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Memori3s

von

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Vorwärts

Verschlafen öffnete sie die Augen und blinzelte in die Dunkelheit. Auf ihrem Körper lag eine bleierne Schwere und müde fuhr sie sich durchs Gesicht, in der Hoffnung, so etwas davon abstreifen zu können. Persephone hatte keine Ahnung, wie viele Stunden sie geschlafen hatte, dennoch verriet ihr ein kurzer Blick auf den Digitalwecker, dass es eigentlich ausreichend Stunden gewesen sein mussten, nach der fortgeschrittenen Tageszeit zu urteilen. Es war fast schon Mittag. Die Arme aufstützend, richtete sie sich auf, schwang die Beine aus dem Bett und wollte aufstehen, als ihr Kreislauf auf einmal begann Achterbahn zu fahren, sodass sie sich sofort wieder hinsetzte. Tief durchatmend beugte sie sich vor, die Hände gegen die Stirn gedrückt und verharrte so für Minuten. Dann endlich schien sie soweit wach zu sein, um aufstehen zu können und unter die Dusche zu steigen.

Das warme Wasser spülte das letzte Gefühl von ausgelaugt sein im Abfluss runter und gab ihr den Freiraum, über die gestrigen Geschehnisse nachzudenken.

Über das – mal wieder – harte, gnadenlose Training mit Herakles, woran sie ihr geschundener und mit blauen Flecken übersäter Körper erinnerte.

Über Äneas‘ Unfall.

Über das Geheimnis ihrer Vergangenheit.

Über die Maschine, die einen vergessen lässt – Memoria.

Zu ihrer eigenen Verwunderung lösten diese Erinnerungen in ihr keine Gefühlsstürme mehr aus. Im Gegenteil; sie ließ ihre kürzlich erhaltenden Eindrücke und Erfahrungen wie an einem Fließband im Geiste vorbeilaufen und sie konnte mit einer Nüchternheit an und über sie denken, die sie sehr an die dumpfe Schwere ihres Körpers erinnern ließ. Kurz runzelte sie die Stirn über diesen Umstand, dann schob sie ihn beiseite und nahm es hin.

Ich nehme in letzter Zeit vieles viel zu schnell hin, dachte sie und streckte ihr Gesicht den harten Wasserstrahlen des Duschkopfes entgegen. Oder beginne ich einfach nur schneller zu akzeptieren?

Als Persephone eine viertel Stunde später ihr Badezimmer verließ und in ihrem überschaubaren Kleiderschrank nach frischen Kleidungsstücken suchte, fühlte sie sich wohler und wacher. Die Gedanken an Gestern verdrängte sie so gut es ging aus ihrem Kopf. Sie erinnerte sich, dass sie letzte Nacht noch lange wachgelegen und nachgedacht hatte. Über ihr Gespräch mit Zeus. Über alles Gesagte. Und sie war heute zu dem Entschluss gekommen, genug nachgedacht zu haben. Wozu sollte es auch gut sein? Sie konnte die Tatsachen nicht ändern, und Zeus hatte ihr das Versprechen abgenommen, niemandem von ihrem Wissen zu erzählen. Wozu also weitergrübeln, wenn alles im Soll-Zustand war?

Man vertraute ihr. Sie sollte das dann auch tun. Zumindest Zeus. Zumindest in diesem Fall.

Nachdem eine dunkle Jeans und ein weißes Top angezogen und ihre langen Haare in einem Pferdeschwanz gebändigt waren, schnappte sie sich ihren Zimmerschlüssel und verließ ihre privaten vier Wände, um gleich den Weg in Richtung Krankentrakt einzuschlagen.

