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Naomi

Weg in die Schatten
von

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Naomis erstes Date

Nach ihrem letzten Abenteuer hatte Naomi ihrem Gildenkollegen vorgeschlagen, dass dieser sie doch zu Hause besuchen könnte. Sie hatte versprochen etwas zu kochen. Nun der Tag war da, er hatte sich angekündigt und Naomi hatte ihren kleinen Garten geplündert. Summend Stand sie in der Küche und schnitt das Gemüse während ihr Vater unruhig im Wohnzimmer herum rollte. Er war nicht besonders begeistert davon, dass sie sich unter allen Magiern in der Gilde ausgerechnet Seraphim ausgesucht hatte. Immerhin war dies der Weiberheld schlecht hin. Man konnte nicht in Magnolia spazieren gehen, ohne über eine Frau zu stolpern, mit der er schon eine oder mehrere Nächte verbracht hatte. Wobei die Blondine bereits gelernt hatte, dass die meisten dieser Damen eine Ehre einer zweiten Nacht meist nicht genossen. Dafür mussten sie schon etwas besonderes sein und soweit es sie anging, war niemand für Seraphim etwas besonderes, außer er selbst. Heute allerdings sollte sich dieses Bild von ihm, wieder um ein bisschen verrücken. Als es an der Tür klingelte rollte Rio hinüber zur Tür um diese zu öffnen und sah sich dann Auge ich Auge mit dem erwarteten Gast. Dieser blickte von oben auf ihn herunter. Hätte Rio stehen können, wären sie wohl gleich groß gewesen, so allerdings rang der Anblick dem jüngeren Magier ein kleines Grinsen ab. Doch er schluckte eine gehässige Erklärung herunter und begrüßte den Rollstuhlfahrer einfach nur mit einem vielleicht etwas kühlen: "Hallo." Dies allerdings bekam er postwendend zurück und konnte eintreten.

Neugierig sah er sich in der kleinen Wohnung um, diese war scheinbar sogar noch kleiner als seine eigene, obwohl hier die doppelte Anzahl an Menschen lebte. Allerdings musste man wohl dazu sagen, dass er selbst in einer Dachgeschosswohnung mit großzügigem Schnitt und tollem Balkon wohnte. Wie er sie bekommen hatte, das war kein Geheimnis, aber er mochte es eben, wenn sich die Welt so drehte, wie er es wollte. "Wo ist mein Engelchen", auf seinem Gesicht zeichnete sich dieses teuflische grinsen ab, als er sah wie Rio das Gesicht verlor, als er so über seine Tochter sprach. Die Kleine kam sofort gerannt und umarmte ihren Gast: "Seraphim-sama, das Essen ist gleich fertig." Wahrscheinlich hauptsächlich um dem eh schon entnervten Vater einen rein zu würgen kniete sich der Weißhaarige nieder und knuddelte das kleine Mädchen zärtlich durch. Danach verschwand sie wieder in die Küche, um mit dem Kochen fortzufahren. Ihr Gast setzte sich gemeinsam mit dem immer noch angespannten Vater an einen Tisch. Dort schenkte er ihm ein grinsen und machte es sich deutlich bequem. Smalltalk gab es zwischen den beiden Männern eher weniger, aber zwischen ihren Augen wurde gerade ein Kampf ausgetragen, den zumindest Naomi nicht verstehen würde.

