.
 

Er handelte, dachte nicht nach: Sich mit einer Hand festhaltend, beugte er sich nach hinten und stieß das Messer geradewegs auf John Hand herunter. John konnte sie noch rechtzeitig zurückziehen und trudelte zurück, während Alexis seinen Besen zur Eile antrieb. Er hatte Richard aus den Augen verloren – wo war er nur hin?
 

Seine Frage wurde beantwortet, als ein weiterer Ruck durch ihn ging: Auf einmal war es, als schwebte er in der Luft, nur einen Moment, dann sauste die Luft auf einmal an ihm vorbei. Das Schwarz unter ihm löste sich auf und zeigte ihm die hellen Lichter Londons, während er auf die Erde zuraste.
 

Kein Laut kam aus seiner Kehle. Sein Mund hatte sich zu einem stummen Schrei geformt.
 

Er empfand noch nicht einmal Angst. Nur die Gewissheit, dass es vorbei war.
 

Dann packte ihn auf einmal etwas, presste ihm die Luft aus dem Bauch und verlangsamte seinen Sturz, die Erde entfernte sich wieder von ihm.
 

Erst das machte ihm Angst. Und erst dann begriff er, dass er gerettet worden war.
 

John blickte mit undefinierbarem Blick auf ihn hinab – Zorn, Trauer oder Schock – dann wandte er ihn ab und flog zu den anderen Werwölfen.
 

Alexis kam sich mit einem Male völlig hilflos vor. Die seltsame Raserei, die ihn vorhin ergriffen hatte, war wie weggeblasen. Er wagte es nicht, sich auch nur einen Zentimeter zu bewegen, noch nicht einmal, seine Finger noch fester um das Holz des Besens zu klammern – der Schock saß ihm noch zu tief in den Knochen.
 

„Alexis.“
 

John war bei den anderen angekommen und schwebte nun genau vor Jakob, der erst ihn, dann Alexis nachdenklich ansah. Alexis sah rechts an ihm vorbei.
 

„Worauf wartest du noch, Jakob?“, unterbrach Richard die Stille.
 

„Sei still.“
 

„Aber er hat versucht zu fliehen! Du weißt, welche Strafe darauf steht!“
 

„Ich sagte, du sollst still sein!“, fauchte Jakob zurück. „Es gibt Wichtigeres.“
 

Richards Augen weiteten sich.
 

„Was?“ Er flog neben Jakob und beugte sich vor, um ihn genau fixieren zu können. „Wichtigeres? Wichtigeres als den Clan?“
 

„Das habe ich nicht gesagt.“
 

Richard schwieg.
 

„Ich meinte damit, dass Alexis ... noch Wichtigeres zu tun hat, als zu sterben.“
 

Erst da blickte Alexis auf. Lag er richtig und konnte einen Hauch von Verzweiflung in Jakobs Gesicht sehen? Einen Hauch schlechten Gewissens?
 

„Und was?“ Richard war ungeduldig.
 

Jakobs Blick verdüsterte sich.
 

„Wir schleusen ihn als Spion in Hogwarts ein. Er wird dort mit offenen Armen willkommen geheißen werden.“
 

„Was?“ Diesmal war es nicht nur Richard, der ihn entgeistert ansah. „Hast du den Verstand verloren?“
 

Jakob sah ihn wütend an.
 

„Du hast keine Ahnung, Richard.“, zischte er und ehe Alexis realisiert hatte, was er im Begriff war zu tun, hatte Jakob es auch schon ausgesprochen: „Alexis ist in Hogwarts willkommen, weil er dort Schüler gewesen ist. Er ist Harry Potter.“
 

Absolute Stille in den Reihen des Clans. Selbst Richard stand der Mund offen – doch nicht aus Erstaunen, sondern aus Wut.
 

„Er ist wer?“, fauchte er. „Harry Potter, sagst du? Und da – mit diesem Wissen – lässt du ihn bei uns eintreten? Du musst wirklich den Verstand verloren haben!“
 

Alexis konnte sie spüren. Die düstere Atmosphäre, die sich wie ein Gewitter über ihnen ausbreitete. Nicht nur Richard war wütend – auch Ismael hatte Jakob geschockt angesehen, ehe er sich wieder in den Griff bekam und ein nachdenkliches Gesicht machte. Nur John hatte nicht mit der Wimper gezuckt. Alexis fragte sich warum – er wusste zwar um sein Geheimnis, doch musste er nicht genauso erschrocken über die Tatsache sein, dass Jakob es so leichtfertig preisgegeben hatte?
 

Er selbst hatte sich auch nicht geregt. Vielleicht hatte das den einfachen Grund, dass er, nachdem er beinahe sein Leben verloren hatte, andere lebensgefährliche Verhältnisse nicht mehr einschätzen konnte.
 

Und doch konnte er in Richards Blick lesen, dass seine Tage gezählt waren. Wenn er hier weiterhin blieb.
 

Es musste doch eine Fluchtmöglichkeit geben.
 

John.
 

Würde John ihm helfen? Schließlich waren sie doch so was wie Freunde geworden, wenn man in diesem Milieu von Freundschaft sprechen konnte. Es war auf jeden Fall einen Versuch wert. Was hatte er schon zu verlieren? Entweder tötete ihn Richard, oder er würde beim Fluchtversuch vom Besen fallen und auf die Erde hunderte von Metern unter ihm aufschlagen. Einen kurzen Augenblick dachte er sogar, dass dies ein schöner Tod wäre.
 