Es war Zeit, nach vorne zu blicken. Und sich um denjenigen zu kümmern, der es wert war, so lange Zeit über ihn zu grübeln und sorgenvolle Gedanken kreisen zu lassen. An Äneas zu denken, erschien ihr zumindest am sinnvollsten. An meinen Bruder, erinnerte sie sich selbst und wieder versetzte ihr diese Tatsache leichte Stiche in der Magengegend. Ganz so leicht hinzunehmen, schien sie es wohl doch noch nicht…

Tatsächlich ließ man sie, auf ihre Nachfrage hin, Äneas‘ Krankenzimmer betreten. Der Arzt, der sie dorthin begleitet hatte, hatte zwar nur mit einem angedeuteten, misstrauischen Stirnrunzeln die Tür hinter ihr zugezogen, doch daran störte sie sich nicht weiter.

Äneas lag halb aufgerichtet im Krankenbett, umgeben von allerlei Geräten, die jedoch zu ihrer Erleichterung zum Großteil nur die Wände zierten und nicht angeschaltet waren. Ein steifer Verband war um seinen Hals gewickelt, ähnlich einer Krause, die es ihm schwierig machte, den Kopf zu drehen, wodurch er mehr aus den Augenwinkeln zu ihr herüber linste, als die Tür seines Zimmers aufgestoßen worden war. Um sie vollständig anzusehen, musste er sich im ganzen Oberkörper drehen, was ihm, nach seinem gequälten Gesichtsausdruck zu urteilen, ziemliche Schmerzen bereitete, sodass sie sich beeilte, auf ihn zuzugehen und ihm gegenüber auf der Kante seines Bettes Platz nahm. Sie versuchte sich an einem Lächeln, das er genauso verklemmt erwiderte. Sie schienen sich beide nicht wirklich in dieser Situation wohl zu fühlen; was sie für ihn völlig nachvollziehen konnte.

Um der angespannten Stille zu entgehen, fragte sie: „Wie geht es dir?“, woraufhin Äneas seine rechte Hand etwas anhob und sie in einer wagen Geste von links nach rechts kippen ließ.

Nicht besonders gut, interpretierte sie und wiederholte ihre Schlussfolgerung laut. Durch den Verband eingeschränkt, antwortete ihr Gegenüber ihr nur mit einem angedeuteten Nicken, wobei er erneut leicht das Gesicht unangenehm verzog. Besorgnis brannte sich in Persephones Züge ein.

„Hast du starke Schmerzen?“, fragte sie weiter und versuchte das flaue Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren.

Äneas wiederholte die wage Handbewegung, hob langsam eine Hand an seinen Verband am Hals und hob daraufhin auch seine andere Hand, um Gebärdenzeichen zu formen. Nicht viel. Er deutete an sich herunter, zeigte ihr das Wort Training und führte abschließend seine rechte Hand an seine Schläfe, als würde er salutieren. Sie wusste, was das bedeuten sollte: Herk. Namen hatten in der Gebärdensprache kein einheitliches Zeichen; man umschrieb Personen meist mit einem typischen Charakterzug, und Persephone und Äneas waren sich sehr schnell einig über das Handzeichen gewesen, das zukünftig für ihren Trainer stehen sollte. Die kleine, aber aussagekräftige Geste, ließ sie schmunzeln und brach endlich das meiste Eis zwischen ihnen.

„Ja, mir tut auch jeder Knochen weh“, bestätigte sie ihm und konnte ein kurzes, erleichtertes Lachen nicht länger unterdrücken. Nun breitete sich auch auf Äneas‘ Zügen ein Grinsen aus.

„Haben sie dir denn keine Schmerzmittel gegeben?“

Wieder hob er die Hände und begann, langsam und konzentriert Zeichen zu formen. Ich wollte nicht. Ich-

Er stoppte und Persephone konnte sehen, wie er nachdenklich die Stirn in Falten legte. Geduldig wartete sie ab, doch je länger Äneas zu überlegen schien, umso verärgerter wurde sein Gesichtsausdruck, bis er frustriert die Hände sinken ließ und schnaufend zur Decke hinauf schaute. Hätte sein Verband es zugelassen, hätte er wahrscheinlich wütend den Kopf in den Nacken geworfen.