Das Mädchen brachte unterdessen das gekochte Essen auf den Tisch. Zuerst eine Schüssel voll Reis, dann eine mit vielen verschiedenen Gemüsesorten. Die Krönung allerdings war das Hühnchen, welches köstlich duftete. Sie merkte nicht, was für Anspannung zwischen ihren zwei Männern herrschte, aber es schien sie auch nicht zu kümmern. "Das Gemüse ist aus dem Garten, ich will gerne wissen wie es schmeckt", sie schien stolz zu sein. Doch zu sehen wie sie mit dem großen Messer versuchte das Federvieh zu teilen gefiel dem Gildenkollegen nicht so sehr. "Gib das mal her Engelchen, bevor wir nachher noch extra Fleischbeilage bekommen." Er selbst begann das Hühnchen zu zerlegen, während sie sich nun etwas von dem Reis und Gemüse nahm. Nachdem sie alle angefangen hatten zu essen drehte sich Seraphim zu Naomi und ganz unvermittelt fragte er: "Sag Engelchen, schnarche ich eigentlich?" Ein wenig verwirrt blickte sie ihn an und schüttelte den Kopf: "Nicht das ich wüsste Seraphim-sama." Ein schelmisches Lächeln in Richtung des angespannten Vaters und da kam die Spitze: "Dann können wir ja jetzt immer ein Bett teilen, das wird günstiger." Unschuld pur sprach aus Naomi, die sich natürlich darüber freute, denn sie genoss die Nähe zu ihrem guten Freund. Rio allerdings umklammerte sein Besteck. Später riss er den Abwasch an sich, um sich nicht länger mit dem Jungspund in einem Raum aufhalten zu müssen, dabei war er selbst noch gar nicht so alt. Dennoch, die bösartigen Spitzen, von welchen Seraphim eine Menge austeilte, waren für ihn kaum zu ertragen, aber er musste sich zusammenreißen, immerhin mochte Naomi ihn.

Diese war mit ihrem Gildenkollegen in ihrem kleinen Zimmer und dieser stöberte gerade ganz ungeniert durch ihren Kleiderschrank. Etwas frustriert musste er allerdings feststellen, dass die Kleidung darin im großen und ganzen nicht gerade sehr feminin und noch dazu recht alt war. Leicht schüttelte er den Kopf. Auf seine Frage hin, ob sie etwas schickes zum Anziehen hatte, schüttelte sie unsicher den Kopf. Was hatte er vor, wieso brauchte sie etwas schickes zum Anziehen? Die Frage beantwortete er ihr allerdings nicht, sondern beorderte sie dazu, dass sie sich Schuhe anziehen sollte, er würde sie jetzt mitnehmen, zum Einkaufen. Also schnappte er sich das Mädchen und machte sich mit ihr auf den Weg in die Stadt. Es war ihr bisher nie aufgefallen, aber in diesem Teil der Stadt war sie noch nie gewesen, ihre Einkäufe erledigte sie meist auf dem Wochenmarkt, immerhin konnte man dort noch über Preise verhandeln. Nun allerdings waren sie in der Fußgängerzone und der Magier vor ihr ging zielstrebig auf ein Bekleidungsgeschäft zu. Dort suchte er nach der nächstbesten Verkäuferin und annektierte diese. "Dieses junge Mädchen braucht ein hübsches Kleid, für einen eleganten Anlass, was haben sie anzubieten?", mit einem gewinnenden Lächeln verzauberte der junge Magier die ahnungslose Dame schon fast, die mehr wie ein willenloser Zombie losging, um dem Mädchen die verschiedensten Kleider herauszusuchen. Viele hübsche waren dabei und wirklich niedliche mit Rüschen oder Schleifen, doch Naomi war damit nicht besonders Glücklich. Ihre Wahl fiel am Ende auf ein recht schlichtes beigefarbenes Kleid, was seinen Zweck erfüllte, aber an dem schmalen Mädchen, doch viel zu erwachsen wirkte. Doch Seraphim redete ihr nicht hinein, er hatte ihr gesagt, sie solle sich eines aussuchen. Es war unter anderem auch das Günstigste und obwohl das Mädchen sogar schon anfing mit ihm darüber zu verhandeln, beharrte der Windmagier darauf es ihr zu schenken. Ebenso die Schuhe, die sie kurz darauf dazu kauften, denn keines von Naomis Schuhpaaren war dafür qualifiziert, sich mit diesem Kleid sehen zu lassen. Die Schuhauswahl ging deutlich einfacher, seine kleine blonde Begleiterin, war dabei nicht besonders wählerisch. Auch diese machte ihr der junge Mann zum Geschenk. "Womit habe ich das verdient Seraphim-sama?", schon oft hatte sie dies an diesem Abend gefragt. Sanft strich er ihr über den Kopf: "Wenn ich schon mit dir ausgehe Engelchen, sollst du nicht aussehen wie ein Sack Lumpen.