Nur, dass seine ganzen Bemühungen der letzten Monate völlig umsonst gewesen wären.
 

Vorsichtig, Richard nicht aus den Augen lassend, ließ er mit einer Hand den Griff los und tippte mit einem Finger an Johns Bein. Er regte sich nicht. Jedenfalls tat er dies äußerlich. Alexis konnte seine Augen sehen, die einen Moment lang zu ihm herüber zuckten. Dann schloss er kurz die Augen und öffnete sie wieder. Einen Moment zu lang, um als Blinzeln zu gelten. Ein Zeichen – er achtete auf ihn.
 

Alexis konnte natürlich nicht sprechen. Stattdessen bewegte er seine Augen, machte zuckende Bewegungen nach links, die Himmelsrichtung, in der er etwa Hogwarts vermutete. Johns Augen weiteten sich.
 

Und dann schüttelte er kaum merklich den Kopf.
 

Aus Alexis war alle Kraft gewichen. Mutlos hielt er sich am Besen fest.
 

Was war Freundschaft wohl wert? Offensichtlich, das hatte ihn Richards Ausbruch gezeigt, war der Clan wichtiger. Der Clan und die großartig erscheinenden Pläne, die an ihm hingen. Gab es also wichtigere Dinge als Freundschaft?
 

Ein kurzer Stich fuhr durch sein Herz, als er an Hermine und Ron dachte, die in Hogwarts auf ein Lebenszeichen von ihm warteten. Nein, Freundschaft war wichtig. Aber die Freundschaft zu ihnen war ihm wichtiger als die sich anbahnende zwischen ihm und John oder Jakob.
 

„Tut mir Leid.“, flüsterte er und lenkte damit die Aufmerksamkeit auf sich.
 

John begriff, im Gegensatz zu den anderen, sofort, was Sache war. Er versuchte noch, sich festzuhalten, doch Alexis schubste ihn mit einem Ruck vom Besen und schwang sich selber darauf. Die Schrecksekunde, die Jakob und Richard erlebten, als sie John fallen sahen, reichte ihm, um abzuhauen und einen gewissen Vorsprung zu gewinnen.
 

Dann rasten ihm die letzten drei Werwölfe hinterher.
 

„Alexis!“ Richard rief ihm hinterher.
 

„Alexis, bleib hier!“ Die Verzweiflung in Jakobs Stimme war für jeden hörbar. „Alexis, ich will das nicht tun!“
 

Er hörte nicht hin, sah sich aber um, um nachzusehen, wie viel Abstand ihm noch blieb.
 

Und was er sah, ließ sein Herz einen Moment lang stillstehen.
 

Jakob hatte seinen Zauberstab gezückt und auf ihn gerichtet. Das allein hätte ihn noch nicht so schockiert, wäre da nicht dieser schreckliche Ausdruck auf Jakobs Gesicht gewesen: Verzweiflung, ja, gleichzeitig jedoch trug es eine Entschlossenheit, die ihm bewusst machte, welchen Fluch er sprechen würde.
 

Der Fluch war nicht grün. Doch Alexis wusste, dass er tödlich war. Es war eine Gewissheit, die jeder Sterbende hatte.
 

Er konnte ihm nur noch in letzter Sekunde ausweichen.
 

Sein Herz raste vor Angst, doch jetzt hatte er sein Ziel klar vor Augen: Nur weg von hier!
 

Sein Besen war nicht so schnell, wie ein Feuerblitz es gewesen wäre, doch schneller, als sein eigener, manipulierter gewesen war. Jakob, Richard und Ismael verfolgten ihn, doch sie holten weder auf, noch lagen sie hinter ihm zurück. Wenn er nur diesen Abstand einhalten konnte, und möglichst von keinem Fluch getroffen werden würde-
 

~~~~~*~~~~~
 

Es war ein langer Flug.
 

Sie rasten so schnell durch die Nacht, dass er seine Hände schon gar nicht mehr spürte. Sie klammerten sich wie zwei Schraubstöcke an den Besenstiel. Die Illusion hatte sich schon längst in Luft aufgelöst. Es war ihm unangenehm, vor Ismael und vor allem vor Richard als Harry Potter zu fliegen. Die Vorstellung, wie sie seinen Rücken fixierten, während die sinnloserweise versuchten, zu ihm aufzuholen, grauste ihm. Er flog die ganze Zeit im Zickzack, sauste nach unten, zur Seite, und wieder nach oben, in immer wieder neuen Kombinationen. Sie flogen ihm nach, hielten ihn mit Flüchen unter Beschuss doch wie durch ein Wunder – oder wohl eher durch seine Künste als Sucher – traf ihn kein einziger. Nur einmal streifte ihn einer, doch es war kein tödlicher, und seine Haut wies an dieser Stelle nur eine rote Stelle auf, die zwar wehtat, die er aber ignorierte.
 

Es mochten wohl Stunden vergangen sein – Harry nahm dies an, weil er wusste, wie lange der Flug etwa dauern musste – da ragte auf einmal eine riesenhafte dunkle Gestalt am Horizont auf. Er kniff die Augen zusammen, sein Herz pochte auf einmal lauter in seiner Brust – und da erkannte er es.
 

Hogwarts.
 

Er hatte es geschafft. Er war da.
 

„Alexis!“
 

Jakobs Rufen wurde leiser. Sie wurden langsamer und hielten an. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um das zu wissen. Für sie war dies gefährliches Gebiet.
 

Harry flog unbeirrt weiter.
 

Er hatte es endlich geschafft.
 

Er war wieder zu Hause.



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