Persephones Lächeln schlug augenblicklich in Verständnis und Mitleid um. Sie lernten gerade mal seit wenigen Unterrichtsstunden die Gebärdensprache; dass da ihr Wortschatz nicht besonders groß war, war für sie einleuchtend und nicht weiter tragisch, doch sie war ja auch nicht in dem Maße auf diese Art der Kommunikation angewiesen, wie ihr Partner. Äneas war in der Öffentlichkeit kein besonders emotionaler Mensch, doch wenn sie zu ihrem Dolmetscher aufbrachen, der sie unterrichtete, wirkte er gleich viel besser gelaunt als für gewöhnlich und er war mit einem Eifer dabei, um den Persephone ihn insgeheim beneidete. Sie strengte sich ebenfalls an und lernte auch nach den Stunden die neuen Vokabeln, doch Äneas konnte man seine Begeisterung regelrecht von den Augen ablesen. Verständlich, immerhin bekam er durch die Gebärdensprache die Möglichkeit, sich viel leichter auszudrücken, als ständig Block und Stift bereit zu halten und seinen Gegenüber auf seine Antwort warten zu lassen.

Auch jetzt lag wieder ein kleiner Stapel Notizblätter und ein Kugelschreiber neben ihm auf dem Nachttisch, auf den bereits ein paar Sätze niedergeschrieben waren. Auch, wenn sie wusste, dass es ihn innerlich anfressen würde, griff sie schweigend danach und drückte ihm mit einem wohlgemeinten Lächeln den Block in die Hand. Erwartungsgemäß säuerlich beäugte er sein Handicap.

„Geh nicht so hart mit dir ins Gericht“, bat sie ihn aufrichtig. „Gib dir noch etwas Zeit, bald wird dir das alles viel leichter von der Hand gehen. Da bin ich mir sicher.“

Nach dem Blick zu urteilen, den Äneas ihr zuwarf, schien er nicht sonderlich überzeugt zu sein. Er schnaufte noch einmal, dann schrieb er etwas auf den kleinen Block. Bruder hin oder her, Persephone hätte es ihm gerne leichter gemacht. Sie wusste, dass er sich über sich selbst ärgerte. Er verlangte stets viel von sich und gab sich selten mit weniger zufrieden; dieser ehrgeizige Charakterzug war ihr als erstes an ihm aufgefallen.

Ohne besonders viel Wert auf eine saubere Schrift zu legen, kratzte er schnell mit dem Kugelschreiber über das Papier und hielt ihr daraufhin den Block entgegen.

Ich wollte keine Schmerzmittel. Diese Verletzung habe ich mir durch meine eigene Dummheit und Unaufmerksamkeit zugezogen.

Nun war sie es, die genervt schnaufte. „Klar, und dass dich Herk Liegestütze bis zum Erbrechen machen lässt, wenn du einen Angriff nicht richtig abwehrst, findest du wahrscheinlich auch noch gut!“

Nur so wird man besser und lernt aus seinen Fehlern.

Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Das waren doch alle Masochisten! Sein ernstes Gesicht dabei brachte sie noch zusätzlich innerlich zum kochen.

„Ich habe mir Sorgen gemacht“, brummte sie vorwurfsvoll und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr anfängliches Mitleid war vergessen. Sollte er doch ruhig leiden, ihr war es inzwischen ganz recht. Und so ein Idiot ist mein Bruder, schoss es ihr durch den Kopf und beinahe wäre es ihr über die Lippen gekommen, doch sie konnte die Worte noch rechtzeitig wieder runterschlucken.

Der Vorwurf schien seine Wirkung nicht zu verfehlen, denn sofort senkte Äneas den Kopf und schrieb eilig den nächsten Satz auf. Mit einem reuevollen Blick, reichte er ihr den Block.

Das war nicht meine Absicht gewesen, verzeih mir.