Leichte Röte zeichnete das Gesicht des Mädchens. Ausgehen wollte er mit ihr, aber wohin denn? Er nahm sie mit sich, zu seiner Wohnung, dort meinte er müsse er sich umziehen und selbst noch etwas abholen. Die vielen Stufen noch hinauf waren recht ermüdend, doch dann in seinem wirklich sehr sauberen und hellen Wohnzimmer, konnte sie sich entspannen. Während sie auf dem Sofa saß und neugierig durch den Raum blickte verschwand er in seinem Zimmer. Es war doch alles sehr klinisch rein und ganz sicher, ob er wirklich hier wohnte, war das Mädchen noch nicht. Dennoch, hatte er selbst nicht einmal gesagt, dass er die meiste Zeit wieso nicht in seinen eigenen vier Wänden einkehrte? Eine Gänsehaut zog sich über ihren Rücken. Was wohl in diesem Zimmer schon alles geschehen war, vielleicht sogar auf diesem Sofa. Nein, daran durfte sie nicht denken, also schüttelte sie die Gedanken ab so schnell sie konnte. Gut, dass er gerade wieder aus seinem Zimmer kam, er trug wirklich sowas wie einen Anzug, eigentlich mehr eine schicke Hose und einen Blazer dazu, dennoch raubte er einem wahrscheinlich den Atem und das mit Absicht. Mit einem bezaubernden Lächeln auf den Lippen fragte er in neckendem Ton: "Was ist denn los Engelchen, vergessen wie man atmet?" Schnell sprang sie auf ihre Füße und schüttelte den Kopf: "Nein ich kann es noch, ganz sicher, ich war nur, ich meine", er brach ihr Stammeln ab, indem er seinen Arm um sie legte und sie mit sich hinaus nahm.

Erneut war ihr Ziel der Bahnhof und er geleitete sie zügig dorthin. Im Zug hatten sie wieder ein Abteil für sich, doch diesmal war da keine Nähe und kein Gespräch, in Gedanken blickte der junge Mann auf dem Fenster. Machte sich Gedanken über Dinge, die er niemals als Sorgen zugeben würde. Immerhin war er doch zurückhalten, was seine wirklichen Gedanken zu den Dingen waren. Naomi allerdings suchte seine Nähe kuschelte sich an seine Seite und er blickte auf sie hinunter: "Du zerknitterst das Kleid Engelchen, setz dich gerade hin, es ist sowieso nicht gut, wenn du dich dauern so einem älteren Mann anbietest", doch der Dolchstoß kam, als er sie mit einem fast schon mitleidigem Blick ansah und meinte, "Ich denke dein Vater hat recht, du solltest dir andere Freunde suchen." Ein wenig entgeistert sah sie ihn an und es platzte aus ihr heraus, dass sie das nicht tun würde. "Meist entscheide ich mit dem Kopf und das Herz zieh hinterher, weil es keine andere Wahl hat, aber Dinge, die dich betreffen, entscheide ich lieber mit dem Herz, statt mit dem Kopf. Auch, wenn du mich irgendwann loswerden willst, werde ich dich immer noch lieb haben. Ich weiß, es ist kitschig so was zu sagen, aber irgendwie weiß ich nicht, wie ich den Weichspüler aus diesen Worten rausbekommen soll. Ich mag dich, weil ich mich in deiner Nähe wohlfühle, auch wenn ich bereits gesehen habe, dass du auch anders kannst, als nett gekünstelt. Auch wenn du's eigentlich nicht sein willst, bist du für mich sehr wichtig." Leicht schlug sie ihre Hand auf den Mund, hatte sie gerade wirklich so viel emotionalen Kitsch auf einmal aus ihrem Mund kommen lassen? Eine kleine Peinlichkeit, die den Abend wahrscheinlich nicht angenehmer machen, aber so war es ihr von der Seele und sie konnte es gerne noch einmal wiederholen. Allerdings würde sie das lassen. Stattdessen drehte sie sanft sein Gesicht zu sich, sie wollte in seine Augen sehen. Diese wundervollen Augen, die sie vom ersten Tag an schrecklich gemocht hatte. "Bevor du jetzt auf komische Ideen kommst, ich bin nicht verknallt und auch kein kleines Mädchen, dem gerade die Hormone verrücktspielen. Ich hab dich lediglich sehr lieb, ich weiß, dass das nervig sein muss, aber da musst du jetzt durch", erneut rutschte sie etwas zu ihm und drückte ihm einen zarten Kuss auf die Lippen, danach ließ sie ihn wieder los und nahm ihren Abstand wieder ein. Dort angekommen strich sie ihr Kleid wieder glatt, ja es war vielleicht doch keine gute Idee gewesen, aber sie hatte sich gerade dafür entschieden, weil es in diesem Moment das wundervollste gewesen war. Jetzt hatte sie zum ersten Mal aus Eigeninitiative einen Kuss vergeben und er hatte wahrscheinlich genau so viel Bedeutung, wie ein Tropfen auf einen heißen Stein, aber es war einen Versuch wert.