Sie sah das Zögern in seinen Augen, dann nahm er den Block wieder an sich und schrieb diesmal einen längeren Abschnitt:

Ich habe gesehen, wie du neben mir standest, als es passierte. Du hattest Angst um mich. Ich wollte nicht, dass du so fühlst, ich hatte in diesem Moment so ein schlechtes Gewissen. Schon allein deshalb habe ich mich für diesen dummen Fehler gehasst.

Ich passe in Zukunft besser auf dich und mich auf, ich verspreche es dir!

Persephone las die Sätze mehrmals und sie fühlte, wie sich ihr Magen immer weiter zusammenzog. Sie musste sich dazu zwingen, ihm ins Gesicht zu sehen. Er fühlte sich schuldig? Weil sie Angst um ihn hatte? Und auch, wenn sie sich geschworen hatte, nicht mehr über die Vergangenheit nachzudenken, so kam ihr in diesem Augenblick doch wieder das Gespräch zwischen Zeus und ihr in den Sinn. Wie er ihr von dem Unfall berichtet hatte; dass ihr Bruder sie beschützen wollte. Ihre Eingeweide verkrampften sich immer mehr. Er konnte sich nicht mehr an diesen Vorfall erinnern, das hatte Zeus ihr versichert; und doch schien er immer noch dieses Beschützende und Umsorgende für sie zu empfinden, das anscheinend nicht nur aus seiner Aufgabe als ihr Partner zu resultieren schein.

Bebend presste sie die Lippen aufeinander, wich aber seinem weiterhin verzeihenden Blick nicht aus. Als sie die Tränen aufsteigen spürte, kniff sie die Augen kurz zusammen und versuchte, das verräterische Schimmern wegzublinzeln. Um eine Ablenkung bemüht, gab sie ihm den Block wieder zurück, den sie die ganze Zeit über in den Händen festgehalten hatte. Die oberen, beschriebenen Seiten, waren leicht zerknittert.

„Ich erinnere dich an das Versprechen, wenn du dich das nächste Mal wieder so verprügeln lässt“, ermahnte sie ihn und räusperte sich leise, als sie ihre belegte Stimme bemerkte. Äneas antwortete wieder mit einem kleinen Nicken und ein kleines Lächeln verirrte sich zurück in seine Mundwinkel. Noch einmal schüttelte Persephone in leichter Verständnislosigkeit den Kopf, dann musste auch sie grinsen.

„Wann bist du eigentlich hier wieder raus?“, nutzte sie den Stimmungsumschwung aus und wechselte eilig das Thema. Ein simples Schulterzucken war die Antwort. Das verstand Persephone auch ohne Nachfrage. Äneas verzog wieder das Gesicht und verdrehte gelangweilt die Augen.

„Ja, da gebe ich dir Recht, die große Party steigt hier drinnen wohl nicht…“, sagte sie und ließ ihren Blick in dem kleinen Zimmer umherschweifen. Decke und Wände waren weiß verputzt und auch der Boden war hell gefliest worden. Zusammen mit dem grellen Deckenlicht der angebrachten Neonröhren, wirkte der Raum steril und ungemütlich und bis auf die Geräte und das Krankenbett gab es auch keine weitere Einrichtung, die diese vier Wände etwas wohnlicher hätte wirken lassen können.

Sie erinnerte sich an ihre Zeit im Krankenzimmer zurück. Sie wäre wahrscheinlich nach einem Tag verrückt geworden, hätte sie nicht regelmäßig Besuch bekommen; auch, wenn es sich dabei fast ausschließlich um Hades gehandelt hatte. Damals hatte sie ja seine Anwesenheit noch als angenehm empfunden…

Obwohl diese Zeit nur wenige Monate zurück lag, kam es ihr so vor, als wäre sie längst vergangene Geschichte, von der lediglich noch verstaubte Bücher berichteten. Zu vieles war in der Zwischenzeit passiert.

Ihr visueller Rundgang endete an dem kleinen Nachtisch, der neben Äneas‘ Bett stand. Ein Klapptisch war an diesem angebracht worden, der, ganz Krankenhaus-typisch, als zusätzliche Abstellfläche für Teller und Gläser genutzt werden konnte. Dieser war auch jetzt aufgeklappt, doch war außer einem Becher Wasser nichts abgestellt.

„Hast du schon etwas zu essen bekommen?“, fragte Persephone und sah stirnrunzelnd zu ihrem Partner zurück. Dieser schüttelte vorsichtig mit dem Kopf.

Ich darf noch nichts essen. Die Ärzte meinten, dass ich heute Abend vielleicht eine Suppe bekomme. Bis dahin gibt’s nur Flüssignahrung.

Als sie wieder von den Zeilen aufsah, deutete Äneas vielsagend auf den Katheter an seinem rechten Handrücken, der mit einem Tropf mit klarer Flüssigkeit verbunden war. Persephone verzog mitfühlend und angewidert zugleich das Gesicht. Sie konnte Spritzen und Nadeln nicht ausstehen. Genauso wenig wie das fade Krankenhausessen. Entweder man war gezwungen, das Zeug in sich hineinstopfen, auch wenn man gar keinen Hunger hatte, oder man durfte tagelang nichts essen. Und wenn man ganz viel Pech hatte, hatte man beide Extreme in einem Zimmer vereint, was darauf hinauslief, dass der eine Patient sich noch schlechter fühlte und der andere seinen Nachbarn vor Hunger und Frust fast anfallen wollte.

Äneas schien ihre Gedanken zu erraten und zuckte hilflos mit den Schultern. Kann man nichts machen…

Persephone dachte kurz nach, dann kam ihr eine Idee. „Was ist mit Eis? Darfst du das essen?“

Wieder ein Schulterzucken, dann breitete sich ein freches Grinsen auf seinen Zügen aus. Sie verstand und erwiderte das Grinsen schelmisch.

„Ich schaue mal, ob ich irgendwo Wassereis für uns auftreiben kann“, sagte sie und stand auf. „Irgendein Kiosk wird das ja wohl haben.“

Äneas nickte ermutigend, hob lächelnd die Fingerspitzen seiner rechten Hand an sein Kinn und führte diese daraufhin wieder ein Stück weit von sich weg. Danke.

Ein warmer Schauer lief Persephone den Rücken runter und unweigerlich musste sie breiter grinsen. So breit, dass ihre Wangenmuskulatur zu schmerzen begann und am liebsten hätte sie freudig angefangen zu lachen. Mit diesem Ausdruck auf den Lippen, zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und eilte mit ausgreifenden Schritten durch die Gänge, die sie – hoffentlich - zum Ausgang brachten. Das Grinsen schien immer weiter zu wachsen und auch das wohle, flattrige Gefühl in ihrer Magengegend wollte nicht verschwinden. Sie fühlte sich unbeschreiblich gut in diesem Moment und innerlich musste sie über diese, im Grunde alberne Situation lachen; ein kleines Danke hatte sie seit Monaten zum ersten Mal wieder richtig glücklich gemacht.

Ein zurückhaltendes Kichern entwich ihr und belustigt schüttelte sie mit dem Kopf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich manche Männer, die ihr auf ihrem Weg entgegen kamen, verwundert nach ihr umschauten, wie sie praktisch schon durch die Gänge rannte und wahrscheinlich dabei wie ein kleines Mädchen aussah, dass hüpfend und jauchzend gerade in seine verdienten Sommerferien entlassen worden war. Sie selbst interessierte das herzlich wenig. Nichts würde ihr das Gefühl ihres in Freude schneller schlagenden Herzen nehmen! In diesem Moment war sie ein gutes Stück weit zufrieden mit ihrem Leben, freute sich, dass es Äneas besser ging, und war einfach glücklich, dass sie ihn hatte. Und ohne ihr Zutun begann sie ein Lied zu summen.