Während er noch überlegte, ob er vielleicht mittels eines geschickt platzierten Zeigefingers den Wahnsinn beenden sollte, war sie bereits zu schnell gewesen und hatte ihm einen kaum merklichen, zarten Kuss auf die Lippen gehaucht, der trotz der geringen Intensität, ein leichtes Kribbeln nach sich zog. Eine geschlagene Sekunde, die wahrscheinlich beiden Seiten wie eine kleine Ewigkeit vorkam, später, zogen sich die schmalen Lippen des jungen Mannes leicht nach innen, bevor seine Zungenspitze darüber fuhr, als wolle sie testen, ob vielleicht ein wenig fremdartiger Geschmack auf seinem Mund zu finden war, ehe dessen Winkel dehnte und leicht kicherte. Seraphim beugte sich zu ihr herunter, doch die violetten Augen hatten sich zur Seite und weiter nach oben gedreht, weg von ihr, während er noch immer leicht grinste und sie erst wieder anblickte, als sich sein Mund bereits ganz nah an ihrem Ohr befand. "Doch", hauchte er mit samtweicher Stimme in ihre Ohrmuschel, sodass sie die Wärme seines Atems höchstwahrscheinlich spüren konnte, "Doch, das bist du. Bis über beide Ohren sogar." Ein leicht spöttischer Tonfall, den sie bereits sehr gut von ihm kannte. Er tauchte noch ein wenig weiter runter, schmunzelte gegen ihre Haut an der Stelle, wo Unterkiefer in Hals überging, aber fuhr dann in bedauerndem Ton fort: "Allerdings tut es mir Leid, für so etwas bist du mir zu wenig attraktiv, außerdem spiele ich nicht mit Mädchen deines Alters und mit dir schon gar nicht, dazu bist du mir zu sympathisch." Er war die ganze Zeit über in einer gleichmäßigen, höflichen Tonlage geblieben, auf eine seltsame Weise gleichzeitig vertraut und doch distanziert genug, um die Bedeutung seiner Worte klar zu machen. Ja, das war ein Korb gewesen. Doch plötzlich war alle Ernsthaftigkeit wie weggeblasen, er drückte ihr einen leichten Kuss auf die Wange und richtete sich wieder auf, ehe er sich auf dem Sitz streckte und anschließend den Sitz des inzwischen offenen Jacketts überprüfte. Diese Sache musste ja nicht weiter bedacht werden, oder?

Bisher war sie sich sicher gewesen, dass Seraphim ihr einen Gefallen hatte tun wollen, doch inzwischen war sie sich nicht mehr ganz so sicher, was sein wirkliches Ziel hinter all dem war. Wollte er wirklich, dass sie sich nicht mehr sahen? War dies seine Art, sich von jemandem zu verabschieden? Auch wenn sie keine wirklich Antwort darauf bekommen würde, fraß sich die Idee in ihr Herz, dass er sie nicht mehr sehen wollte, nicht mehr leiden konnte und mit diesem Abend mehr sich von seiner Schuld freikaufen wollte. Dieses Kleid schien nun auf ihrer Haut zu brennen wie Feuer, sie hatte sich sowieso nicht besonders wohl darin gefühlt, doch jetzt schien es wie die Hölle es zu tragen. Das war nicht sie und dieser Freund, der wollte nicht mehr ihr Freund sein. "Entschuldige mich bitte!", fast wie auf der Fluch rannte sie aus dem Abteil, wollte nur noch flüchten vor diesem stechenden Gefühl des Verlustes. Dass sie ihren einzigen Freund verlieren sollte, jemanden den sie sehr mochte, ja, den sie liebte. Vielleicht nicht so wie man es wirklich könnte, aber dennoch eine Liebe dich nicht erwidert wurde. Wie ein Panik suchte sie nach einem Versteck, wo sie sich vor allem und jedem verstecken konnte. Da kam eine Gepäckablage ganz recht, wo sie sich zwischen zwei Koffer quetschte, das Gesicht an den Knien vergrub und weinte. Natürlich weinte sie nicht vor anderen, die meisten litten dann mit dem Leidenden, Seraphim würde wahrscheinlich nur Spaß über sie machen, auch etwas was sie nicht wollte.

Cyrus hatte nicht lange gewartet, als Naomi aus dem Abteil verschwunden war, vielleicht drei Sekunden, in denen sich seine so unbesorgte Miene langsam lockerte und er am Ende fast lauernd auf die Tür starrte, die sie soeben durchschritten hatte. Er hatte irgendwie das Gefühl, dass sie da etwas in den falschen Hals bekommen hatte oder nein, er glaube eher, dass er einen Fehler gemacht hatte. So sensibel er tun konnte, er war es nicht, so gut er sich mit der Manipulation menschlicher Gefühle auskannte, es fiel ihm jedes Mal aufs Neue schwer, sie nicht zu verletzen, wenn er es gar nicht darauf anlegte. Dass etwas schief gelaufen war, dass sie dieses Mal mit seiner sehr gewöhnungsbedürftigen Art nicht klar gekommen war, hatte selbst er sofort bemerkt, was auch der Grund dafür war, dass er schließlich aufstand, seinen Platz verließ und hinaus in den Gang trat, nach links und rechts blickend, bis er einen kleinen Zipfel des Kleides bemerkte, der zwischen zwei Koffern herausragte. Mit leisen Schritten näherte er sich und wurde eines Bildes gewahr, welches selbst ihm einen kleinen Stich versetzte: Zwischen mehreren vollgestopften Koffern, deren Besitzer wahrscheinlich im Großraumabteil nebenan verweilten, saß, in sich zusammen gefallen wie eine welke Blume, das kleine Mädchen, nach dem er gesucht hatte, weinend, schluchzend und scheinbar so fertig mit den Nerven, dass sie keinen Sinn mehr darin sah, ihre sonst so fröhliche Mimik aufzusetzen. Doch nicht sie war daran schuld, dass sie nun so verzweifelt war, sondern er, der er vor dem schmalen Spalt stand, unbewegt, wie eine Statue und auf sie herabblickte, deren bernsteinfarbene Augen in Agonie zusammengepresst waren. Nie hatte er sie so sehen wollen, vielleicht am Anfang ihres ersten gemeinsamen Abenteuers, aber das war schon so lange her, dass er sie inzwischen mit anderem Blick sah, vielleicht sogar sehen wollte. So wenig er Kinder mochte, hatte Naomi stets etwas Herz erwärmendes, selbst für jemanden, dessen Herz unter dicken Eisschichten vergraben lag. Hätte sie die Augen geöffnet, hätte sie einen ungewohnt ernsten, fragenden und sogar ein wenig schuldbewussten Ausdruck auf dem engelsgleichen Gesicht gesehen, denn mit jedem Laut, der an sein Ohr drang, jeder Träne, die über ihre Wangen rollte, hatte er ein wenig mehr das Bedürfnis, sich selbst zu schlagen, dafür, dass er so ein Mistkerl war. Es geschah selten, dass er das eingestand, schuldbewusst eingestand, nicht mit einem triumphierenden Lächeln auf dem Gesicht, sondern ohne jede äußerliche Regung.