Die Welle an Endorphinen genießend, die gerade durch ihren Körper rollte, erreichte Persephone die Treppe, die ins Erdgeschoß des Parkhauses führte, und nahm beim Erklimmen gleich drei Stufen auf einmal. Mehr dabei auf ihre Füße achtend, überhörte sie den warnenden Ausruf, sodass sie die Person am oberen Absatz erst bemerkte, als sie schon in sie hineingerannt war. Erschrocken nach Luft schnappend, griff sie eilig nach dem Treppengeländer, ehe sie völlig den Halt verloren hätte und rücklings die Stufen runtergefallen wäre. Gleichzeitig explodierte ein drückender Schmerz in ihrem linken Oberarm, als ihr Kollisionsopfer blitzschnell die Hand nach ihr ausstreckte und zupackte.

Mit hämmerndem Herzschlag starrte sie für Sekunden auf ihre verkrampften Hände, dann glitt ihr Blick zu der Männerhand, die ihren Arm wie einen Schraubstock fest umschloss. Am Rande ihrer eingeschränkten Wahrnehmung spürte sie, wie ihr rechter Fuß in der Luft hing; sie musste die Treppenstufe in dem Versuch, Halt zu finden, verfehlt haben. Den schnellen Reflexen des Mannes war es damit wahrscheinlich zu verdanken, dass ihr außer einem Schock nichts weiter fehlte.

Erleichtert ausatmend hob sie den Kopf und wollte gleichzeitig sich bedanken und um Verzeihung bitten, als ihr die bereits zurechtgelegten Worte im Hals stecken blieben. Die Hintergrundmusik ihres Lebens verschluckte sich quietschend, als hätte Gott zu schnell die Nadel vom angeschalteten Grammophon weggezogen.

„Hast du dir wehgetan?“

Hermes‘ zittriger Ausruf harmonierte perfekt mit seinen in Schock aufgerissenen Augen. Seine Haut war so blass, dass sich die Sommersprossen wie braune Punkte in seinem Gesicht überdeutlich abzeichneten. Persephone war sich sicher, dass ihr Teint nicht viel gesünder aussehen musste.

Als sie nichts erwiderte, stellte Hermes sie sicher auf der Stufe ab und ging mit ihr auf Augenhöhe. Da war er wieder: ihr instinktiver Drang, vor jedem zurückzuweichen, der den Höflichkeitsabstand von anderthalb Metern unterschritt. Verbissen unterdrückte Persephone den aufkommenden Impuls und zwang sich, ihrem Gegenüber in die besorgten Augen zu sehen.

„Persephone?“, fragte er nach und als wäre sie aus einem Traum erwacht, blinzelte sie ihm entgegen. Sie schluckte kurz und setzte zur erwarteten Antwort an.

„Mir geht es gut, nichts passiert“, beruhigte sie ihn und strich sich nervös eine wirre Strähne hinters Ohr. „Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen.“ Ihr Blick wanderte zögernd die Treppe herunter und ein Schauer löste sich zwischen den Halswirbeln und rollte ihren Rücken hinab. „Und … danke fürs Auffangen.“

Hörbar atmete Hermes erleichtert aus und schenkte ihr ein schiefes Lächeln.

„Ich hätte dich ja schlecht fallen lassen können. Ein Verletzter reicht für diese Woche, findest du nicht?“

Sie nickte als Antwort, zwang ein zustimmendes Lächeln in ihre Mundwinkel und wollte schon wieder das Gespräch nett beenden, als Hermes auf einmal leicht die Augen senkte und nachdenklich auf seiner Unterlippe kaute. Persephone presste ihre stattdessen verbissen aufeinander. Sie wusste seine Signale zu deuten und der Wunsch, dieser unangenehmen Situation noch rechtzeitig entfliehen zu wollen, wurde immer stärker.