Der Koffer neben Naomi wurde mit einem leisen Scharren herausgezogen und achtlos auf dem Gang stehen gelassen, bevor sich die Gestalt des jungen Mannes herunterbeugte und sich vorsichtig in den entstandenen Zwischenraum setzte. Er musste den Kopf einziehen, denn immerhin handelte es sich hierbei nur um das unterste Fach eines Kofferregals, aber das war ihm im Moment ebenso gleich wie die Tatsache, dass er nicht die richtige Kleidung für so eine Turnaktion anhatte. Eingeklemmt wie ein Bär im Bienenstock und die Beine ausstreckte, Naomi umfasste und vorsichtig auf seinen Schoß zog, so gut, wie das bei den beengten Platzverhältnissen gerade noch möglich war. Mit einem leisen "Pssschhht", drückte er ihr verweintes Gesicht vorsichtig an seine Brust und strich so sachte wie es ihm möglich war über ihren goldenen Schopf. "Du solltest nicht weinen, Engelchen...", flüsterte er einige Zeit später, jeglicher Affekt war aus seiner Stimme getilgt, "Du hast jedes Recht dazu, aber es wäre einfacher, wenn du mich einfach schlagen würdest, dafür, dass ich so gemein zu dir war. Dabei...", ein bitteres Lachen entrang sich seiner Kehle und er drückte sie noch etwas fester an sich, "Dabei habe ich das gar nicht gewollt, wie es wohl rübergekommen ist. Ich mache immer Sachen kaputt, selbst wenn ich es mal nicht will. Es gibt nur so wenige Menschen, denen ich nicht weh tun möchte, aber auch bei denen bin ich mir nie ganz sicher, ob ich sie nicht doch verletzen werde, ohne es überhaupt zu bemerken. Ich möchte dir nicht weh tun..." Sie mussten ein seltsames Bild abgeben, wie sie da in der Gepäckablage eingepfercht saßen, zum Glück kam niemand vorbei.

Das war eine wirklich liebevolle Entschuldigung, mehr als sie je erwartet hatte, es brauchte jedoch noch etwas mehr liebende Streicheleinheiten, um sie zu beruhigen und ihre Gedanken klarer werden zu lassen. Als sie ihm das Versprechen abgerungen hatte, dass er sie nicht verlassen würde stimmte sie zu mit ihm ins Abteil zurück zu kehren. Die Überraschung des Abends konnte sie danach dennoch genießen, ein Besuch im Theater, das Stück welches sie mit ihm gemeinsam gelesen hatte auf ihrer letzten Zugfahrt. Als er sie danach sicher nach Hause gebracht hatte, musste er erneut versprechen, dass sie sich bald sehen würden und danach ließ sie ihn nach Hause gehen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  fahnm
2014-07-15T20:19:06+00:00 15.07.2014 22:19
Super Kapi^^
Antwort von:  Lyraci
15.07.2014 22:20
Danke dir vielmals ^^


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