„Hättest du … einen Moment Zeit? Ich wollte gerne mit dir reden, Persephone“, sagte er schließlich und ein tonnenschwerer Stein umschloss ihr Herz. Sie traute sich nicht, etwas zu erwidern, und warf stattdessen einen schnellen Blick in Richtung des hellen Ausgangs, den sie von ihrer Position aus erahnen konnte, in der Hoffnung, dass Hermes den Wink verstehen würde. Doch der junge Mann schien ihr die Entscheidung schon längst abgenommen zu haben.

„Hör zu, ich…“, begann er, unterbrach sich jedoch sofort wieder, als sich in dem Moment ein anderes Mitglied die Treppe hinaufgestiegen und somit in Hörweite kam. Die Stufen waren nicht besonders breit, sodass sich der Fremde an ihnen vorbeidrängen und Hermes sich in diesem Zuge näher vor sie stellen musste, die Hand an der Wand abstützend. Seinem genervten Gesichtsausdruck zu urteilen, war er über diesen Umstand der Störung nicht sonderlich begeistert und sah dem Mann dementsprechend verärgert hinterher. Persephone dagegen behagte die Nähe überhaupt nicht, sodass sich instinktiv ihre Nackenhärchen aufrichteten und sie den Atem anhielt.

Ihre angespannte Körperhaltung endlich bemerkend, rückte Hermes schließlich mit einem gemurmelten „Sorry“ wieder ein Stück von ihr weg und Persephone konnte ein tiefes Aufatmen nicht unterdrücken. Für Sekunden schien keiner der beiden den Anfang machen wollen, bis Hermes endlich die Worte wiederfand und ihren ausweichenden Blick suchte.

„Diese Sache gestern … ich habe dich da wohl in eine unangenehme Situation gebracht, oder?“, fragte er mit viel Vorsicht in der Stimme. Verlegen drehte sie den Kopf noch weiter zur Seite und starrte auf den staubigen Betonboden vor ihr.

„Ich war … etwas überrumpelt“, gab sie leise zu und strich sich erneut eine rebellische Haarsträhne hinters Ohr. Die Erinnerung an seine raunende Stimme nah an ihrem Ohr, trieb ihr ungewollt die Röte zurück ins Gesicht und sie spürte, dass selbst drei Meter Höflichkeitsabstand im Moment nicht ausreichend gewesen wären. Hermes deutete ihre Reaktion und rückte weitere Zentimeter von ihr ab, selbst unruhig auf der Unterlippe kauend und nun ebenso darum bemüht, ihrem Blick auszuweichen. Auf seiner Stirn bildeten sich nachdenkliche Falten, die immer verzweifelter wurden, bis er seufzend den Kopf schüttelte und die Schultern hochzog.

„Tja, da kann man nichts machen.“

Dieses Urteil ließ Persephone dann doch auf sehen. Ein bitteres Lächeln zierte sein junges Gesicht und seine Augen ruhten traurig auf ihr, dass ihr Gewissen ihr augenblicklich einen heißen Stab vom Scheitel bis zur Sohle durch den Körper trieb. Sie presste die Lippen aufeinander und war sich nicht sicher, ob und was genau sie erwidern sollte, als sich Hermes auf einmal mit einer erneuten Entschuldigung wegdrehte und die Stufen hinabsteigen wollte. Verzweifelt griff sie mit beiden Händen nach seinem Oberarm und stoppte ihn mitten im Gang. Verwundert drehte er sich zu ihr um.

„Es tut mir leid“, brach es aus ihr heraus und sie stellte sich wieder mit ihm auf Augenhöhe. In Hermes‘ Blick las sie Bitterkeit, unter das sich ein beschwichtigender Ausdruck mischte, der gegen alle vorherrschenden Gefühle versuchte, für beide Parteien die Situation abzuschwächen.

„Schon gut, es war ein Versuch, mehr nicht“, sagte er, doch Persephone beeilte sich den Kopf zu schütteln, um ihn so zu unterbrechen.

„Nein, hör zu! Es wäre gelogen, wenn ich behaupten würde, dass ich dich nicht mag, es ist nur-“ Sie stoppte kurz und dachte über ihre nächsten Worte nach. In ihrem Hirn herrschte ein dritter Weltkrieg. „Ich würde dich nicht … glücklich machen. Glaube ich. Ich muss erst einmal mit mir selbst klarkommen, bevor ich das mit einer anderen Person versuche. Ich bin einfach noch nicht bereit für … für sowas.“ Verzweifelt sah sie ihm ins Gesicht. „Es tut mir leid“, wiederholte sie. „Ich wollte dir nicht wehtun.“

Für gefühlte Stunden sahen sie sich schweigend an, dann fing Hermes an zu lächeln, was Persephone irritiert eine Braue heben ließ.

„Bitte mache dich deswegen nicht fertig“, bat er sie und befreite sanft seinen Arm aus ihrem Griff, den Persephone in der Zwischenzeit ganz vergessen hatte. „Ich verstehe das, sehr gut sogar. Es soll nicht sein, ich akzeptiere das und ich kann damit auch leben. Ich bin weder gekränkt, noch wütend.“ Seine vorangegangene Traurigkeit war aus seinen blauen Iriden weggewischt und stattdessen leuchteten diese vor Erleichterung. Kurz verschwand sein Lächeln und er sah sie etwas ernster an.

„Kannst du mir etwas versprechen, Persephone?“

Sofort nickte sie.

„Lass mich weiterhin dein Freund sein. Frei von Hintergedanken. Ich möchte für dich da sein, wenn du mir das gestattest.“

Etwas lockerte sich in ihr; eine eiserne Hand, die sich während des Gesprächs um ihr Herz geschlossen hatte, löste sich und ließ sie das erste Mal wieder erleichtert aufatmen. Sie glaubte ihm. Jedes einzelne Wort.

„Das verspreche ich dir gerne“, sagte sie und sah Hermes offen in die Augen. Auch von ihm schien die Anspannung in diesem Moment abzufallen und das fröhliche Grinsen kehrte in sein Gesicht zurück, als wäre zuvor nichts zwischen ihnen vorgefallen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Thuja
2014-11-16T15:08:37+00:00 16.11.2014 16:08
Nein! ich habe Memori3s nicht vergessen (ich glaube auch nicht, dass ich so eine geniale Geschichte vergessen könnte. Selbst dann nicht, wenn man mich an Memoria anschließen würden :P )
Allerdings habe ich mir in letzter Zeit Cod3s noch einmal reingezogen. Ich weiß nicht. ich hatte voll Lust drauf :). Und man, war das toll, selbst beim zweiten Mal lesen. Ich glaube, dass ist eine der wenigen Geschichten, die ich mehrmals gelesen habe.

Und jetzt mach ich auch hier weiter. Wird höchste Zeit
Du hast so viele wunderbare Charaktere. Ich habe das Gefühl, dass ich praktisch ständig und über ziemlich viele sagen könnte: Der ist toll!!!!
Besonders die männliche Fraktion ist einfach so klasse ♥_♥. Ich würde zu gerne mal einen Tag dort verbringen … obwohl, vielleicht lieber nicht. Nicht dass ich am Ende eine Trainingsstunde mit Herk leisten muss. Darauf kann ich dankend verzichten ^_^“.

Wow, das muss komisch sein, wenn ich weiß, dass mein Gegenüber mein Bruder ist und ich darf es ihm nicht einmal sagen
Aber es ist toll, wie authentisch jeder Satz, jede Geste von Persephone wirkt. Das Gespräch mit ihrem Bruder war echt schön und toll geschrieben. Und als sie ihm dann ein Eis holen will und sich so über das Danke freut: Da hat mein Herz auch vor Freude schneller geschlagen. Es ist schon einzigartig, was für eine Geschichte du hier geschaffen hast.



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